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Cover Lettre International 94, Robert Longo
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Inhaltsverzeichnis

LI 94, Herbst 2011

Griechische Wirtschaft

Kleinunternehmer, Rentiers, Opportunisten - Institutionen, Mentalitäten

(...) Amts- und Alltagssprache

Die Art, wie wir über die Wirtschaft sprechen, hat sich in wenigen Monaten dramatisch verändert. Vor dem Ausbruch unserer Schuldenkrise unterschied sich der öffentliche Diskurs kaum von dem in anderen westlichen Ländern. Wir diskutierten über Vorzüge des staatswirtschaftlichen oder des privatwirtschaftlichen Sektors, Vorteile der Nachfragebelebung gegenüber der Ausgabenkürzung, Vorzüge von Liberalismus oder Sozialdemokratie.

Nur wenige Publizisten beharrten auf den griechischen Besonderheiten. Daß zum Beispiel der öffentliche Sektor nicht öffentlich ist, wenn private und zunftartig organisierte Interessen ihn gekapert haben, und der private Sektor nicht privat, wenn er von Zuschüssen der öffentlichen Hand lebt. Aber diese Stimmen waren im Diskurs weder der politischen Parteien noch der Massenmedien präsent, und sie beeinflußten nicht die Regierungspolitik.

Technokraten befassen sich mehr mit offiziell Vorgetragenem als mit der Realität. Etwa mit der Höhe der Steuersätze, nicht jedoch mit den von Unternehmen tatsächlich entrichteten Steuern, die immer dann entschieden höher ausfielen, als es den Beträgen der amtlichen Tabellen entspräche, wenn die Steuerfahndungseinheit SDOE (Soma Dioxis Oikonomikou Egklimatos) zum Einsatz kam; die aber sehr viel geringer ausfielen, wenn der jeweilige Unternehmer nur die richtigen Leute kannte.

Es gab eine gewaltige Kluft zwischen den offiziellen Verlautbarungen aus Staats-, Politik- und Technokratenkreisen und dem, was wir ahnten und unter Freunden diskutierten, jedoch niemals öffentlich artikulierten. In der formellen Sprache war die Rede von Investitionen, Planung, Wettbewerb, Produktivität, Anreizen, Kontrollen, Regelungen und Gesetzen. Im Gespräch „unter uns“ von Café frappé, Jux und Tollerei und davon, daß bei den Griechen am Ende doch immer alles klappt. Wir wußten, daß die öffentlichen Absichtserklärungen nicht umgesetzt würden, meinten aber: Versuchen wir es einfach, und wenn wir nur zehn Prozent der Zielvorgabe erreichen, fallen wir wenigstens nicht allzuweit hinter „Europa“ zurück.

Nun hat sich der öffentliche Diskurs verändert und hört sich an wie die Gespräche unter Freunden. Das Dilemma „öffentlich oder privat“ ist mutiert zu: „Bist du für die faulen Beamten oder für die Steuerhinterziehung?“ Die Zwickmühle zwischen „Gewerkschaften oder Arbeitgebern“ verwandelte sich in: „Sollen wir die Rente mit 52 abschaffen oder gegen skandalös überteuerte medizinische Gerätschaften und Material vorgehen?“ Wir fingen an, über das wirkliche Griechenland zu reden, nicht mehr über eine theoretische Mischwirtschaft. Alltagserfahrungen flossen ins große Bild ein. Das ist gesund. Es ist der Anfang von Selbsterkenntnis.

Doch die Wirtschaft ist ein komplexes System, und unsere Erfahrungen sind chaotisch, verschiedenartig und widersprüchlich. Unschwer landet man bei Übertreibungen, behilft sich mit Vorwürfen und Monologen und verliert dabei Ursachen und Perspektiven aus den Augen. Wir müssen aus den Erfahrungen eines jeden eine wissenschaftlich haltbare Theorie der griechischen Wirtschaft formulieren, deren Fokus auf das Wesentliche zielt, dieses erklärt und Optionen aufzeigt.

(…)

Kleinunternehmer

Es gibt in Europa und den OECD-Ländern kein anderes Land mit so zahlreichen Selbständigen und Kleinunternehmern im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. In Griechenland zählen 57 Prozent der Beschäftigten zum Bereich der „gewerblichen Wirtschaft außerhalb des Finanzsektors“, seien sie selbständig tätig oder in Unternehmen mit weniger als zehn Angestellten. Im Europa der 27 Mitgliedsstaaten liegt der Durchschnitt bei 30 Prozent. Italien kommt an zweiter Stelle mit 47 Prozent, es folgen Portugal mit 42 Prozent, Frankreich mit 27 Prozent, Großbritannien mit 21 Prozent und Deutschland mit 18 Prozent. Unser neues Musterbeispiel Dänemark liegt bei 20 Prozent.

Ähnlich fragmentiert ist auch der Agrarsektor, der nicht zum genannten Wirtschaftsbereich gehört. In der Region von Korinth, wo Tafeltraubenanbau betrieben wird, beträgt die Durchschnittsanbaufläche für Exporttrauben weniger als drei Hektar, die größte Einzelfläche bleibt unter zwanzig Hektar. Die Wettbewerber im spanischen Murcia verfügen durchschnittlich über mehr als einhundert Hektar. Dasselbe gilt für Kalifornien, Südafrika, Chile, Ägypten.

In der gesamten Wirtschaft übersteigt der Anteil der in Unternehmen mit mehr als 250 Personen Beschäftigten nicht einmal 9 Prozent des gesamten Beschäftigungsvolumens, Banken und sogenannte GVW („Gemeinnützige Versorgungswerke“) inbegriffen.

Wie kommt es, daß das Land so viele kleine Betriebe hat – Tafeltraubenanbau, Ölmühlen, Zimmervermietungen, kleine Supermärkte, Arztpraxen, Theater, Boutiquen, kleine Textilhersteller und IT-Firmen, und warum gibt es so wenige große Arbeitgeber?

Die Gründe dafür liegen zum einen in der Geschichte, die eine ursprüngliche Kapitalakkumulation wie im Westen unmöglich gemacht hat; zum anderen in den Institutionen unseres heutigen Staates, die dem Kleineigentümer zu überleben helfen und Unternehmenswachstum behindern; ein weiterer Grund ist die herrschende Mentalität, die es schwierig macht, zusammenzuarbeiten.

(…)

Rentiers

Der Begriff der „politischen Rente“ bezeichnet verschiedene Einkommensformen, die Unternehmen, zunftähnliche Interessenverbände und Einzelpersonen vom Staat beziehen und die mit keiner wirklichen Arbeit oder Wertschöpfung korrespondieren. Der Begriff beinhaltet de facto Bezüge für unbeschäftigte Beamte (Sinekure) sowie als Privilegien gewährte Altersrenten, Subventionen ohne Entwicklungsergebnis, Extraprofite privater Lieferanten durch überteuerte Warenlieferungen an den Staat sowie Bestechungsgelder für Beamte. Mit inbegriffen sind Regelungen, denen zufolge es beruflichen Interessenverbänden gestattet ist, erhöhte Marktpreise zu verlangen („geschlossene“ Berufe, vorgegebene Honorartabellen bzw. Betriebs- und Vertriebsbeschränkungen), aber auch, weniger offensichtlich, Abschöpfungsprofite, die sich aus illegalen Praktiken ergeben, wenn sich die Konkurrenz zugleich gesetzeskonform verhält. Nicht enthalten sind Gehälter des öffentlichen Dienstes für diejenigen, die tatsächliche Arbeit leisten, oder die nach allgemeinen Kriterien vergebenen Renten und Sozialleistungen.

Manche vertreten die These, daß die explosive Ausweitung der politischen Rentenökonomie in den achtziger Jahren stattfand, als die Regierungspartei PASOK weitere Schichten und neue Familiendynastien mit entsprechenden Geschäftsinteressen in den Entwicklungsprozeß integrieren wollte. Doch Klientelismus und Günstlingswirtschaft waren dem modernen griechischen Staat seit dessen Gründung inhärent, und der Staat war stets ein größerer Akteur in der Wirtschaft. Die Verteilung politischer Renten war in den Augen der Wahlbevölkerung ein notwendiger Legitimationsmechanismus der Politiker, und die Aussicht darauf, sich eine Rente zu verschaffen war ein starkes egoistisches Motiv dafür, überhaupt einen bestimmten Politiker zu wählen.

Der Staat selbst wurde zum Rentier, was die Geldzuflüsse aus dem Ausland anbelangt: Durch internationale Darlehen, die unter der Bevölkerung verteilt und niemals zurückgezahlt wurden, durch internationale Entwicklungsprogramme und zuletzt dem Strukturfonds der Europäischen Union. Diese Geldzuflüsse haben die griechische Gesellschaft grundlegend beeinflußt: „Laß das Geld erst mal die Grenze überqueren, dann kriegen wir das schon hin mit der Verteilung“, sagte mir ein kleiner Landwirtschaftsunternehmer in einer Unterhaltung darüber, wie man an Subventionen herankommt.

(…)

Wurzeln der Kooperation

Griechen verhalten sich opportunistischer als die Schweden oder die Franzosen. Dieses unterschiedliche Verhalten hat mehrere Gründe. Es gibt eine kulturelle Mentalitätsdifferenz. Gleichzeitig gibt es eine unterschiedliche Anreizstruktur, die das kurzfristige und bedenkenlose Abgreifen von Gewinn begünstigt. Auf beiden Ebenen (Mentalität und Anreizstruktur) interagiert man durch Duldung (keiner zeigt dich an, wenn du Steuern hinterziehst!) und Mißtrauen. (Ich ziehe dich über den Tisch, weil ich erwarte, daß du das auch mit mir vorhast.).

Woher kommt diese kulturelle Differenz bei der Kooperationsbereitschaft, und wie stark ist sie ausgeprägt? Die systematische Forschung und Theorie zu solchen Fragen steckt weltweit noch in den Kinderschuhen. Im Fall Griechenlands ist die interessanteste Darstellung die von Stelios Ramfos über „untätige Individualisierung“. Die Persönlichkeitsstruktur hat sich hierzulande anders ausgeformt als in den westlichen Ländern. In der westlichen (Hoch-)Kultur „ist Ziel des einzelnen, nach Möglichkeit die Gesamtheit der gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung in sich zu rekapitulieren – sich selbst im Kontext der humanen Universalität zu vergegenwärtigen“. Der Mensch des Westens hat die gesellschaftlichen Regeln verinnerlicht, das heißt, er hat sie individualisiert. Die Griechen sind, als die Kollektivstrukturen des Mittelalters sich auflösten, bei einem Individualismus ohne Individualisierung verblieben.

Ein damit zusammenhängender und zugleich eigenständiger Faktor ist die Entwicklung der politischen Institutionen und der wirtschaftlichen Hierarchien. Im Westen schufen der Feudalismus, die Monarchie und die katholische Kirche in ihrer Interaktion den absolutistischen Staat, dem Herrschaft und Lenkung der Gesellschaft oblag. Die Bourgeoisie erbte diesen Staat und stärkte dessen gesellschaftliche Führungsrolle. Parallel dazu entstanden während der industriellen Revolution die großen Unternehmens- hierarchien mit stabilen Rollenvorgaben für Arbeiter und Angestellte. Dies war in Griechenland nicht der Fall: Dort schüttelte man den osmanischen Staat ab, statt ihn weiterzuentwickeln, und man leistete Widerstand gegen die Wirtschaftshierarchien.

Mit anderen Worten: Die entwickelten Ökonomien des Westens stützten sich nicht nur auf einen freien Markt und auf wirtschaftliche Anreize für Individuen. Sie stützten sich auf hierarchisch geordnete Gebilde (vertikale Regeln) und auf Kooperationsstrategien (horizontale Regeln). Der erfolgreiche und hegemoniale Kapitalismus integriert freie Marktwirtschaft in eine Gesellschaft mit Regeln und Verantwortung. Sonst hat man es mit einem Dschungel oder einer Gesellschaft aus Tante-Emma-Läden zu tun. Die Griechen haben weder die vertikalen noch die horizontalen Regeln akzeptiert; sie sind weder gehorsam noch kooperativ. Wenn wir den Dschungel vermieden haben, dann nur, weil wir an Tante-Emma-Läden festgehalten haben.

(…)

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