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Cover Lettre International 96, Marcel Dzama
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Inhaltsverzeichnis

LI 96, Frühjahr 2012

Blinder Flaneur in Paris

Erfahren, ohne zu sehen – Träume und Blicke von einem anderen Ort

Der Kalender zeigte den 9. November 1972, als der berühmte Simplon-Express mich zusammen mit vielen anderen Jugoslawen an der Pariser Gare de Lyon ausspuckte, den für Auswanderer typischen großen Reisekoffer in Händen. Es war keine Reise wie die anderen, denn ich verließ mein kleines Geburtsland Slowenien, eine der sechs Republiken Jugoslawiens, das unser alter Marschall Tito als absoluter Herrscher regierte.

An jenem 9. November 1972 wimmelte die Gare de Lyon von Reisenden, und kaum waren meine Nüstern zu neuem Leben erwacht, begannen sie die Gerüche und Düfte der Cafés wahrzunehmen. Ich erkannte sogleich den Rauch der berühmten Zigaretten, der Gitanes oder der Gauloises, die zuweilen auch bis in mein Heimatland vorgedrungen waren. Ihr seltener Duft ließ uns von Frankreich und Paris träumen. Indem wir diese Zigaretten – eine noch größere Rarität waren Gitanes oder Boyards mit Maispapier – rauchten, konnten wir Frankophile uns mit Hilfe dieser Droge, die damals noch als harmlos galt, alle möglichen Traumbilder wachrufen. Wir konnten uns der französischen Kultur näher fühlen, und die Stimmen von Edith Piaf, Charles Aznavour, Jacques Brel, Georges Brassens, Léo Ferré und so vieler anderer klangen umwölkt von französischem Tabak noch besser. Für uns war das ein Luxus, und ich erinnere mich noch an die Freude, die ich verspürte, als ich mir von den knappen Einkünften aus dem Stipendium der französischen Regierung im Herzen des Landes des Kleinen Prinzen mein erstes Päckchen Gauloises kaufte.

(…)

Dank zweier blinder Freunde, Christian und Bernard, hatte ich die Methode erlernt, mit dem amerikanischen, weißen Blindenstock zu gehen, der viel länger war als die kurzen jugoslawischen Stöcke. Das war ein gewaltiger Fortschritt, denn mit diesem Instrument nimmt man den Raum und mögliche Hindernisse in einem größeren Umkreis wahr. Mit Hilfe der erwähnten Freunde, zweier blinder Studenten, sowie eines Geographiestudenten namens Hervé begann ich auch, die Großstadt mit der Metro zu erkunden. 

(…)

Bezaubert vom Charme von Paris, wußte ich damals noch nicht, daß ich mein ganzes Leben lang im Untergrund dieser Stadt verkehren sollte und daß ihre Oberfläche, das heißt Fußmärsche unter freiem Himmel, immer ein Luxus, um nicht zu sagen ein Privileg sein würden. Meiner Kenntnis des Metronetzes verdanke ich, daß ich mich in dieser Mégalopole orientieren konnte, indem ich weiterhin in zahllosen Katakomben lebte, auf der anderen Seite des Lebens, immer an Traumorten und bisweilen sogar in den Trugbildern einer Stadt, deren Licht umso stärker leuchtet, als meine Erfahrung eher aus realem oder fiktivem Dunkel besteht.

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Meine erste Heimat spielte gewissermaßen die Rolle eines no man’s land, das sowohl Besucher aus dem Osten als auch in den Westen geflüchtete Dissidenten aus denselben Ländern empfing. Es hätte zu einer kleinen Oase werden können, einer Enklave zwischen den beiden feindlichen Blöcken. Im Zusammenhang mit dieser Art Austausch bin ich auch Antonin Liehm begegnet, dem geistigen Initiator von Lettre International, sowie zahlreichen weiteren in Paris lebenden Intellektuellen aus dem Osten.

Diese Jahre waren von einem besonderen Kosmopolitismus geprägt, denn die erwähnten Begegnungen erschienen mir wie eine kulturelle Wiederauferstehung Mitteleuropas. Die Pariser Intelligenzija hat sich damals sehr für diese Kulturen vom anderen Ende der Welt interessiert, bisweilen jedoch ohne begriffen zu haben, daß das 20. Jahrhundert in Wien geboren wurde, nachdem Paris als Geburtsort des 19. Jahrhunderts galt.

Ich muß gestehen, daß mein Blick auf Paris zu großen Teilen durch die Begegnung mit Schriftstellern wie Milan Kundera, Dany Lokis, Kazimierz Brandys, Tadeusz Konwicki und anderen geprägt wurde. Die Seminare Milan Kunderas haben meine Sicht der Literatur verändert. Das Prestige, das Paris am Ende des 20. Jahrhunderts genoß, ist schwer vorstellbar ohne diese illustren Geister, die aus der Kälte kamen, wie man damals sagte. Vielleicht strahlten sie genau deshalb eine andere, eine menschlichere Wärme aus sowie eine Freundschaft ganz eigener Art. Durch diese Präsenz der Kultur Mitteleuropas in Paris fühlte ich mich ein wenig wie zu Hause, denn meine slowenischen Ursprünge, meine ganze Kindheit sowie meine ersten Jugendjahre waren geprägt von den geistigen Schätzen Prags, Triests oder Wiens, aber auch Sloweniens und anderer Republiken des ehemaligen Jugoslawien. Die erwähnten großen Persönlichkeiten, von denen keiner in Paris geboren wurde, waren für mich Pariser besonderer Art, denn sie waren frei von der Selbstgenügsamkeit und der Nabelschau, wie sie für gewisse Intellektuellengruppen der französischen Hauptstadt charakteristisch ist. Das Herz von Paris hätte ohne diese Menschen nie derart stark und kosmopolitisch schlagen können. In diesem Sinne liebe und schätze ich den universellen Geist Frankreichs, der in seinen besten Momenten den aus der Fremde Gekommenen einen herzlichen Empfang bereitete.

Das einfache Volk verschwindet

Während es zu Beginn meiner Jahre in meiner zweiten Heimat noch eine Art von einfachem Volk gab, zogen diese Menschen später aus dem Zentrum von Paris fort. Das Herz von Paris schlägt für mich heute nur in einer fernen Reminiszenz an das Leben früherer Zeiten. Es existiert nicht mehr. Der Argot, der berühmte Pariser Akzent, die Klangfülle und die so bildliche Sprache begannen aus der Stadt zu entfliehen. Ich habe diese Veränderungen an den Stimmen bemerkt, die in den Cafés zu hören waren, sowie am Rauch amerikanischer Zigaretten, der den Geruch der in Maispapier gewickelten Gauloises und Gitanes zu verdrängen begann. Man kann dieses Phänomen, daß das einfache Volk aus Paris verschwand, als eine Form von Migration oder Exilierung betrachten, die sich allmählich und beinahe unbemerkt vollzog. Man mußte das über mehrere Jahre hinweg erlebt haben, um zu begreifen, daß bestimmte Viertel regelrecht entvölkert wurden, das meine eingeschlossen. Oft erfüllt mich eine große Sehnsucht nach jenen Kleinhändlern aus meinem Viertel, die ihre Läden schließen mußten, weil der ökonomische Druck immer größer wurde. 

(…)

Die 1970er Jahre waren von einem gewissen Vertrauen in die Zukunft geprägt, doch begann damals auch das Handwerk aus Paris zu verschwinden. Nach und nach sind die kleinen Handwerker von der Bildfläche verschwunden. Ich ziehe eine Verbindung zwischen diesem sozialen Sterben und der Eröffnung neuer Metro- und Schnellbahnlinien, die es während meiner ersten Pariser Jahre noch nicht gab. Je enger die Schnellbahn RER die fernen Vorstädte mit dem Zentrum von Paris verband, desto intensiver wurde der Exodus des einfachen Volkes aus Paris.

Manchmal habe ich den bescheidenen Eindruck, diese neuen Verkehrsadern seien weniger geschaffen worden, um Menschen zur Arbeit nach Paris zu bringen, als vielmehr dafür, die proletarischen Schichten aus der Hauptstadt zu schaffen. Diese Veränderungen haben mich dazu gebracht, die Stadt auch unter ökonomischen Gesichtspunkten zu denken. Im Laufe der Jahre wurde das Geld zum wichtigsten Faktor für das Recht, im Stadtzentrum leben zu dürfen. Viele gebürtige Pariser haben mir gesagt: „Die Stadt meiner Kindheit hat sich unmerklich in ein riesiges Museum verwandelt.“ In Paris zu leben, bedeutete für sie, ein ökonomisches Privileg zu besitzen, fast schon so etwas wie ein museales Ausstellungsstück zu sein. Sie beklagten sich darüber und sagen heute, daß dieses große Freilichtmuseum mit seinen wunderbaren Monumenten zu einem kommerziellen Spektakel wurde, dem man beiwohnt, um den Rest zu vergessen. In Wirklichkeit hat man in Paris manchmal den Eindruck, gleichsam in Wandschränken zu leben, weil die Wohnungen so klein und so teuer sind. Da man aus den Fenstern aber auf ein permanentes Schauspiel blickt, vergißt man darüber, daß man eigentlich in Kaninchenställen lebt.

(…)

Noch nicht Geschehenes

Neben den üblichen Geräuschen kann man in Paris auch die Töne vernehmen, die aus dem Inneren der Erde kommen und die man mit sehr niedrigen und bisweilen furchteinflößenden Frequenzen unter seinen Füßen spürt. Es gibt Orte, an denen man sich wie auf einem Vulkan fühlt, der ausbricht und uns mit seinen Auswürfen verschluckt. Die klingende Postkarte ändert sich je nachdem, ob man sie am Werktag oder Feiertag betrachtet. Wenn es scheinbar still ist, sind zuweilen von ferne Glocken zu hören, als wäre man in eine Vergangenheit eingetaucht, in der die moderne Fortbewegungstechnik mit ihrem schwer erträglichen Lärm verschwunden ist. Dann klingelt der Wecker und Polizeisirenen begleiten einen Konvoi hochgestellter Persönlichkeiten. Dasselbe Aufheulen ertönt, wenn die Kastenwägen der Polizei Gefangene vom Gericht ins Gefängnis überführen. Dieses Hin und Her charakterisiert auch unsere Bewegung in der Illusion: Man bricht in ein fernes Irgendwo auf, während man gleichzeitig vor Ort bleibt. Es gibt da dieses zirkuläre Moment mit seinen kleinen und großen Rasereien, seinen Bedrohungen; man glaubt, zu Neuem aufzubrechen, um einem schönen Haarschopf zu begegnen, das unseren Weg kreuzt, oder einer schönen Stimme, die uns sagt: „Monsieur, möchten Sie die Straße überqueren?“ Diese Welt der Laute, Töne und Klänge ist wie eine Symphonie ohne Ordnung und Regel, komponiert und immer wieder umkomponiert von einem unsichtbaren Dirigenten, den man „Die Zeit, die vergeht“ nennen könnte.

In Paris geht alles vorbei; oft kehrt das Vergangene mit unheilbarem Bedauern oder unstillbarer Nostalgie ins Gedächtnis zurück. So wird das Heute beim Einbruch der Nacht fast schon zum Gestern, während das Morgen zögert, das Tor zum „noch nicht Geschehenen“ zu öffnen. Ohne dies könnte man in Paris schon seit langem nicht mehr leben, es wäre eine Stadt, aus der man fliehen müßte, damit das Mögliche nicht verlorengeht. Dennoch ist es immer zu spät, wenn man begreift, daß man hätte gehen müssen, ja selbst dann, wenn man begreift, daß man noch einen Tag, eine Woche, ein Jahr mehr bleiben muß. Es stimmt: In Paris ist man tatsächlich nie „zu Hause“, man kommt an, um zu verstehen, daß man bereits zurückgekehrt ist, und um sich mit einem stummen Schmerz immer wieder zu sagen: „Ich bin nicht von hier, aber ich bin gerne hier.“ 

(…)

Nach so vielen Jahren in dieser Stadt bin ich zu der schmerzlichen Überzeugung gelangt, daß sich hier im Modus des Erneuerbaren, eines gewissen Déjà-vu, das ebenso irreal wie undenkbar ist, alles wiederholt. Verloren hinter Schatten, so zerbrechlich und winzig sie auch sein mögen, irre ich durch diese Welt; mal denke ich an die Revolutionäre von 1830, mal an die der Commune, die laut Walter Benjamin auf die Turmuhren schossen, um die Zeit anzuhalten, um die kranke, monotone Kontinuität der Wiederholung, die fortwährend sich selbst ähnelt, zu durchbrechen. 

Leider habe ich kein Gewehr zur Verfügung, sondern nur einen einfachen Bogen, wie die Indianer, die keine anderen Waffen besaßen, um die ihnen von den europäischen Kolonisatoren aufgezwungene Zeit zu stoppen. Mit dieser so zerbrechlichen Waffe würde auch ich gerne auf die Uhr von Paris zielen, damit dort eine andere Zeit herrsche und die Pariser Straßen, Plätze und Vorstädte den Traum des noch Möglichen träumen könnten. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß meinen bescheidenen Versuchen, die Zeit anzuhalten, Erfolg beschieden sein könnte; dennoch verspüre ich beständig den starken Wunsch danach, vor allem in jenen Momenten, wenn die Großstadt, gleich einer Schwangeren, auf den geeigneten Tag wartet, um im Einklang mit all den besungenen und erhofften „temps des cerises“, der „Zeit der Kirschen“, eine neue Utopie zu gebären. 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.