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Cover Lettre International 95, Maki Na Kamura
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LI 95, Winter 2011

Metamorphosen der Liebe

Liebe, Begehren, Erotik – Gegenkräfte des monotheistischen Konzepts

(Auszug: 4.078 von 37.390 Zeichen)

Frank M. Raddatz:
Herr Kittler, im Werk Heideggers kommt das Wort „Erotik“ nicht ein einziges Mal vor. Sie dagegen wollen dessen Philosophie um die Sexualität erweitern. Aphrodite kommt in Ihrem Denken zentrale Bedeutung zu. Wie erscheint die Göttin, und in welchen Metamorphosen spricht die Liebe zu uns?

Friedrich Kittler: Aphrodite spricht zu uns zum Beispiel aus dem „Achten Gesang“ der Odyssee, wo sie ihren häßlichen und hinkenden Gatten Hephaistos, den Schmiedegott, mit dem schönen Ares betrügt und der Ehegatte sich rächt, indem er ein unsichtbares Netz hämmert, worin die beiden Liebenden in flagranti gefangen werden. Dann kommen alle Götter und lachen sich krank über die Ertappten. Die Göttinnen allerdings schämen sich und kommen nicht. So weit ist die Geschichte lustig und bekannt. Am Ende fragt Apollon seinen Halbbruder Hermes, ob er ebenfalls ein Beilager mit Aphrodite teilen möchte, wobei er zudem beobachtet würde. Hermes antwortet: „Fesselten mich auch dreimal soviel unendliche Bande, Und ihr Götter sähet es an, und die Göttinnen alle: Siehe, so schlief’ ich doch bei der goldenen Aphrodite!“ Das scheint mir der Schlüssel zu sein: Die Liebe zwischen den Göttern übt eine Art Ansteckung aus. Andere Götter oder wir Menschen wollen sie nachmachen. Die Idee, daß Liebe Nachahmung der Götter ist, ist das, was uns von den Griechen und der archaischen griechischen Dichtung geschenkt wurde. Wenn man diesen Umstand ins Freudianische übersetzen wollte, handelt es sich um die Tatsache, daß es uns alle nicht gäbe, wenn unsere Eltern nicht miteinander Liebe gemacht hätten. Diesen Ansteckungseffekt kann man sehr schön bis zu den Erzählungen des Xenophon über das Gastmahl verfolgen. Nicht in Platons Symposion, aber bei Xenophon wird berichtet, wie ein von seinem Herrn auch noch mißbrauchter Sklave mit einer kleinen Sklavin zum Vergnügen der beim Gastmahl Versammelten auftritt. Er beginnt den Dionysos zu spielen und sie die Ariadne. Plötzlich heißen sie nicht mehr „Sklave“ und „Sklavin“, sondern ganz offiziell nur noch „Dionysos“ und „Ariadne“. Sie beginnen sich zu lieben, und die Zuschauer sagen, die spielen diese Liebe gar nicht, sondern empfinden sie offensichtlich wirklich. Die beiden kosen einander und gehen dann erregt ins Nebenzimmer, um die Liebe zu vollenden. Die Nachahmung der Götter, die Liebe von Dionysos und Ariadne als von Sklave und Sklavin dargebotenes kleines Schauspiel, führt dazu, daß alle Männer, die an der Vorführung teilgenommen haben, außer Sokrates, aufspringen und nach ihren Pferden rufen, weil sie sofort zu ihren Gattinnen wollen. Ende des Gastmahls bei Xenophon. Die Kette der Nachahmung der Nachahmung ohne irgendeine Seinsminderung. Ob Sklave und Sklavin die Protagonisten sind, spielt keine Rolle, denn die Liebe bleibt immer dieselbe. „Im Augenblick des Orgasmus sind wir alle ein und derselbe Mensch“, hat Borges geschrieben.

Nur der philosophische Eros ist immun und wird nicht angesteckt. Sokrates bleibt enthaltsam.

Das ist der bezeichnende Punkt. In beiden Symposien, bei Xenophon und bei Platon, bleibt Sokrates nüchtern und rast nicht zu seiner Frau.

Der Philosoph beherrscht die Sprache der Liebe also nicht!?

Er möchte sich zum Herrn über die Liebe machen, damit er selber geliebt wird. Die Paradoxie von Sokrates ist, daß er alt ist, daß er nicht reich ist, nicht mächtig ist, daß er häßlich ist – und trotz dieser wenig attraktiven Schale gelingt es ihm, mittels seiner so tiefsinnigen schönen inneren Seele junge, schöne, mächtige Männer dazu zu bringen, sich in ihn zu verlieben. Das ist diese Paradoxie des Sokrates, dieser philosophischen Liebe. Es ist eine Liebe wider alle Wahrscheinlichkeit, die Sokrates gestiftet und aufgebaut hat. „Pädagogischer Eros“ hat das der arme Ludwig Klages vor hundert Jahren genannt. Wahrscheinlich handelt es sich um das Betriebsgeheimnis aller mehr oder minder pädophilen Institutionen wie Universität, höhere Schule, Kirche und woran man sonst noch denken kann, wenn es darum geht, daß der alte Meister sich von den jungen Schönen bewundern läßt und nicht umgekehrt.
(…)

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