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Cover Lettre International 96, Marcel Dzama
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Inhaltsverzeichnis

LI 96, Frühjahr 2012

Athener Klientelismus

Die politische Kultur Griechenlands und die Wurzel der Schuldenkrise

(...)

Mit der Reduzierung des Römischen Reiches auf seinen östlichen Teil begannen sich beide Teile Europas auseinanderzuentwickeln. Der Westen erlebte im Früh- und Hochmittelalter zunächst einen kulturellen Niedergang. Nach dem Wiederaufstieg im Spätmittelalter folgte die Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst. Dies alles erlebte Griechenland, damals Teil des Byzantinischen Reiches, nicht. Genau zu jener Zeit, als im Westen die Neuzeit und der Wiederaufstieg Europas einsetzten, eroberten die Osmanen das Byzantinische Reich. 1453 fiel Konstantinopel. Die osmanische Herrschaft dauerte in großen Teilen Griechenlands und des Balkans bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Dieser Teil Europas verschwand Ende des 15. Jahrhunderts hinter einer Art Eisernem Vorhang. Als osmanische Provinzen waren diese Teile Europas von folgenden Entwicklungen weitgehend ausgespart: Renaissance, Reformation, Gegenreformation, Absolutismus, Rationalismus, Aufklärung und bürgerliche Revolution. Für beinahe 400 Jahre stand die Zeit dort fast still.

Die 300 bis 400 Jahre währende osmanische Okkupation führte zu tiefgehenden Veränderungen in den Ländern des Balkans. Eine der ersten Maßnahmen der neuen Herrscher war die Vernichtung der bisherigen Oligarchie, also der Aristokratie, da diese Elite die Führung in potentiellen Aufständen hätte übernehmen können. Übrig blieben die ursprünglich gewählten lokalen Dorfbürgermeister, die sogenannten Muchtare (griechisch Kotsampasis); sie vertraten die osmanische Regierung vor Ort. Dadurch erhielten diese Muchtare eine doppelte Funktion: Sie konnten als Führer und Beschützer der örtlichen Bevölkerung agieren, waren aber zugleich Objekte osmanischer Repression, wenn in ihrem Verantwortungsbereich etwas schief ging. Aus ihrer Funktion als Beschützer gewannen sie in den Augen der Bevölkerung Prestige und Macht. Als Gegenleistung erwarteten sie Loyalität von ihren Hintersassen. Die Osmanen belohnten treue Dienste, und so wurden diese lokalen Notabeln im Lauf der Zeit wohlhabend – und oft zu Geldverleihern. Dieses äußerst profitable Geschäft – 30 Prozent Zinsen waren üblich – war weniger honett, als sich selbstlos vor die Schutzbefohlenen zu stellen; es führte zu einer immer größer werdenden Abhängigkeit der örtlichen Bauern von ihrem Patron. Diese Abhängigkeitsbeziehung existierte im ganzen Osmanischen Reich, es wird als Muchtarsystem bezeichnet. Das ist der konkrete historische Ursprung des heutigen Klientelsystems.

Ein weiterer Aspekt der politischen Kultur ist das Verhältnis von Kirche und Staat. Während sich in Westeuropa der politische Einfluß der Kirchen in den vergangenen fünf Jahrhunderten stark verringerte und die Trennung von Kirche und Staat weitgehend durchgesetzt wurde, läßt sich in Griechenland eine gegenläufige Entwicklung beobachten. Der Einfluß der orthodoxen Kirche nahm zu, weil sie während der osmanischen Zeit dazu beitrug, die griechische Identität zu bewahren. Andererseits wurde sie Teil der osmanischen Herrschaft, weil das Millet-System (die Einteilung der Bevölkerung nach Konfessionen) die Kirche zum Steuereintreiber der Hohen Pforte machte. Auch nach der Errichtung des neugriechischen Staates verstand es der Klerus bis heute, aufs engste mit der jeweiligen Staatsmacht zusammenzuarbeiten. Eine Säkularisierung des kirchlichen Besitzes wie in Westeuropa Anfang des 19. Jahrhunderts gab es nicht. 

Die in Teilen Griechenlands über 400 Jahre währende osmanische Herrschaft führte dazu, daß die Griechen den Staat im wesentlichen als Ausbeuter erlebten. Während in Westeuropa ein selbstbewußtes Bürgertum entstand, welches den Staat als das eigene Staatswesen, als die eigene bürgerliche Republik empfand, war der Staat für die Griechen gleichbedeutend mit Fremdherrschaft, gegen die es sich zu wehren galt und die man haßte. Steuervermeidung und Diebstahl von staatlichem Eigentum waren typische Abwehrreaktionen. Diese Einstellung zum Staat wurde zu einer Tradition, die bis heute fortwirkt.

(…)

Bürgerkrieg und Diktatur

Es gab im 20. Jahrhundert nur eine einzige Chance, den Klientelismus zu überwinden, nämlich am Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie erwähnt, hatte Metaxas die alten klientelistischen Netzwerke zerschlagen. Da während der Besatzung das Lebenselixier des Klientelismus, der Zugriff auf die staatlichen Gelder, blockiert war, wurden die alten politischen Strukturen bedeutungslos. Die Bevölkerung wandte sich von den alten Parteien ab und den aus der linken Widerstandsbewegung hervorgehenden Kräften zu, die in den von den Partisanen kontrollierten Regionen den griechischen Staat von den Graswurzeln her neu aufbauten. Diese Kräfte umfaßten alle progressiven Elemente der Gesellschaft von den Liberalen bis zu den Kommunisten. Am Horizont zeichnete sich eine Nachkriegsrepublik mit politischen Strukturen ab, die den europäischen Staaten stark ähnelten. Vermutlich wäre der traditionelle Klientelismus damit verschwunden. 

Doch es kam anders. Dieser neue Staat hätte ebenso sein klientelistisches Abhängigkeitsverhältnis zu Großbritannien beendet. Griechenland wäre zu einem gleichberechtigten Partner geworden. Für Churchill war dies unvorstellbar. Für ihn war der einzige Garant eines pro-britischen Kurses Griechenlands auch nach dem Krieg der König. Folglich mußte die Monarchie restauriert werden. Da die überwältigende Mehrheit der Griechen dies nicht wollte und die Résistance strikt dagegen war, mußte Churchill den König durch Gewaltanwendung zurückbringen. Um die bevorstehende militärische Intervention moralisch zu rechtfertigen, beschwor er die kommunistische Gefahr. Im Oktober 1944 sicherte er auf der Moskauer Konferenz die Intervention durch das berüchtigte Prozentabkommen mit Stalin ab, in dem die Einflußzonen aufgeteilt wurden: Großbritannien neunzig Prozent, die Sowjetunion zehn Prozent, was Griechenland anbetraf. Im Dezember 1944 kam es zur bewaffneten Intervention. Der Vertrag von Varkiza vom Februar 1945 war ein fairer Kompromiß. Doch seine Bedingungen wurden von der griechischen Rechten mit stillschweigender Billigung der Briten verletzt. Das Resultat war die Wiederbelebung des klientelistischen Systems und ein Bürgerkrieg, der bis 1949 dauerte. Der danach existierende griechische Staat wurde zunächst von der konservativen Klientelpartei unter Konstantinos Karamanlis, die nun ERE (Nationale Radikale Union) hieß, regiert. Die oppositionelle Klientelpartei unter Georgios Papandreou hieß EK (Zentrumsunion) und war eine Art Fortsetzung der Liberalpartei aus der Vorkriegszeit. Auch als Papandreou nach 1963 für wenige Jahre an die Macht kam, änderte sich am Prinzip des klientelistischen Systems nichts. Auch die Militärdiktatur tauschte nur die Nutznießer aus, Militärs und ihre Klienten traten an die Stelle der politischen Oligarchie.

(…)

Das System reformieren

Seit 2010 befindet sich Griechenland in der wohl größten Krise seiner jüngeren Geschichte. Der neue Premierminister Georgios Papandreou hält im Unterschied zu seinem Vater Andreas nichts vom Klientelismus. 2009 ging er mit seiner PASOK als strahlender Sieger aus den Wahlen hervor. Aber im Gegensatz zu seinem Vater hatte er die PASOK niemals unter Kontrolle. Er hatte nicht einmal eine eigene Hausmacht. Als die Finanzkrise explodierte, geriet er in eine fatale Lage. Als Papandreou sich unter den Rettungsschirm der EU begab, stellte diese harte Forderungen. Die griechische Regierung sollte sparen und die Steuern erhöhen. Diese Rezepte hätten in anderen europäischen Staaten anschlagen können, nicht jedoch in Griechenland. Sparen impliziert, daß der massiv aufgeblähte Staatsapparat drastisch reduziert werden müßte. Dies hätte bedeutet, daß Papandreou eigene Anhänger und Wähler desavouiert hätte. Eine große Entlassungswelle hätte die Wählerstimmen der PASOK dezimiert. Die Erhöhung der Verbrauchssteuern traf ebenfalls die eigene Anhängerschaft aus kleinen Leuten, denen nun der Absturz in die Armut drohte. Die einzige spürbare Entlastung wäre durch eine Besteuerung der Reichen zu erreichen gewesen, zu denen jedoch auch viele Politiker zählen. Zudem hatten diese ihr Geld schon lange ins Ausland geschafft oder drohten, dies zu tun. Schließlich ist diese Wirtschaftsoligarchie mit der politischen Oligarchie so stark verfilzt, daß Papandreou bei dem Versuch, die Reichen zu besteuern, eine Palastrevolution hätte fürchten müssen. Papandreou konnte die harten Forderungen der EU nur in einer Hinsicht erfüllen, indem er die kleinen Leute zur Kasse bat. Sein verzweifelter Versuch, den Spielraum durch ein Plebiszit zu vergrößern, war im klientelistischen System eine richtige Maßnahme, denn derart hätte er das Volk hinter sich bringen können. So abgesichert, hätte er auch härtere Maßnahmen gegen seine Parteigranden durchsetzen können. In Europa wurde dieser Schritt völlig mißverstanden und torpediert. Dies zog Papandreous Rücktritt nach sich. Die neue Regierung aus PASOK und Nea Dimokratia wurde in Europa als eine „große Koalition“ interpretiert, was den Tatsachen jedoch nicht entspricht. In Westeuropa sind parteiübergreifende große Koalitionen geeignet, schwierige Situationen zu überwinden. In einem klientelistischen System wird dadurch eher das Gegenteil erreicht. Beide Parteien vereinigen ihre Kräfte bei der Abwehr von Forderungen, die ihre Klientel schwächen könnten. Keiner denkt daran, das klientelistische System zu reformieren oder gar aufzugeben. Man verläßt sich darauf, daß die europäische Hilfe das System wieder stabilisieren werde und man dann wieder zum status quo ante zurückkehren könne. Daß dies funktionieren könnte, hat die Vergangenheit erwiesen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.