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Cover Lettre International 100, Max Grüter
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Inhaltsverzeichnis

LI 100, Frühjahr 2013

Effizienzwahn

Zur Konkurrenz von Mensch und Maschine im digitalen Kapitalismus

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Optimale Verzinsung

Das Problem ist jedoch: Zunehmend funktionieren große Teile der Wirtschaft so. Möglich wurde diese Art des Arbeitens erst durch Computer, Netze und Software, mit denen man dieses Niveau an Komplexität überhaupt beherrschen und verarbeiten kann. Was wir jetzt sehen – nicht nur an den Finanzmärkten –, ist ein qualitativer Sprung, dessen Dimensionen unsere Vorstellungskraft strapaziert. Geschäftsprozesse werden durch in Software gegossene Algorithmen abgewickelt. Auch auf der Managementebene wird Entscheidungskompetenz schon deswegen an Software-Systeme delegiert bzw. durch Reporting-Systeme zentralisiert, weil die Komplexität des modernen Großkonzerns das Fassungsvermögen des menschlichen Gehirns schlicht überschreitet. Das muß nicht zwingend schlecht sein; es befördert nur in der Regel weiter das Denken in Kennzahlen, Benchmark-Werten und anderen arbiträren Effizienzkriterien.

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Die optimale Verzinsung des Kapitaleinsatzes, die Einhaltung von Kennzahlen, die Erfüllung der Vorgaben des Busineßplans erfordern das bedingungslose Verfolgen der Effizienzideologie. Produktivitätssteigerungsraten werden in Großkonzernen mittlerweile pauschal auf der Basis vergangener Daten auf Jahre hinaus im voraus geplant. Die Konkurrenz schläft nie; wer mithalten will, muß mitmachen. Wer stehenbleibt, hat schon verloren, so wird uns eingehämmert. Entweder wir spielen mit im Ich-AG-Konkurrenzkampf um das nächste Projekt und geben uns mobil, flexibel, opferbereit und permanent weiterbildungswillig. Oder wir können bestenfalls noch am untersten Ende mitarbeiten, dort, wo die Roboter am anderen Ende der Halle schon aufgebaut werden, als wenig subtiler Hinweis auf die nahe Zukunft.

Produktionsmittel heute

Die marxistische Weltsicht dreht sich um das Eigentum an Produktionsmitteln als Machtfaktor. Eine Weile lang sah es so aus, als wenn diese Theorie durch die allgemeine Verfügbarkeit von Computern, Netzen und Software überholt wäre. Jeder Programmierer konnte schließlich der neue Bill Gates werden, ganz ohne Maschinenparks und Ländereien. Mittlerweile kristallisiert sich jedoch heraus, daß diese Legende von der Demokratisierung der Machtstrukturen durch die angeblich ubiquitäre Verfügbarkeit von Produktionsmitteln ein Irrtum war. Natürlich kann ein talentierter Programmierer oder Designer mit viel Glück und einer iPhone-App zu einem gewissen Wohlstand kommen. Mit viel Glück, Talent und Venture-Capital können es auch einige wenige zu erheblichem Reichtum bringen. Die vage Aussicht auf diesen Sechser im Venture-Capital-Lotto verzerrt jedoch den Blick auf die eigentlichen Realitäten. Die eigentlichen Produktionsmittel sind nicht Laptops und Internetanschluß – die sind mittlerweile zumindest in den industrialisierten Ländern fast so selbstverständlich wie Strom und Wasser.

Die entscheidenden Produktionsmittel sind heute Kapital und Information. Die neuen Oligopolstrukturen etwa der App-Stores, die Millionen von Cloud-Servern bei Amazon, Google, Apple & Co. und die restriktiven Geschäftsmodelle mit ihrer extremen Nutzerbindung dienen nicht nur der Akkumulation von Kapital. Sie dienen auch der Anhäufung des immer wichtigeren Produktions- und damit Machtmittels: Informationen. Kapital braucht man, um die Arbeitszeit der Programmierer und sonstigen Dienstleister im voraus zu bezahlen und die gigantischen Server-Farmen zu finanzieren und zu betreiben. Informationen aus den Big-Data-Sammlungen liefern den entscheidenden Wissensvorsprung, um dafür zu sorgen, daß das Oligopol stabil bleibt und sich ausdehnen kann. Einsichten in Denken, Fühlen und Handeln des Individuums sind auch eine gute Voraussetzung, um seine Arbeitsleistung effizient zu extrahieren, indem Anreize, Wünsche und Hoffnungen optimal ausgerichtet werden. Falls man dieses spezifische Individuum überhaupt noch benötigt und es in der Gesamtschau nicht nur noch um das möglichst preiswerte Bewahren des sozialen Friedens geht.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.