Direkt zum Inhalt
Lettre International 146
Preis: 15,00 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis

LI 145, Sommer 2024

Antithese des Faschismus

Italiens liberale, demokratische Verfassung von 1948 und ihre Feinde

(…)

In Italien wurde die Verfassung, die 1948 mit der Gründung des neuen republikanischen Staates nach dem Zusammenbruch des Faschismus als dessen Antithese verabschiedet wurde, von Anfang an und in der gesamten Zeit ihres Bestehens von großen Teilen der herrschenden Klassen, der dominierenden nationalen Schichten nicht mitgetragen, sondern nur erduldet; sie wurde behindert und mehrfach zu untergraben versucht. Um die komplexen Gründe für diese nationale Besonderheit zu verstehen, müssen wir in die Anfangsphase der Ausarbeitung der Verfassung zurückgehen. 
     Unsere Verfassung trat unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Kraft, als die Folgen eines nationalen Bürgerkriegs noch nicht überwunden waren, eines erbitterten Konflikts zwischen dem Italien, das den Faschismus unterstützt, und dem Italien, das ihn bekämpft hatte. Die faschistische Diktatur war nicht, wie der Philosoph Benedetto Croce behauptete, eine „Parenthese“ der italienischen Geschichte, eine zwanzig Jahre dauernde kollektive Verirrung des italienischen Volkes. Sie war vielmehr die Autobiographie einer Nation, wie es der Liberale Piero Gobetti klarsichtig diagnostizierte, der im Alter von 25 Jahren an den Folgen der Mißhandlung durch faschistische Schläger starb. Im übrigen sagte Mussolini selbst in der letzten Phase seines Lebens: „Ich habe den Faschismus nicht erschaffen, ich habe ihn nur aus dem Unterbewußtsein der Italiener ans Licht geholt.“
     Der Faschismus gelangte an die Macht und wurde von einem großen Teil der Machteliten des damaligen Italiens unterstützt: der savoyischen Monarchie und Aristokratie, dem Vatikan, den Großgrundbesitzern im Norden, den Gutsbesitzern im Süden, der Großindustrie und anderen. Zudem genoß er viele Jahre die Unterstützung der italienischen Massen. Bei den politischen Wahlen 1924 erhielt die faschistische Partei 65 Prozent der Stimmen, also viereinhalb Millionen, gegenüber 25 Prozent, also zweieinhalb Millionen Stimmen, die alle nichtfaschistischen Parteien zusammen erhielten. Nach dem Erlaß der Rassengesetze gegen die Juden, vor allem aber im Zuge der wirtschaftlichen Folgen der von Mussolini erklärten Bereitschaft Italiens zum Kriegseintritt begann der Rückhalt der Bevölkerung für den Faschismus allmählich nachzulassen. Dennoch hielt sich die faschistische Diktatur weiter an der Macht und brach schließlich nicht aufgrund innerer, sondern aufgrund äußerer Faktoren zusammen. Nach der Landung der Alliierten in Italien, denen sich die Männer und Frauen des Widerstands anschlossen, geriet der Faschismus in Bedrängnis und brach nach der Niederlage Italiens im Zweiten Weltkrieg endgültig zusammen.

(…)

Richter und Staatsanwälte in voller Unabhängigkeit

Der an die Tradition des monarchischen Staates anknüpfende Faschismus hatte die Justiz als ein Organ konzipiert, das von der politischen Macht kontrolliert werden sollte, und daher dafür gesorgt, daß die Staatsanwaltschaft – die für die Strafverfolgung zuständige Behörde – von der Exekutivgewalt abhängig war. Die Verfassunggebende Versammlung ging den genau umgekehrten Weg und dekretierte die völlige Unabhängigkeit der Justiz von jeder staatlichen Gewalt. In dieser Hinsicht ist die italienische Verfassung die fortschrittlichste der Welt. Während die Verfassungen anderer Länder lediglich die Unabhängigkeit der Richter vorsehen, zeichnet sich die italienische Verfassung durch Unabhängigkeitsgarantien auch für die Staatsanwälte aus: Richter und Staatsanwälte (beide werden im Italienischen als magistrati bezeichnet) sind zwei Funktionen einer einzigen Karrierelaufbahn. 

(…) 

Den umfangreichen verfassungsrechtlichen Garantien für die Justiz ist es zu verdanken, daß wir in Italien Richter und Staatsanwälte wie Giovanni Falcone, Paolo Borsellino, Rocco Chinnici, Gaetano Costa, Mario Amato, Vittorio Occorsio und viele andere hatten, deren Namen ich hier nicht alle nennen kann. Sie waren nicht nur aufgrund ihrer menschlichen und beruflichen Qualitäten in der Lage, ihre Pflicht zu erfüllen, sondern auch deshalb, weil sie dank der ihnen von der Verfassung gewährten Unabhängigkeitsgarantien die Kontrolle des Legalitätsprinzips ausüben konnten, auch gegenüber den zahlreichen kriminellen Akteuren an der Spitze der sozialen Pyramide, die zuvor als unantastbar galten: hochrangige Personen, die mit der Mafia zusammenarbeiteten, geheime Auftraggeber und Komplizen derjenigen, welche die neofaschistischen Anschläge ausführten, sowie viele nach außen hin unbescholtene Personen, die sich durch Korruption auf Kosten der Gemeinschaft bereichert hatten. 
     Gegen diese Richter und Staatsanwälte sowie gegen den gesamten verfassungstreuen Teil der Justiz entfesselte die Welt der Macht seit Ende der 1970er Jahre einen gnadenlosen Krieg: mit Disziplinarverfahren, Strafversetzungen und anderen für die Karriere nachteiligen Maßnahmen, mit Diskreditierungsversuchen, die bis heute weitergehen und die in den letzten Monaten an Schärfe und Dynamik gewonnen haben, mit Einschüchterungs- und Disziplinierungsmaßnahmen gegen Richter und Staatsanwälte (zuletzt gegen die Richterin Iolanda Apostolico in Catania), deren Entscheidungen dieser Regierung nicht gefallen. Und mit einer Reihe von Gesetzesentwürfen, die alle nur ein Ziel haben: die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben und zu beschränken, Richter und Staatsanwälte wieder unter die Kontrolle der politischen Macht zu bringen und so das Rad der Geschichte zurückzudrehen.
     Dank der in der Verfassung verankerten Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz war es den reaktionärsten und gewalttätigsten Elementen der Welt der Macht jedoch nicht gelungen, Falcone, Borsellino, Amato und viele andere zu stoppen, solange sie am Leben waren. Sie mußten sie töten, um sie aufzuhalten. Jetzt will man den Teil der Verfassung, der die Unabhängigkeit der Justiz garantiert, töten und zu den guten alten Zeiten zurückkehren, als das System der Macht sie unter Kuratel gestellt hatte. Dieses Ziel will man erreichen, ohne es öffentlich zu erklären, indem man behauptet, es handle sich um technische Reformen zur Verbesserung der Effizienz des Justizapparats. 

(…)

Ein roter Faden der Gewalt

Die Feinde der Verfassung sind für das verantwortlich, was ich seit langem als italienische Anomalie bezeichne. Diese Anomalie prägte die gesamte italienische Nachkriegsgeschichte bis zum Fall der Berliner Mauer, und sie sondert auch heute noch ihr antidemokratisches und verfassungsfeindliches Gift ab. Tatsächlich weist die Geschichte Italiens im Vergleich zur Geschichte aller anderen europäischen Länder mit fortgeschrittenen Demokratien auffallend anomale Züge auf. In keinem anderen europäischen Land hat es eine so lange und ununterbrochene Abfolge von blutigen Massakern und politischen Morden gegeben wie in Italien.
     Wie gesagt, stand am Anfang der Geschichte der Italienischen Republik ein politisch-mafiöses Blutbad – das von Portella della Ginestra –, und die Erste Republik endete nicht zufällig mit den politisch-mafiösen Blutbädern von 1992 und 1993. Zwischen dem ersten und dem letzten gab es eine ununterbrochene Abfolge weiterer Blutbäder: den Anschlag auf der Piazza Fontana in Mailand am 12. Dezember 1969, den Anschlag von Gioia Tauro am 22. Juli 1970, den Anschlag von Peteano am 31. Mai 1972, den Anschlag auf das Mailänder Polizeipräsidium am 17. Mai 1973, den Anschlag auf der Piazza della Loggia in Brescia am 28. Mai 1974, den Anschlag im Italicus-Express am 4. August 1974, den Anschlag in Bologna am 2. August 1980, den Anschlag im Apennin-Basis-Tunnel auf den Rapido 904 am 23. Dezember 1984. Erinnern Sie sich an alle diese Massaker? Sie alle hatten eines gemeinsam: Sie waren Ausdruck eines unterschwelligen Bürgerkriegs niedriger Intensität, der von den reaktionärsten Kräften dieses Landes gegen die neue verfassungsmäßige Ordnung geführt wurde, um deren Umsetzung zu verhindern. Blutige Anschläge, Putschpläne und politische Attentate zielten darauf ab, die demokratische Entwicklung des Landes und die vollständige Umsetzung der Verfassung durch Bomben und Einschüchterungen zu behindern oder, schlimmer noch, durch die Errichtung einer autoritären Präsidialrepublik zu kippen. 
     Weil sie politisch motiviert und Ausdruck der Kriminalität der Macht waren, haben diese Blutbäder einen gemeinsamen Nenner: Sie wurden durch Vertreter des Staatsapparats vertuscht, um zu verhindern, daß die Tatausführenden den politischen Auftraggebern zugeordnet werden konnten. Diese Vertuschung nahm unterschiedliche Formen an: Man ließ wichtige Dokumente verschwinden, legte falsche Fährten, erfand falsche Zeugen und Kronzeugen der Justiz und beseitigte unzuverlässig gewordene Tatausführende. Vertuscht wurde bereits das erste Blutbad von Portella della Ginestra, und diese Strategie setzte sich in den folgenden Jahren systematisch fort. 

(...)

Preis: 15,00 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis
Zum Seitenanfang

Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.