LI 95, Winter 2011
Völker und Märkte
Demokratischer Kapitalismus und europäische Integration. Ein EpilogElementardaten
Textauszug
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Unterdessen entfaltet sich die Dialektik von Demokratie und Kapitalismus in atemberaubendem Tempo. Kaum hatte sich die Aufregung über das geplante und dann wieder abgesagt griechische Referendum gelegt, überschlugen sich die Ereignisse. Berichten über Witzeleien in Brüsseler Korridoren über die Wünschbarkeit eines Militärputsches in Athen folgte die Ablösung erst der griechischen und dann der italienischen Regierung. Unter allgemeinem Aufatmen ging die Macht an in internationalen Finanzkreisen hochangesehene Ökonomen-Technokraten über, von denen man hofft, daß sie der Logik „der Märkte“ endlich energisch Geltung verschaffen werden. Die Hoffnung ist prima facie nicht unberechtigt. Mario Monti, neuer Premierminister Italiens, zerschlug als europäischer Wettbewerbskommissar das deutsche öffentliche Bankensystem (woraufhin es sich mit dem Ankauf amerikanischer Schrottpapiere vergeblich zu sanieren versuchte); nach dem Ende seiner Brüsseler Amtszeit verdiente er sein Geld als Berater unter anderem von Goldman Sachs, dem größten aller Schrottpapierproduzenten. Loukas Papadimos, jetzt Regierungschef in Griechenland, war Präsident der griechischen Zentralbank, als das Land sich mit gefälschten Statistiken den Zugang zur Währungsunion und damit unbegrenzten Kredit zu deutschen Zinssätzen sicherte. Hilfe bei der kreativen Bearbeitung der nationalen Kontenbücher kam damals übrigens von der europäischen Niederlassung von Goldman Sachs, deren Chef Mario Draghi war, der seit kurzem bekanntlich als Präsident der Europäischen Zentralbank fungiert. Die drei sollten gut miteinander auskommen.
Mittlerweile zweifelt niemand mehr, daß die demokratischen Staaten der kapitalistischen Welt nicht mehr nur einen Souverän haben, sondern zwei: unten ihr nationales Volk, oben die internationalen „Märkte“. „Globalisierung“, Finanzialisierung und europäische Integration schwächen ersteres und stärken letztere. Derzeit verschieben sich die Gewichte rapide nach oben. Wo früher Leuteversteher gesucht waren, sind heute Kapitalversteher gefragt, die das Vertrauen „der Märkte“ haben, weil sie die nötigen technischen Tricks beherrschen, um dafür sorgen zu können, daß die Investoren ihren Einsatz mit Zins und Zinseszins zurückbekommen. Da für die Staaten das Vertrauen der Märkte heute wichtiger ist als das der Wähler, wird die in Gang befindliche Machtübernahme der Kapitalversteher rechts wie links nicht als Problem angesehen, sondern als Lösung. In Nordeuropa erleichtern anekdotische Darstellungen der Bizarrerien des in Griechenland und Italien endemischen Klientelismus den Rückzug auf Gemeinplätze wie den, daß Demokratie nicht das Recht bedeuten könne, über die eigenen Verhältnisse zu leben und seine Schulden nicht zurückzuzahlen, zumal wenn es sich um „unser“ Geld handelt.
Doch so einfach ist die Sache nicht. Nicht um „unser“ Geld geht es, sondern um das der Banken, und nicht um Solidarität mit den Griechen, sondern mit den „Märkten“. Wie wir wissen, haben die letzteren den ersteren ihr Geld geradezu aufgedrängt, in der Erwartung, es wenn nicht von diesen, dann von den anderen Staaten der Euro-Zone zurückzubekommen, falls nötig nach dem Muster der „too big to fail“-Erpressung von 2008. Was „uns“ angeht, so haben unsere Regierungen solchen Erwartungen nicht widersprochen, obwohl es den riesigen Überwachungsapparaten der großen Nationalstaaten und internationalen Organisationen nicht entgangen sein kann, wie sich Länder wie Griechenland nach ihrer Aufnahme in die Euro-Zone mit billigen Krediten vollgesogen haben. In der Tat dürfte genau dies – die Sicherung der Geldversorgung der Südstaaten – einer der Zwecke der Euro-Übung gewesen sein: nämlich Ersatz zu schaffen für die zurückgehenden Subventionen aus den überbeanspruchten Regional- und Strukturfonds der EU in einem Zeitalter weltweiter Haushaltskonsolidierung. So machten nicht nur die Banken gute und, vermeintlich, sichere Geschäfte, sondern auch die Exportindustrien der Nordstaaten, die von der stetig erneuerten Kaufkraft ihrer südlichen Kundschaft profitierten und nicht mehr befürchten mußten, daß Länder wie Portugal, Spanien, Italien und Griechenland sich wie in der Vergangenheit durch periodische Abwertung ihrer Währungen vor der überlegenen Wettbewerbsfähigkeit der nordeuropäischen Volkswirtschaften schützen würden.
Es gehört zu den bewundernswertesten Unverschämtheiten der politischen PR-Geschichte, wie die politischen Eliten des Nordens heute überraschtes Staunen darüber heucheln, daß die Subventionen und Kredite, die in den letzten Jahrzehnten in die Länder des Mittelmeers geflossen sind, dort für Korruption und Spekulation statt für ehrliches Wachstum (wie in den USA und Großbritannien) verwendet wurden. Jeder nur halbwegs Eingeweihte wußte von den unmöglich riesigen Olivenernten in Griechenland, ebenso wie in den Nachkriegsjahrzehnten die intimen Verbindungen zwischen der italienischen Democrazia Cristiana und der Mafia, mit einer Figur wie Giulio Andreotti als Schaltzentrale eines stabilen Netzwerks zwischen Staatsapparat, Parteien, Armee, organisiertem Verbrechen und in- und ausländischen Geheimdiensten alles andere als ein Staatsgeheimnis waren. Was Griechenland angeht, so konnte sich jeder europäische Politiker über die unbeglichenen historischen Rechnungen seit dem Ende der Militärherrschaft im klaren sein: eine an Lateinamerika erinnernde Vermögensverteilung, eine nicht besteuerbare Oberschicht, und einen demokratischen Staat, dem nichts anderes übrig blieb, als sich die Ressourcen, die seine vermögenden Bürger längst ins Ausland geschafft hatten, von anderen Staaten oder von den „Märkten“ zuschießen zu lassen, um das alte Geld in Frieden altes Geld sein lassen zu können und sich mit dem neuen Geld die Unterstützung einer wachsenden, zunehmend an nördlichen Konsumnormen orientierten Mittelschicht zu erkaufen.
Daß niemand auf die Idee kam, hieran Anstoß zu nehmen, dürfte letzten Endes darauf zurückgehen, daß die einzige Alternative nach dem Ende der Militärherrschaft eine radikale Rekonstruktion der griechischen Gesellschaft gewesen wäre, möglicherweise nach dem Modell der damals eurokommunistisch regierten Emilia Romagna. So etwas aber wollte in Nordeuropa und den USA niemand riskieren: ebensowenig wie in Portugal nach der Nelkenrevolution, in Spanien nach dem Ende Francos und schon gar nicht im Italien der 1970er Jahre, wo die Kommunistische Partei unter Enrico Berlinguer auf eine Regierungsbeteiligung verzichtete, um keinen Putsch à la Chile zu provozieren. So nahm man in die EU auf, was an postfaschistischer Demokratie zu haben war, in der Hoffnung, daß sich mit dem davon erwarteten Wachstum der Wirtschaft auch die archaischen Sozial- und Klassenstrukturen auswachsen würden, die für Faschismus und Militärdiktaturen ebenso verantwortlich gewesen waren wie für das Steckenbleiben der kapitalistischen Modernisierung.