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Cover Lettre International 36, Haralampi G. Oroschakoff
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Inhaltsverzeichnis

LI 36, Frühjahr 1997

Kantilenen der Zeit

Zur Entidiotisierung des Ich und zur Entgreisung Europas

(...) Hans-Jürgen Heinrichs Herr Sloterdijk, der Titel Ihres Buches Selbstversuch hat für mich etwas von der Kälte eines Laboratoriums an sich, in dem Selbsttötung oder Selbstverstümmelung möglich sind. Es scheint damit ein Versuch auf Leben und Tod gemeint zu sein. Ich denke, daß Philosophieren für Sie in diese Richtung geht. Meine Frage: Hat das, was im Denken ausprobiert wird, sich im Leben zu bewähren? In den Schriften der Schriftstellerin Laure, der Lebensgefährtin von Georges Bataille, gibt es eine Erzählung, wo sie berichtet, daß sie sich als kleines Mädchen immer vor den Spiegel ihrer Mutter gesetzt hat. Dieser Spiegel bestand aus drei Teilen, die konnte man gegeneinander verdrehen und auf diese Weise hat sie ihren Körper zerlegt und wieder neu zusammengesetzt. Sie hat diese existentielle Dimension als die Vorbedingung ihres Denkens und Schreibens begriffen. Wenn man etwa die Arbeiten von Unica Zürn, von Hans Bellmer oder die Schriften von Lacan heranzieht, dort gibt es auch dieses Element der Selbstzerlegung, des verstümmelten und zerstückelten Körpers.

Peter Sloterdijk Wenn ich von Selbstversuch spreche, dann ist damit nicht ein vivisektorischer Ansatz gemeint, schon gar nicht diese psychotische Romantik der französischen Psychoanalyse; es ist ein anderer Bezugspunkt in der Geschichte der deutschen und europäischen Medizin impliziert, nämlich die homöopathische Bewegung, die auf Samuel Hahnemann zurückgeht; dieser erstaunliche Kopf hat als erster kurz vor 1800 - es ist jetzt genau 200 Jahre her - das Prinzip des effektiven Heilmittels formuliert. Er war der erste, der auf die moderne Ungeduld der Patienten, dieser bürgerlichen Gesundheits-Käuferschaft, mit einem adäquaten ärztlichen Angebot zukam, indem er pure einzelne Mittel ausgesondert hat, von denen er herausfinden wollte, wie sie nun eigentlich wirken. Seine Idee war, daß es notwendig ist, sich als Arzt mit allem zu infizieren, oder in Selbstdosierungen alles zu verabreichen, was man später auch Kranken zu verordnen gedenkt. Und zwar deswegen, weil die Wirkungen der Dosis beim Kranken und beim Gesunden sich spiegelbildlich zueinander verhalten. Da erscheint eine sehr tiefschürfende Semiotik des Arzneimittels, die zugleich auf eine Symptomenlehre der Krankheit abgebildet wird. Der große optimistische Gedanke der romantischen Medizin, zu der die Homöopathie wesentlich gehört, besteht ja darin, daß eine Art Isomorphie bestehe, eine Abbildbeziehung, eine Entsprechungsgleichheit zwischen dem, was die Krankheit als Phänomenganzheit ist und dem, was ein Arzneimittel am Gesunden hervorruft. Insofern gehört die Formulierung meines Buchtitels eher in die Tradition der romantischen Naturphilosophie, genauer der romantischen Gesundheits- und Krankheitsphilosophie; er fällt überdies natürlich auch in die nietzscheanische Tradition, wo gelegentlich auch mit homöopathischen Metaphern gespielt wird. Nietzsche sagt: "Ich impfe Euch mit dem Wahnsinn" und entwickelt von daher sehr gut die kritische Vorstellung einer Gesundheit zum Tode, einer pathologischen Gepanzertheit gegen die Infektionen der Zeitgenossenschaft.

(...)

In dem, was Sie gesagt haben, scheint mir ein Aspekt besonders wichtig, es ist dieses Infiziert-Sein. Ein Punkt, der in Ihrem Buch an zentraler Stelle steht - wo Sie die Idee der Autorschaft definieren, im Zusammenhang mit der Polemik um Botho Strauß. Sie sagen, daß es so etwas wie die Pflicht zu gefährlichem Denken gibt und daß der Schriftsteller nicht dazu da ist, Kompromisse und harmloses Denken anzubieten; Autoren, die zählen, denken wesenhaft gefährlich. Ihre eigene experimentelle Philosophie setzt doch mehr als nur ein anderes Verständnis von Homöopathie voraus und ist vielleicht besser in der modernen philosophischen Tradition des Denkens zu charakterisieren.

Natürlich besitzt die Homöopathie aufgrund ihres Zusammenhangs mit den reformistischen Lebensphilosophien, mit der bürgerlich romantischen und idealistischen Tradition, eine öffentliche Imago, die mit gefährlichem Denken und abgründigen Reflexionen wenig zu tun zu haben scheint. Aber im Hinblick auf Hahnemanns Person selbst sieht die aache ganz anders aus. Er war ein Virtuose der Selbstvergiftung. Neben dem, was er mit sich gemacht hat, ist alles, was die Modernen mit sich angestellt haben, harmlos. Er hat seinen Körper geprüft, getestet, belastet, aufs Spiel gesetzt in einer Weise, die aus ihm eine große Orgel der Krankheitszustände gemacht hat. Das hat eine Dämonie eigenen Ranges, die sich schwerlich vergleichen läßt mit den zum großen Teil geborgten Unheimlichkeiten, aus denen die Autoren der Moderne ihre Exzesse geschöpft haben. Von daher würde ich ein wenig warnen vor der Unterschätzung des geistigen Potentials, auch des Gefährdungspotentials der homöopathischen Medizin. Es ist ein sehr tiefer und sehr gefährlicher Ansatz, der hier hereinspielt.

Andererseits haben Sie recht, es geht mir gar nicht um Homöopathie als solche. "Selbstversuch" ist eine Metapher, die aus einer nur mittelbar medizinphilosophischen Sphäre stammt. Ich sehe mich bei dieser Formulierung sehr viel näher am nietzscheschen Pol, und ich wollte versuchen, die Bedingungen von Zeitgenossenschaft mit diesem Ausdruck namhaft zu machen. Man muß an dem Terrorzusammenhang der eigenen Epoche teilhaben oder teilgehabt haben, um als zeitgenössischer Intellektueller etwas zu sagen zu haben. Man redet in gewisser Weise mit einem Sprechauftrag des Schreckens oder der ekstatischen Potentiale der eigenen Zeit. Wir haben keine anderen Mandate, wir sind als Schriftsteller von heute nicht durch einen König und nicht durch einen Gott in unseren Beruf eingesetzt. Wir sind nicht die Briefträger des Absoluten, sondern bloße Menschen, die die Schreckschüsse der eigenen Epoche im Ohr haben. Nun nicht im Sinne des Scheinschreckens, sondern des erweckenden Schreckens. Und mit dem Mandat dieser Erschrockenheit tritt der Schriftsteller von heute vor sein Publikum. Es sei denn, er wäre ein Conferencier, das heißt also jemand, der einer schon erschreckten Gesellschaft wieder den Schrecken nehmen möchte, ohne ihn interpretiert und fruchtbar gemacht zu haben. Das entspricht eher den Aufgaben einer theologischen oder priesterlichen Intelligenz, mit der die philosophische oder die analytische, auch die essayistische zunächst nichts gemein haben kann.

Wo Sie jetzt die Religion ins Spiel gebracht haben, würde ich gerne auf einen anderen Repräsentanten dieses Jahrhunderts zu sprechen kommen: auf Bhagwan oder Osho, den Sie für eine der größten Figuren des Jahrhunderts halten. Sie nennen ihn einen "Wittgenstein" der Religion und führen in wenigen Strichen sehr markant aus, daß Religion eigentlich nur noch durch aktive Religionsspiele untersuchbar wird; Sie zeigen, auf welche Weise Osho so etwas wie experimentelle Religionsspiele ausgeübt hat. Sie erwähnen in diesem Zusammenhangaauch einen anderen "Conferencier", Jacques Lacan, und Sie spielen die beiden ein wenig gegeneinander aus, so daß Sie Osho am Ende für den amüsanteren der beiden halten.

Auf der einen Seite gibt es bei Ihnen jenes etwas leichtfüßige Umgehen mit diesen schweren Figuren, und auf der anderen Seite verbinden Sie ein Anliegen damit, nämlich die entscheidenden Bewegungen und Strömungen dieses Jahrhunderts in den Griff zu bekommen und eine Möglichkeit aufzuzeigen, wie es mit dem Denken weitergehen kann.

In diesem Zusammenhang erwähnen Sie, daß Sie eigentlich einen Roman oder eine Erzählung hätten schreiben sollen. Denken und Schreiben: Wie ist beides für Sie miteinander verknüpft? Ist das Denken, das Darüber-Schreiben, das Verfassen eines Textes primär eine Ich-Leistung? Oder empfinden Sie sich eher als ein Medium, durch das hindurch etwas spricht?

Ich bin sehr froh, daß Sie diese Namen erwähnen und damit einen geistigen Raum bezeichnen, der für meine Arbeit von besonderer Bedeutsamkeit gewesen ist. Es wäre übrigens wichtig, wenn ich ihn in seiner vollständigen Abmessung kenntlich machen wollte, auch Namen wie Adorno und solche aus der psychoanalytischen Tradition und anderen Disziplinen hinzuzufügen, und darüber hinaus auch die phänomenologische Tradition. Ich hatte in meinen jungen Jahren das Glück, in der Münchener Schule der Phänomenologie durch einen brillanten Lehrer sozialisiert zu werden. Denn während ich an die Frankfurter Schule nur als Autodidakt, das heißt als Leser oder Fernstudent, wenn man so will, angeschlossen war, habe ich einige Jahre lang Wissen aus erster Hand gewissermaßen aufgenommen, über Bernhard Waldenfels, der direkt von Merleau-Ponty herkam. Es gibt da also einen ziemlich weiten Horizont, innerhalb dessen Gestalten wie Osho oder Bhagwan Shree Rajneesh, wie er sich damals nannte, und Lacan und viele andere aus der Szene der psychotherapeutischen Avantgarde unseres Jahrhunderts eine wichtige Rolle für mich gespielt haben.

Es gibt ein sehr tiefsitzendes Darstellungsproblem in bezug auf all diese Dinge. Es ist fast unmöglich, seine eigene Erlebniswelt nicht zu karikieren und das Erlebte und Empfundene nicht zu unterbieten, wenn man die üblichen Formen heranzieht, die für die Mitteilung psychotherapeutischer oder spiritueller Erfahrungen zur Verfügung stehen. Und von daher glaube ich in der Tat, daß es gut gewesen wäre, in hinreichender zeitlicher Nähe zu diesen Vorgängen auch mit den Mitteln des modernen Romans an diese Erfahrungswelt heranzugehen - aber das hätte, wie gesagt, schon um 1980 geschehen müssen ... Heute bin ich der Meinung, daß es dafür zu spät ist, weil der Wind gedreht hat und die Worte, die damals zu formulieren gewesen wären, heute nicht mehr zu iinden sind, die fliegen mir nicht mehr zu, der Zeitgeist ist jetzt ein epochal anderer.

Was das philosophische Motiv Ihrer Frage anbelangt, so glaube ich, daß Sie völlig recht haben. Ich verstehe mich als einen Menschen, der in der Medienwelt dazu verurteilt ist, ein Medium zweiten Grades zu sein. Man muß nur begreifen, daß der Begriff des Mediums zwei grundsätzlich verschiedene Bedeutungen hat, die übrigens umgangssprachlich noch leicht zu vergegenwärtigen sind. Es gibt die personalen Medien, also Menschen, die Medien sind, und es gibt Medien, die als Apparate die Sendungen anderer Leute weitertragen. Wenn man diese beiden Medienbegriffe enger zusammenrückt, kommt man natürlich zu einer Art von Apparatverdacht gegen sich selbst, wenn man ein menschliches Medium ist. Ich würde mich am liebsten mit einem Klavier vergleichen, das plötzlich von selber zu spielen anfängt, auf dem sozusagen telekinetische Pianisten sich betätigen. Ein automatisches Klavier des Zeitgeistes. Ich nehme in der Tat Stimmungen leicht auf.

Auf der anderen Seite bin ich auch immer bereit gewesen, den Preis für relevante Informationen zu entrichten. Als ich nach Indien gefahren bin, da war ich schon ein promovierter Akademiker der westlichen Hemisphäre, aber ich wußte, Osho kommt nicht hierher, ich muß zu ihm. Die Frage, ob 6.000 Kilometer Anreise für ein Studium nicht zu weit sind, hat sich für mich nicht gestellt, weil ich immer davon überzeugt war, daß Menschen sich dorthin bewegen müssen, wo das nächste Kapitel ihres Lebens geschrieben wird. Das ist doch der Sinn von Beweglichkeit. Diese Reise war für mich eine lebenswichtige: von den Metamorphosen dieser Impulse lebe ich bis heute, denn sie sind längst selbständig geworden und können nicht mehr im Namen des Impulsgebers repräsentiert werden.

Es ist nicht so, daß ich wie ein Christ oder wie ein Missionar oder wie einer, der im Namen seines Senders predigen muß, durch die Welt laufe. Aber ich habe tatsächlich eine Art von Einstrahlung aufgenommen, habe eine Ur-Investition von Erfahrungen erlebt, die von anderer Seite kamen und die in mir eine Art Dankbarkeit, aber auch ein aktives Echo, hervorgerufen haben, und ohne beides wäre meine Schriftstellerei nicht zu denken.

Einstrahlung und Echofunktion. Das erinnert mich an ein wunderbares Wort des Reisenden und Ethnologen Victor Ségalen, der von dem "Echoraum des Verlangens" spricht. Lévi-Strauss äußert sich einmal dahingehend, daß er das Tor sei, durch das die Mythen hindurchgehen. Man ist eigentlich - und das findet man bei fast allen großen Schriftstellern und Philosophen - mehr ein Kanal, durch den, wenn er offen ist, wenn er sauberiist, die Gedanken hindurchgehen, als ein Produzent der Gedanken. Wittgenstein sagte: Man sollte Abschied nehmen von einer Formulierung wie "ich denke" und statt dessen sagen, "dies ist ein Gedanke", und man tritt zu diesem Gedanken in Beziehung. Man könnte sogar pathetisch formulieren, man erfährt die Gnade oder die Möglichkeit, diesen oder jenen Gedanken zu ergreifen. In einem Roman von Yoko Tawada gibt es eine Formulierung, die lautet: ,,Man lehrte mich in Deutschland, wenn man von sich selbst spricht, Ich zu sagen.' Dieses Ich ist wohl eine kulturelle Konvention, und ich lese Ihr Buch als einen Versuch, von diesem Ich Abschied zu nehmen. Es bildet sich in Ihrem Gespräch mit Oliveira ja sehr schnell ein Raum heraus, in dem Formeln auftauchen wie "nomadischer Zombie in der Ego-Gesellschaft"; oder: um den Individualismus zu charakterisieren, sprechen Sie vom aktuellen Design-Individualismus, der noch zum überlieferten Roman-Individualismus hinzugekommen ist. Das Ich also steht in Frage, das ist gewiß die Substanz, die von Ihrer langjährigen Auseinandersetzung mit dem sogenannten spirituellen Denken bleiben wird.

Beiläufig notieren Sie, Lacan sei für Sie nicht mehr so faszinierend. Das wundert mich, weil ich denke, daß diese Art der Verabschiedung eines einflußreichen Menschen äußerlich ist. Ich schätze das so ein, daß in den Positionen von Lacan oder Osho Gedanken, die abrufbereit sind, zur Sprache kommen. Die Namen erscheinen mir völlig unwichtig. Entscheidend ist ja, was durch diese Personen an Möglichkeiten des Denkens erprobt wird, um uns selbst introspektiv neu zu erfahren, was also gleichsam durch sie in die Welt oder zur Welt gebracht worden ist. Es ist also vollkommen gleichgültig ist, ob man sich jetzt noch an die Personen gebunden fühlt oder nicht. Die Möglichkeiten, die Lacan eröffnet hat, das Ich neu zu denken, schon allein durch seinen Begriff des Spiegelstadiums oder durch andere Konzepte, die sind geblieben. Ihr eigenes Denken speist sich doch aus solchen Konzeptionen, und so markanten Formulierungen wie "buddhistische Endposition" oder "möbliertes Nichts" oder "Nullpunkt-Situation" sind davon mit angeregt, selbst wenn sie in der Personalfunktion nicht mehr da sind.

Ich wundere mich ein bißchen, warum die Aussagen über Lacan in meinem Text so schroff wirken. Sie sind überhaupt nicht so gemeint. Die einzige Pointe besteht darin, daß ich meinen intellektuellen Freunden signalisieren wollte, daß sie unrecht haben, immer nur den einen zu zitieren und den anderen zu verschweigen. Ich glaube, daß die beiden eine sehr ähnliche Arbeit gemacht haben, und daß Osho - als der asiatische Charakter in diesem Tandem - in mancher Hinsicht noch viel weitergegangen ist als der berühmte Europäer. Kurzum, ich sehe sie eigentlich als zwei Figuren, die strukturell zusammenzunehmen sind, und wenn ich den einen auf Kosten des anderen herausgestrichen habe, dann war dies vor allem ein Bekenntnis zu meiner persönlichen Dankbarkeitssituation, die gegenüber Osho oder Bhagwan Shree Rajneesh eine hundertfach intensivere und größere ist als gegenüber Lacan, vor dem ich immer nur ein Leser war und immer ein Leser, der das Glück, lesen zu dürfen, nie besonders empfunden hat, weil er die abstoßenden Komponenten von Lacans Werk und Stil von Anfang an überdeutlich bemerkt hat. Ich werde mich jedoch in meinem neuen Buch ausführlich mit seiner Theorie des Spiegelstadiums auseinandersetzen; ich werde einen Vorschlag zu einer Neuformulierung dieses Theorems vortragen, die darauf hinausläuft, daß wir dem Kult des Imaginären, dem Kult der Imago, der aus der Wiener Psychoanalyse überliefert war, eine gewisse Einschränkung entgegensetzen sollten und statt dessen psychoakustische Grundverhältnisse etwas ausführlicher zu reflektieren haben. Ich mache also den Vorschlag, ein Sirenenstadium an die Stelle des Spiegelstadiums zu setzen, um die Wahrheitsmomente der Lacanschen Theorie in einer Sprache zu reformulieren, in der sie viel flüssiger und triftiger werden, als sie in der jetzigen Theoriegestalt erscheinen. Das Theorem vom Spiegelstadium ist einerseits der berühmteste Punkt des Lacanschen Oeuvres, aber zugleich der schwächste, und man kann und soll den großartigen Impuls, den er enthält, in einem anderen Kontext rettend umformulieren. Daraus geht hervor, daß es sich hier ganz und gar nicht um eine antithetische oder feindselige Beziehung handelt, sondern um ein Zwiegespräch mit einem großen Geist, in dessen Problemraum ich auch weiter stehe. Ich bin natürlich Gast in dem Feld, in dem Figuren wie Lacan operiert haben, so wie sie ihrerseits sich als Gäste ihrer Inspiratoren gewußt haben. Das ist bei einem spirituellen Meister wie Rajneesh viel einfacher, weil er in einer Tradition der Ego-Kritik steht, die seit weit über zweitausend Jahren ununterbrochen fortwirkt; man muß hier nur an die buddhistische Anatta-Theorie denken, oder an den Vedanta. Die Gegenstücke hierzu im europäischen Raum zu finden, fällt schwerer, gleichwohl gibt es sie, namentlich in der platonischen Linie. Ich habe in den letzten Jahren sehr viel über Philosophie der Renaissance gearbeitet und bin in diesem Bereich sowohl fündig als auch - wenn man so etwas überhaupt sagen kann - theoretisch glücklich geworden, insofern als es mir dort gelungen ist, die Quellen zu entdecken, die man braucht, um den Abschied von der europäischen Bewußtseinsphilosophie, von der Theorie des Cogito und der Bewußtseinsimmanenz, in wohlgeordneten Formen zu vollziehen, nicht nur clownesk, nicht nur in einer karnevalistischen oder sozusagen dionysisch-destruktiven Form, sondern in einer gut organisierten, man könnte fast sagen einer weisen Besinnung auf andere Anfänge modernen Denkens. Wir müssen wahrscheinlich unsere Philosophiegeschichtsbücher demnächst neu schreiben, werden lernen müssen, Giordano Bruno höher zu achten als René Descartes, und überhaupt das Schatzhaus der Renaissancephilosophie für unsere eigene Genealogie neu zu erschließen.

Ich stimme mit Ihnen überein, daß Lacan im Verhältnis zu Osho überbewertet wird, andererseits könnte man Lacan auch ganz anders lesen, etwa von seiner Formulierung her, daß das Ich die Geisteskrankheit des Westens ist. Wenn man das ernst nimmt und auch sein ganzes Denken als eines begreift, das im Grunde genommen auf den Buddhismus hinaus will, erweisen sich diese frühen Schriften in der Tat nicht als in der Struktur wichtig, aber sie sind unabdingbar für die Entwicklung der Gedanken. Das Ich mußte erst einmal in seiner Selbstherrlichkeit zerstört werden, um einen neuen Zugang zu einer nicht Ich-bezogenen Instanz zu finden. All das führt uns dazu, von unserer Ich-Zentriertheit im westlichen Denken Abschied zu nehmen, andere Instanzen stark zu machen. (...) So wird zum Beispiel in Eros, Kosmos, Logos, dem neuen Buch von Ken Wilber -, für mich der kreativste und wichtigste Denker dieses sogenannten spirituellen Denkens - noch einmal der Begriff des Geistes der Weltseele und ein sehr differenzierter Holismus exponiert, also nicht alles mit allem zu verbinden, nicht in allem die Einheit sehen zu wollen, sondern die Einheit als eine in sich sehr stark gebrochene und vielfältig strukturierte Einheit zu sehen. Ich möchte gerne, daß Sie ihren Vorschlag präzisieren, nämlich Philosophie an das Abenteuer der Geschichtlichkeit und der politischen wie technischen Revolutionen zu binden und so etwas wie eine nicht-marxistische Revolutionstheorie zu erarbeiten. Ich nehme damit Ihre These auf, daß Revolution weiterhin das Hauptthema des wirklichen Denkens ist. Sie reden auch von einem Weltenumbruch. Die Frage bleibt, ist Revolution in diesem Sinne überhaupt noch das, was man gemeinhin unter Revolution versteht? Sie sprechen ja auch von der seelischen Revolution? Wie steht es dann mit den politischen, kulturellen, ökologischen Revolutionen? Sind dies nur Partialansichten eines umfassenderen revolutionären Geschehens?

 

Zunächst einmal geht es mir darum, daran zu erinnern, daß der Begriff der Revolution in seiner modernen politischen Bestimmung viel zu kurzatmig gedacht wird. Wir verstehen unter der Revolution seit der sogenannten Französischen im 18. Jahrhundert oder der "glorreichen Englischen" im 17. einen Umsturz der Machtverhältnisse in der Gesellschaft zugunsten jener Mittelschicht, die sich zur Machtübernahme berufen fühlt. Also unser Revolutionsbegriff zielt auf die Ablösung eines überkommenen, unhaltbar gewordenen, auch durch Mißbrauch desavouierten Machtverhältnisses und die Einrichtung einer neuen Gesellschaftsform durch die nachrückende, die revolutionäre Klasse. Die revolutionäre Klasse ist dann jeweils die, die sich im Aufstieg als nächste etabliert. Das war in unserer offiziellen Revolutionsgrammatik automatisch so vorgesehen. Deswegen haben ja auch die Linken des 19. Jahrhunderts, die sozialdemokratische Arbeiterbewegung auf der einen Seite und die Kommunisten auf der anderen Seite und an dritter Stelle auch der Anarchismus - also diese Dreifaltigkeit von Revolutionspotentialen, die über das bürgerliche Modell hinausdrängten -, jeweils ihren eigenen Anspruch darauf angemeldet, die nächste revolutionsfähige Gruppe zu sein. Man könnte auf den Gedanken kommen, daß eigentlich alle Klassen der sozialen Welt einmal ihre Revolution gemacht haben müssen, bis schließlich jede Schicht oder jeder "Stand" ihre Revolution gehabt hätten, bis hin an den Fuß der Gesellschaft. Mit anderen Worten: wenn alle sich eingebracht haben in das große Gespräch, wenn alle gut gekämpft haben, wenn alle sich im erfolgreichen Kampf konstituiert haben, wenn alle die Schönheit, ein kompetentes Selbst zu sein und ein politisches Subjekt zu werden, erfahren haben, wenn somit alle Klassen die Passion des Selbst-Seins in der politischen Arena am eigenen Leibe erfahren haben, dann erst wäre der Zyklus der Revolutionen wirklich zu Ende. Genau dies war im übrigen die Meinung von Eugen Rosenstock-Huessy, den ich für den wichtigsten Revolutionstheoretiker überhaupt halte.

Worauf ich hinaus möchte, geht allerdings noch etwas weiter. In dem Revolutionsbegriff des 20. Jahrhunderts, der stark politologisch verengt war, hat immer auch eine reiche Obertonreihe mitgeschwungen, die auf die religiöse Tradition zurückverweist; denn wenn wir näher hinschauen, entdecken wir sofort, daß die Grammatik des Begriffs Revolution über weite Strecken hin Gemeinsamkeiten ausbildet mit dem Begriff der Konversion, der ein religiöser Terminus technicus war, insbesondere in der Bestimmung, die Augustinus dem Begriff gegeben hat. In dieser Sicht ist Revolution ein ontologischer Terminus, und er paßt nicht in die Grammatik einer Handlungstheorie. Revolution ist nicht das, was Menschen machen, so wie die Moderne glaubt, sondern Revolution ist wesentlich das, was mit Menschen geschieht. Heidegge hat das in seinem Begriff der Kehre beschworen, und daher hat er unter keinen Umständen mehr von Revolution sprechen wollen, sondern eben von einer großen Wende oder Kehre im Geschick des Seins. Das wiederum ist die Modernisierung und Ontologisierung des augustinischen Konversions-Gedankens.

Ursprünglich ist das Revolutionsgeschehen durch die Menschwerdung Gottes angestoßen worden. Die Revolution Gottes hat freilich längst stattgefunden, und doch ist sie es, die am längsten Zeit braucht. Die Revolution Gottes ist die vergessene Revolution, die sich auf Erden nicht recht bewähren will, oder falls sie sich bewährt, dann auf eine merkwürdig verzögerte Art und Weise. Immerhin datieren wir uns noch heute in einem Kalender nach Christi Geburt, auch wenn wir Atheisten sind und Gott für uns als revolutionäres Subjekt nicht in Frage kommt.

Was das Schicksal der westlichen Welt angeht, so wäre vor diesem Hintergrund zu sagen: Die Menschheitsgeschichte ist die Geschichte der Konterrevolution des Menschen gegen die Menschwerdung Gottes. Im Blick auf den Osten könnte es analog heißen: Geschichte ist die Konterrevolution der Menschen gegen die Revolution des Nichts, die der Buddhismus vollzogen hat. Ich neige dazu, den Revolutionsbegriff so weit zu ziehen, nicht zuletzt deswegen, weil ich durch meine religionsgeschichtlichen Studien dazu verführt worden bin, mit einem sehr weiten Gegenwartsbegriff zu operieren. Ich empfinde Autoren, die erst zweitausend Jahre alt sind, als Zeitgenossen - und Zeitgenosse ist, wer wie wir selbst noch keine Zeit hatte, eine Autorität zu werden. Das ist vielleicht eine berufliche Deformation des Zeitbewußtseins, ich kann mich aber nur dazu bekennen.

Wenn man sich also durch religionsgeschichtliches und auch durch ethnologisches Denken und andere kulturhistorische Disziplinen an ein Denken in relativ großen Zeiträumen gewöhnt hat, dann liegt es auf der Hand, daß ein Begriff von Revolution von vorneherein viel zu kurzatmig erscheinen muß, der solche Umbrüche in der Ökologie des Geistes, wie es das Aufkommen der Hochreligionen gewesen ist, nicht berücksichtigt. Daher mache ich in Selbstversuch den Vorschlag, eine veränderte Revolutionsgeschichtsschreibung zu beginnen, und mit der metakosmischen Revolution der Denkungsart in der Achsenzeit zu beginnen. Die Gnosis-Studien, die ich mich Thomas Macho 1991 veröffentlicht habe, gehören in diesen Kontext. Was nun die Aktualität angeht: Man müßte sich darüber verständigen, auf welche Art und Weise in den Illusionsströmen des 19. und 20. Jahrhunderts völlig heterogene Revolutionsbegriffe zusammengebaut worden sind, um dieses Syndrom eines mehr oder weniger verblendeten Millenarismus zu erzeugen, das wir als das Doppelmonstrum des Sowjetimperiums und der faschistischen Diktatur zu Gesicht bekommen haben.

Würden Sie sagen, daß eine Revolution noch auf einen Horizont hin geschehen muß, auf etwas, was jenseits dessen liegt, was gegenwärtig ist, also gebunden ist an eine Vision, an das Ideal einer anderen Menschheit, einer anderen Idee von Vernunft auch? Sie sprechen in Ihrem Buch Selbstversuch davon, daß sich die Revolution auch als Wiederholung der Geburt auf einer anderen Bühne vollziehen müsse. Sie sprechen von einem Seelen-Umschwung, durch den die Menschen sich entirren. Ich habe in dem schon erwähnten Buch von Ken Wilber sehr ähnliche Begriffe wiedergefunden. Da ist die Rede von einer Überseele und Weltseele; er spricht von einer Transrationalität, die sich im Morgen durchsetzen müsse, von einer Essentia Visionis oder einer transrationalen Wahrnehmung. Ich habe nun den Eindruck, daß an die Stelle eines jeden Pathos bei Ihnen etwas anderes tritt, eben eine ironische Gebrochenheit oder ein gewisser Zynismus, obwohl ich den nicht durchgängig bei Ihnen entdecken kann. Es scheint mir eher der Versuch zu sein, sehr nahe an den Sachen, an den Gedanken dranzubleiben. Gibt es so etwas wie ein verdecktes Pathos bei Ihnen, eine verdeckte Vision, eine Dimension, die Sie vielleicht, aus welchen Gründen auch immer, nicht so exponieren mögen? Also auch einen Idealismus, der sich dann in diesem Revolutionsdenken niederschlägt, ohne daß es für den anderen so deutlich sichtbar ist?

 

Dazu möchte ich zwei Dinge sagen. Das eine: Ich habe ein Pathos, aber ich gehe damit sehr sparsam um, es lassen sich in jedem Buch ein paar Stellen finden, wo der Ton steigt, wo es eine lyrische Vibration gibt. Ich habe einen Sinn für die geschriebene Kantilene, und in den meisten meiner Bücher ist eine kleine Heldentenorstelle vorgesehen. Aber ich gehe damit vorsichtig um, und ich habe schon mit den wenigen Lyrismen, die ich mir erlaubt habe, schlechte Erfahrungen in der Öffentlichkeit gemacht, weil es in unserem Land einen intellektuellen Habitus gibt, sich auf solche Stellen zu stürzen und den Autor für blamiert zu halten. Als würde man, wenn man dergleichen zitiert, den Autor widerlegen, weil man ihn in einem Augenblick seiner seelischen Nacktheit überrascht hätte, ausgeliefert an Erregungen oder anhhohe Töne. Aber damit lebe ich gerne, weil ich weiß, wovon ich spreche, jedoch immer zu Bedingungen, die literarisch überschaubar bleiben. Also ich bin nicht ganz auf der Seite von Ernst Bloch in dieser Angelegenheit, der als Pathosmeister der deutschen Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg nach wie vor allein steht. Für mich sind hohe Töne der philosophischen Prosa ein notwendiges Kunstmittel, um Existenz in größten Kontexten sprachlich zu markieren; sie haben mit messianischen Anmaßungen und Aufwallungen nichts zu tun.

Was nun aber die visionäre Komponente der philosophischen Arbeit anbelangt, so steht diese auf einem ganz anderen Blatt. Ich bin kein Idealist, aber ich bin auch kein Zyniker. Beiden Fallen entgehe ich durch eine sehr einfache Überlegung. Ich empfinde mich als jemand, der wehrlos ist gegen große Zusammenhänge, und dies genügt, um Idealismus vollständig zu ersetzen. Mir scheint, daß Idealisten, Neoplatoniker oder Denker dieses Typs allesamt von der Illusion befallen sind, daß sie zu den Gedanken, die zu denken sind, selber noch einen Zusatz an eigenem Pathos hinzufügen müßten. Diese Illusion, oder besser diese Vornehmtuerei des Denkens teile ich überhaupt nicht. Ich glaube, daß Menschen sowieso Wesen sind, die, sobald sie zu denken anfangen, eine Art Geiselnahme durch große Zusammenhänge erleiden. Sobald wir unser Gehirn öffnen, erleben wir, daß wir Geiseln von Inspirationen sind, aber auch Geiseln von Problemen, die uns irgendwohin verschleppen.

Die Frage ist, wie gehen wir mit unseren Entführern um. Ich finde, es wäre eine Überforderung, wenn man seine Entführer auch noch lieben soll. Wenn ich mich schon darauf einlasse, politische Philosophie für die post-imperiale Welt zu machen oder planetarisches Denken zu versuchen, dann fühle ich mich ohnedies wie von Aliens entführt, und es wäre zuviel verlangt, so zu tun, als wäre man darüber erfreut. Philosophie heute ist die Kunst, unmittelbar zum Globus und seinen Bewohnern zu sein. Das ist eine athletische Aufgabe, die ein einigermaßen belastbares Gemüt voraussetzt. Ich glaube nicht, daß es notwendig ist, noch zusätzlich visionär zu sein oder zusätzlich noch Idealismus als eine Art von schöngeistigem Puderzucker über unseren Problemberg zu streuen. Verfügbarkeit für große Fragen ist immer schon idealistisch genug. In meinen Augen genügt es vollauf, wenn ein Mensch sich in der Wehrlosigkeit gegenüber den großen Themen einigermaßen anständig verhält, also wenn er seinen Beitrag zur Entidiotisierung des eigenen Ichs und seiner Umwelt leistet. Ich glaube nicht, daß es notwendig ist, noch zusätzlich wie ein idealistischer Priester eine Vision zu entwickeln. Das, worauf Sie mit Ihrer Frage hinaus möchten, läßt sich jedoch noch auf eine andere Weise beantworten. Was heute die Probleme, die uns entführen und mitnehmen, angeht, so sind sie so großräumig, so kompliziert, so zudringlich, so beängstigend, daß ich jeden der Träumerei verdächtige, der so tut, als habe er diese Probleme gern. Es geht im Augenblick doch darum, daß Menschen aus ihrer kleinräumigen Phantasiestruktur, aus ihrer regionalen und nationalen Bewußtseinsverfassung herausgebrochen werden - ob sie wollen oder nicht. Die Seelenformen des Bürgertums und Kleinbürgertums in der Ersten Welt werden aktuell umformatiert, um es mit einem Ausdruck aus der Computersprache zu sagen. Wir werden umformatiert von einem humanistisch-nationalistischen Welthorizont auf einen ökologisch-globalen. Oder zumindest auf einen, der sich einläßt auf die Synchronwelt des Kapitals, des globalen Waren- und Informationenverkehrs, also auf das, was man die Weltwirtschaft nennt.

Nicht weil wir Idealisten wären, sondern weil wir Realisten werden wollen, suchen wir nach Formen von Subjektivität, die in dieser aktuellen Globalwelt verkehrsfähig bleiben. Genauso wie Platon mit der Gründung der Akademie einen Menschentypus evoziert und erzogen hat, der verkehrsfähig wurde in der Großwelt der sich abzeichnenden großhellenischen Kultur, die dann eine Generation später schon den Aufstieg des Mazedonischen Weltreiches gesehen hat, das seinerseits ins Römische Imperium inkorporiert wurde. Damals wurden Seelenformen herangezogen, die im neuen imperialen Horizont verkehrsfähig werden sollten. Und wir erleben heute, daß die Wirklichkeit von uns, wenn wir uns nicht mutwillig bornieren, eben wieder eine solche Umformatierung, eine Größerformatierung abverlangt; eine Verkehrsfähigkeit mit allen koexistierenden Kräften in einem jetzt globalisierten Großraum. Darin steckt schon ein so großes völlig pragmatisches Programm, daß ich für zusätzliche Visionen keine Verwendung sehe.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.