LI 37, Sommer 1997
Ideologie des Rückzugs
Wie die westliche Demokratien vor der „Kultur“ kapitulierenElementardaten
Textauszug
Die Auslieferung Hongkongs an die VR China zum 1. Juli 1997 ist ein exemplarisches Beispiel dafür, daß die Rechte des Individuums nichts mehr zählen, wenn die "Kultur" zum übergeordneten Kriterium seiner Identität erklärt wird. Den Bürgern Hongkongs wurde von den Briten nicht das Recht eingeräumt, über ihre Zukunft abzustimmen - weder darüber, ob sie überhaupt der VR China angeschlossen werden wollen, noch, wenn ja, zu welchen Konditionen. Ihre Übergabe an die Volksrepublik wird auf der Basis ihrer ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit zu einer vermeintlich homogenen chinesischen Nation vollzogen, die auch dann noch als maßgebliches politisches Kriterium gelten soll, wenn dies bedeutet, Menschen gegen ihren Willen der Verfügungsgewalt eines autoritären Regimes zu unterstellen.
In Hongkong tritt ein historisches Phänomen in dieser Form zum erstenmal auf: Ein Bündnis von kommunistischen Diktatoren und kapitalistischen Finanzmagnaten unter der Fahne des kulturellen Nationalismus. Die reiche Führungsschicht Hongkongs ist gegenüber dem kommunistischen Regime in Peking nicht nur kooperationswillig, sie hat den Anschluß des Stadtstaates sogar mit Begeisterung vorangetrieben. Denn sie erwartet sich davon nicht nur sagenhafte Reichtümer bei der Industrialisierung und wirtschaftlichen Entwicklung des chinesischen Festlandes, sondern auch die Errichtung einer gigantischen wirtschaftlichen Macht der chinesischen "Rasse", die sie für die höchstentwickelte und für eine allen anderen Völkern überlegene Menschheitselite betrachtet. Daß diese Pläne unter den Bedingungen einer politischen Despotie verwirklicht werden, stört die Clanführer der reichen Familien in Hongkong nicht nur nicht, sie halten die Despotie selbstredend für die den "Werten der chinesischen Kultur" angemessene Regierungsform. Für den Fall, daß ihr Jahrhundertprojekt schiefgehen sollte, haben sie sich, da ihre Geschäfte ja in keinem Fall leiden sollen, allerdings längst westliche - bevorzugt amerikanische - Pässe besorgt. Dableiben und die angerührte Suppe auslöffeln werden in diesem Falle jene müssen, die über keine ausreichenden Geldmittel verfügen, um sich in fremde Staatsangehörigkeiten einzukaufen.
Daß ausgerechnet ein kommunistisches Regime, das einen jahrzehntelangen Kampf gegen "reaktionäre" traditionelle Werte geführt hat, und die neureichen Emporkömmlinge des Hongkong-Kapitalismus das Kulturerbe Chinas für sich reklamieren, wird im Westen nicht als anstößig empfunden. Hier hat sich nämlich die unbezweifelbare Überzeugung durchgesetzt, daß jeder Mensch vor allem eine "Kultur" hat und/ oder haben will, und daß eine solche "Kultur" zu haben, für sich genommen ein unverletzliches Menschenrecht sei, vor dem man sich unwillkürlich zu verneigen habe. Wer die Eigenart "seiner Kultur" für sich reklamiert, stößt im Westen daher auf größeres Verständnis als derjenige, der dieselben individuellen und politischen Grundrechte verlangt, die bei uns als selbstverständlich gelten. Von westlichen Politikern weitgehend ungehört weist der demokratische Oppositionspolitiker Martin Lee (im Spiegel vom 26.5.97) darauf hin, daß die kollaborationsbereiten Nationalisten nicht die Stimmung der Bevölkerung Hongkongs repräsentieren. "Von Vertrauen in die Kommunisten kann keine Rede sein. Die Bevölkerung Hongkongs schaut angespannt in die Zukunft, Hilflosigkeit ist das vorherrschende, aber oft überspielte Gefühl." Daß Hongkong freudig der Wiedervereinigung mit der Heimat entgegenfiebere, ist ebenso eine Propagandalüge wie die Behauptung, für "Asiaten" seien politische Individualrechte kulturbedingt zweitrangig - selbst wenn sie seit vielen Jahrzehnten an die Standards westlicher Zivilisation gewöhnt sind.
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Obwohl der Westen genau weiß, daß die Zukunft Hongkongs ausschließlich von der Willkür der politischen Führung in Peking abhängt, tröstet er sich mit der Vorstellung, die VR China werde aus ökonomischem Interesse nichts unternehmen, was die prekäre Konstruktion eines selbständigen Wirtschaftsgebiets mit unabhängiger Verwaltung gefährden könnte. So weit wie möglich verdrängt wurden daher die nüchternen Tatsachen, die Martin Lee im Spiegel so zusammenfaßt: "Peking drängt in Hongkong alle bürgerlichen Freiheiten zurück und will repressive Gesetze einführen. Die Politik der KP-Führung läßt sich mit zwei Worten beschreiben: totale Kontrolle."
Eine geradezu abergläubische Zuversicht in die heilsbringende Wirkung wirtschaftlicher Zusammenarbeit läßt westliche Politiker und Kommentatoren jedoch an der These festhalten, die ökonomische Entwicklung Chinas müsse mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auch seine Demokratisierung nach sich ziehen. Autoritäre Regimes wie die in Singapur oder Indonesien beweisen, daß solcher ökonomistischer Optimismus auf Wunschdenken gründet. Diese Regimes demonstrieren, daß wirtschaftliche Prosperität mit der Unterdrückung des Individuums sehr gut zusammengehen kann. Gerechtfertigt wird dieses Regiment mit dem Verweis auf eigenständige "asiatische Werte". Aber worin sollen diese vielbeschworenen "Werte" eigentlich bestehen? Einer der Hauptpropagandisten des "asiatischen Wegs", der langjährige Premierminister von Singapur, Lee Kuan Yew, nennt in einem Zeit-Interview (Zeit-Punkte 4/1995) außer der Aufrechterhaltung der Prügel- und Todesstrafe vor allem den hohen Stellenwert, den sein Regime dem Zusammenhalt der Familie einräume. Anders als im Westen, vor allem in Amerika, wo ein zügelloser Individualismus herrsche, seien nach "asiatischen" Wertvorstellungen in Fragen der Sozialfürsorge und des moralischen Zusammenhaltes vor allem die Familien zuständig, nicht die Regierung. Um die Familie vor zersetzenden westlichen individualistischen Einflüssen zu schützen, mußte Lee Kuan Yew in Singapur freilich ein orwellianisches Überwachungssystem einführen. Die Regierung, deren Funktionen Lee angeblich beschneiden will, ist im öffentlichen Leben und im Privatleben seiner Untertanen in Wahrheit allgegenwärtig. Sie erzwingt nach Lees beschönigenden Worten die Einhaltung von "Regeln darüber, andere Leute nicht zu belästigen, etwa indem man Abfälle oder Zigaretten aus der eigenen Wohnung in eine andere schmeißt, Lärm macht und so weiter. Wir versuchen, die Familie als Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialeinheit zu stärken. Niemals darf man die Familie verdrängen."
Doch was soll an einer solchen Staatsphilosophie eigentlich spezifisch "asiatisch" sein? Die Todesstrafe gibt es - leider - auch in den von Lee als libertäres Babylon verabscheuten USA, und seine Forderung, die Regierung müsse sich zugunsten einer Stärkung intakter Familiensstrukturen aus den sozialen Angelegenheiten zurückziehen, entspricht exakt der Ideologie der amerikanischen und europäischen Konservativen. Sie ist, in abgemilderter Form, auch eines der Hauptantliegen der im Westen gegenwärtig hoch im Kurs stehenden, sogenannten "kommunitaristischen" Liberalismuskritik.
Und wenn die paternalistischen Ideale des Lee Kuan Yew Ausdruck besondere Werte der "asiatischen Kultur" sein sollen, so fragt man sich erstaunt, wie es kommt, daß sie sich weitestgehend mit den "afrikanischen Werten" decken, wie sie von Diktatoren in diesem Erdteil propagiert werden. Wo immer sich antikolonialistisch drapierte Regimes im Namen einer eigenen "kulturellen Identität" gegen die Dominanz "westlicher Werte" aussprechen, sind sie sich auffällig einig: Die Werte, die sie für kulturelle Fremdkörper halten, sind die Schutzrechte des Individuums gegenüber staatlicher Willkür. Dagegen behaupten sie, den Traditionen ihres Kulturkreis entspreche die Unterordnung des Individuums unter die Bedürfnisse der "Gemeinschaft" - Bedürfnisse, für deren Formulierung und Durchsetzung selbstredend nur sie zuständig sind.
Tatsächlich ist die Rede von der "Zerstörung der Werte" durch einen hemmungslosen Individualismus die universalste Sache der Welt. Daß man sie dazu brauche, "die Familie", "die Gemeinschaft" und die eigene "kulturelle Identität" vor dem Verfall zu retten, ist das erste, was autoritären Regimes überall auf der Welt einfällt, wenn sie gefragt werden, warum sie ihren Bürgern gewaltsam elementare Grundrechte vorenthalten. So argumentierten bis vor wenigen Jahrzehnten Diktatoren in Griechenland, Spanien oder Argentinien, und so argumentieren heute autoritäre Politiker in Rußland, Kroatien, Serbien oder Peru. Das vermeintliche "Pluriversum" der kulturellen Wertvorstellungen entpuppt sich als die eintönigste Sache von der Welt, sobald unter Berufung auf diese "eigenen Werte" politische Herrschaftsansprüche begründet werden sollen.
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Dem Westen aber scheint es immer schwerer zu fallen, diesen Zusammenhang zu durchschauen. Wenn es um die Kollaboration mit aggressiven antiwestlichen Diktaturen geht, legen vor allem die europäischen Demokratien einen unermüdlichen Eifer an den Tag. Jahrelang wurde das Terrorregime im Iran von der Europäischen Union, allen voran von Deutschland, unter dem euphemistischen Schlagwort des "kritischen Dialogs" mit vorauseilender Unterwürfigkeit hofiert. Noch als die Verbrecher in der Führungsspitze Teherans der unabhängigen Justiz in Deutschland wegen des bevorstehenden Urteils im Mykonos-Prozeß mit Terroranschlägen drohten, sandte der Bundeskanzler ihnen ein beschwichtigendes Sendschreiben, in dem er versicherte, seiner Regierung liege es fern, die religiösen Gefühle ihres Volkes zu verletzen. So, als ob überführte Mordauftraggeber Sachverständige für die letzten Fragen theologischer Ethik seien!
Was den Iran betrifft, so nehmen hier immerhin die Vereinigten Staaten eine standfestere Position ein. Ihre Versuche, den Terrorstaat zu isolieren, wurden von der Europäischen Union ebenso regelmäßig unterlaufen wie ihre Politik, wirtschaftliche Kooperation mit der VR China von Fortschritten in der Menschenrechtssituation abhängig zu machen. Doch mit Prinzipienfestigkeit hat auch die amerikanische Politik insgesamt wenig zu tun. Gegenüber China sind jetzt auch die USA auf eine defensive Linie eingeschwenkt; und das, obwohl die Menschenrechtssituation sich dort in den letzten Jahren keineswegs verbessert, sondern eher stetig verschlechtert hat. Das Regime in Peking unterhält ein System von Arbeitslagern, das mit dem sowjetischen GuLag vergleichbar ist, und führt öffentliche Massenhinrichtungen durch, denen Menschen auch für relativ geringfügige Verbrechen zum Opfer fallen. Es hat alle Regimekritiker entweder in Lagern verschwinden lassen oder ins Ausland vertrieben. China ist heute praktisch dissidentenfrei, und es steht zu befürchten, daß dies in Hongkong bald ebenso sein wird. Die USA scheuen sich auch nicht, zur gleichen Zeit, da sie den iranischen Fundamentalismus einzudämmen versuchen, die fundamentalistischen Taliban in Afghanistan zu unterstützen, gegen deren Regiment das iranische fast schon liberal anmutet. Und die Amerikaner haben nach wie vor kein Problem damit, enge freundschaftliche Beziehungen zu Saudi-Arabien zu unterhalten, dessen diktatorisches Regime nicht nur einem militanten kulturellen Antiamerikanismus frönt, sondern auch zu den Hauptfinanziers der militanten islamistischen Internationale gehört.
Daß westliche Demokratien ihre hehren Ideale von Demokratie und Menschenrechten nur allzu gern vergessen, wenn sie ihre Interessen wahrzunehmen glauben, ist also keine bloße polemische Behauptung kulturrelativistischer Universalismuskritiker, sondern traurige Realität. Offen ist die Frage, ob die Forderung, der Westen möge eine konsequente Menschenrechtspolitik betreiben, nicht generell einer Fiktion aufsitzt. Ob staatliche Machtpolitik, deren Ziel die Erringung größtmöglichen globalen politischen und wirtschaftlichen Einflusses ist, überhaupt mit moralischen Prinzipien vereinbar ist, kann als zweifelhaft gelten. Die Frage ist andererseits aber auch, ob die Art von wirtschaftlicher Interessenspolitik, wie sie von den westlichen Demokratien mit deprimierender Hartnäckigkeit verfolgt wird, tatsächlich den Zielen dient, die sie zu erreichen vorgibt.
Erinnern wir uns: Welch glänzende Geschäfte haben westliche, und namentlich deutsche Unternehmen jahrelang mit Saddam Hussein gemacht, wie wunderbar stiegen im Irak Prosperität und Wohlstand an und welch ein nützlicher und zugänglicher Freund schien der wüste Diktator - trotz Giftgaseinsatz gegen die kurdische Zivilbevölkerung - geworden zu sein! Bis er einen Krieg anzettelte und eine schwere internationale Krise auslöste. Die deutsche Industrie stand danach nicht nur ohne ihren einst so vielversprechenden Handelspartner da, sie hatte auch dem internationalen Ansehen ihres Landes großen Schaden zugefügt.
Wie alle modernen Totalitarismen vor und nach ihm nutzte das Regime Saddam Husseins den wirtschaftlich-technischen Fortschritt zum Ausbau und zur Aufrüstung seiner Terrorherrschaft. Alle Erfahrungen mit ideologisch motivierten Diktaturen in diesem Jahrhundert zeigen: Wenn solchen Regimes keine klaren Grenzen aufgezeigt werden, greifen sie früher oder später zum Mittel nicht nur politischer und wirtschaftlicher, sondern auch militärischer Erpressung. Wollen wir uns im Ernst darauf verlassen, daß dies für eine Macht wie die VR China, die über ein enormes atomares Potential verfügt, die sich vor Jahresfrist nicht scheute, Taiwan mit einer Invasion zu drohen, und die diese Drohung durch massive militärische Drohgebärden unterstrich, ausnahmsweise nicht gilt? Ein Land wie China, das in der UNO jede Initiative zur Verhinderung von Genozid und Massenverfolgung als "Einmischung in innere Angelegenheiten" torpediert, kann für den Westen auf Dauer kein kompatibler weltpolitischer Partner sein. Es wäre im übrigen auch fatal, auf die Zermürbung und den Zerfall des kommunistischen Apparats zu spekulieren. Was danach kommt, muß nicht zwangsläufig besser sein. Ein postkommunistisches, nationalistisches Regime in China oder gar ein in konkurrierende Diktaturen aufgeteiltes Riesenreich könnte für die Welt zum Alptraum werden.
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Es ist ein strukturelles Merkmal des Kulturrelativismus, daß sich hinter seiner Verbeugung vor andersartigen Kulturen eine tiefe, nicht eingestandene Verachtung und Abwertung des Fremden verbirgt. Indem im Falle Chinas eine Milliarde Menschen unter der Kategorie der "Kultur" mit einem Regime identifiziert werden, von dem sie unterjocht und drangsaliert werden, kann man sie mit leichterem Gewissen ihrem Schicksal überlassen. Was zählt schon ein einzelner Chinese, der in einem Strafarbeitslager entwürdigt, geschunden und der Vernichtung drrch Arbeit ausgesetzt wird, wenn in seinem "Kulturkreis" angeblich noch nicht einmal das Konzept eines "Individuums" bekannt ist? Hat es Sinn, sich wegen eines einzigen Chinesen, der nur nach unseren westlichen Maßstäben übermäßig grausam behandelt wird, mit einer machtvollen Kultur anzulegen, die unsere Einwände gegen die Schändung des Individuums noch nicht einmal versteht? Freilich: Die Verfechter einer kulturrelativistischen "Realpolitik" würden den Vorwurf entrüstet zurückweisen, ihnen sei das Schicksal dieses unglücklichen Chinesen gleichgültig. Sie würden aber einwenden, westliche Standards von Menschenrechten könne man den Chinesen nur behutsam und ohne auftrumpfendes Gebaren näherbringen. Man könne mit ihnen über so etwas überhaupt nur reden, wenn man ihren eigenen kulturellen Maßstäben mit größter Einfühlung und tief empfundenen Verständnis entgegentrete.
Das Problem ist nur, daß die chinesischen Machthaber der westlichen Idee von unveräußerlichen Menschenrechten nicht aus kulturellen, sondern aus ideologischen Gründen in Todfeindschaft gegenüberstehen. Sie sind marxistisch-leninistische Ideologen, also eingeschworene, bewußte Kollektivisten, die den "bürgerlichen Individualismus" für eine Verfallserscheinung des dekadenten Monopolkapitalismus halten. Weil ihr ideologisches System jedoch nicht mehr kraftvoll genug ist, um ihre Tyrannei ausreichend zu legitimieren, setzen sie - wie andere kommunistische Regimes vor ihnen, zuletzt das serbische - zunehmend auf die nationalistische und "kulturalistische" Karte.
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