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Cover Lettre International 31, Nusret Pasic
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Inhaltsverzeichnis

LI 31, Winter 1995

Europas Schande

(...) Sie waren uns so ähnlich, die Mörder wie die Opfer, gute Europäer einer wie der andere. Es gab keine rettende Distanz bezüglich Rasse oder Kultur, die uns den Schmerz der Identifikation und die brennende Scham erspart hätte. Die Witwen von Srebrenica hätten unsere Mütter oder Großmütter sein können. Die Mörder waren wie wir: Shakespeare-Professoren, praktizierende Psychoanalytiker, Lügner, erfahren darin, uns zu erzählen, was wir hören wollten. Dies war auf besonders intime und unangenehme Weise "unser" Krieg. Niemand, der dort war, wird je wieder an Europa glauben.

Wir hätten ihn beenden können. Das gibt selbst Karadzic zu. Die Entsendung von 20.000 NATO-Truppen (um die Unversehrtheit und Unteilbarkeit Bosniens zu garantieren) hätte den Überfall der Serben aufhalten können, wenn er im Januar 1992 erfolgt wäre. Das Hindernis, sagten uns unsere Führer, waren wir selbst. Wir wollten einfach die Leichensäcke nicht akzeptieren. Aber echte Führer verschaffen sich ihre eigene Unterstützung. Und Unterstützung war unterwegs. Anfang 1992 hatte die europäische Öffentlichkeit bereits gesehen, was serbische Artillerie in europäischen Städten wie Vukovar und Dubrovnik anrichten konnte. Es war nicht die Rhetorik Churchills vonnöten, um die britische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß wohl einige Leben geopfert werden dürften, um die Unversehrtheit eines europäischen Staates zu verteidigen, daß, wie komplex derartige Identifikationen auch sein mochten, dieses "unsere" Leute wären, die Anspruch auf unseren Schutz hätten. Es gab eine Öffentlichkeit, die darauf wartete, mobilisiert zu werden, für die Verteidigung von Europa an sich, und diese Öffentlichkeit wartete vergebens auf ihre Berufung.

Es ist ganz verkehrt, anzunehmen, die Briten seien so anti-europäisch, daß sie sich für eine solche Sache niemals hätte mobilisieren lassen. Die einzige führende Person in Europa, die zu begreifen schien, daß Europa selbst in Bosnien auf dem Spiel stand, war die von allen am unerschütterlichsten anti-europäische: Margaret Thatcher. Sie sah, daß, falls Europa irgendwelche Ansprüche darauf hätte, mit der Macht der Amerikaner und der Japaner zu konkurrieren, es beweisen mußte, daß es die Serben aufhalten konnte. Für alle engagierten Föderalisten sollte es Anlaß zu peinlicher Selbstbefragung geben, daß die standhaftesten Rufe nach Intervention in Bosnien von den standhaftesten Anti-Föderalisten kamen. Manche werden behaupten, das Scheitern in Jugoslawien spräche noch mehr für ein vereintes Europa, aber es ist schwer einzusehen, warum irgendjemand an dieses vereinte Europa glauben sollte, wenn seine jetzt schon hervorragenden Institutionen sich als unfähig erwiesen haben, einer ethnische Säuberung, zwei Flugstunden von Brüssel entfernt, ein Ende zu machen.

Also wird der nun diktierte Frieden nicht, was er sollte, in Genf besiegelt, sondern in einem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt in Ohio. Es ist so sehr eine Show der Amerikaner, daß sie sich nicht einmal den Anschein geben, die europäischen Hauptstädte auf dem laufenden zu halten. Aus historischer Perspektive bleibt Europa an die Macht Amerikas so gebunden wie 1941, als Churchill die neue Welt besuchte, um das Gleichgewicht in der alten wiederherzustellen. Bosnien bot Europa seit einem Menschenalter zum ersten Mal die Chance, seine fünfzigjährige Abhängigkeit von den Amerikanern zu beenden. Die beste Gelegenheit, auf eigenen Füßen zu stehen, die Europa seit 1945 hatte, wurde vertan.

Wir können vorgeben, daß es zwar etwas beschämend ist, daß die Amerikaner unsere Arbeit erledigen, uns aber aus ihrem Erfolg keine Kosten erwachsen. Ein spezieller Preis ist jedoch an jeden von den Amerikanern diktierten Frieden geknüpft: die Ratifizierung der ethnischen Säuberung Kroatiens. Die Serben kamen an den Verhandlungstisch, weil die Amerikaner sich auf die kroatische Seite stellten. Da die Amerikaner sahen, daß die Serben bei ihren russischen Gönnern nicht auf kriegerische Unterstützung zählen konnten, dachten sie, es könnte von ihrem Standpunkt aus nicht von besonderem Nachteil sein, sich dem Lager Tudjmans zuzuschlagen. Anfang 1994 vermittelten sie die Föderation zwischen den Kroaten und Moslems und gestatteten den Kroaten dann im Sommer 1995, Serben aus der Krajina zu vertreiben. Die Amerikaner sind zu dem Schluß gekommen, daß Tudjman zwar ein Schweinehund, aber ihr Schweinehund ist. Es war diese Unterstützung der Amerikaner in Verbindung mit den kroatischen Gewinnen in Zentralbosnien, die die Unnachgiebigkeit der Serben brach. Die Kosten werden allerdings hoch sein: ein ethnisch gesäubertes Kroatien, das darauf erpicht ist, das kroatische Bosnien letztlich zu absorbieren. Und wenn die Amerikaner ihren Mandanten iicht an der kurzen Leine halten, wird Tudjman sich bald von seinen ehemaligen moslemischen Verbündeten abwenden. Jeder, der gesehen hat, was die Kroaten im moslemischen Ost-Mostar angerichtet haben, kann keinen Zweifel über die langfristige Lebensfähigkeit der kroatisch-moslemischen Föderation haben.

Wenn durch die Vereinbarung von Dayton kein dauerhafter Frieden zustandekommt, und wenn die Amerikaner abziehen, wie sie es laut eigener Aussage nach einem Jahr tun werden, wer verteidigt Bosnien dann? Es gibt keine glaubwürdigen Kandidaten. Die UNO hat sich blamiert, die NATO wird aus der Luft eingreifen, aber nicht am Boden, und alles, was Europa zu bieten hat, sind nette, aber nutzlose Überwacher in weißen Kricketanzügen. Die schließliche Aufteilung Bosniens zwischen Serbien und Kroatien scheint unvermeidlich. Wenn im Vertrag von der Erhaltung eines vereinten, föderalen Bosnien die Rede ist, sollen damit nicht die Bosnier ihr Gesicht wahren können, sondern wir unseres. In Wirklichkeit ist ein vollkommen lebensfähiger Vielvölkerstaat in Südeuropa zweigeteilt und an zwei Angreifer verfüttert worden.

Wenn man mit etwas Abstand über die Bedeutung dieses entscheidenden Moments in Dayton nachdenkt, wird klar, daß Europa nahezu vierzig Jahre brauchte, um nach Auschwitz den Glauben an sich selbst wiederzuerlangen. Der Elan, der in den siebziger und frühen achtziger Jahren hinter der Einigung Europas steckte, gründete sich auf eine glückliche Amnesie. Die Balkankriege von 1991-95 haben, indem sie das Konzentrationslager erneut nach Europa brachten, wieder einmal jene Illusion zunichte gemacht, die uns die Wörter europäisch und zivilisiert gleichsetzen ließ. In der Dritten Welt werden viele sagen, das sei nicht schlecht. Es wäre besser, wenn wir aus unserem narzißtischen Schlummer erwachten. Aber es gibt Ideen, die in Europa und nirgendwo sonst entstanden - die der Menschenrechte, der internationalen humanitären Hilfe und des Kriegsrechts -, und von denen wir Grund haben anzunehmen, daß sie den Status moralischer Universalien verdienen. Was die Balkankriege so schockierend machte - abgesehen davon, daß wir nicht intervenierten -, war, wie wenig diese Universalien auf ihrem Heimatkontinent respektiert wurden. Zivilisierte Kriegsführung ist kein Widerspruch in sich - die Vorstellung, das Kriegshandwerk zu zivilisieren, steht seit Grotius im Zentrum der europäischen Naturrechtstradition. Und doch brachen europäische Ethno-Säuberer das Kriegsrecht vermutlich systematischer als jeder afghanische Guerillakämpfer oder bewaffnete Somali. Vergewaltigung als Instrument der Kriegsführung, die Bombardierung von Zivilisten, der Hungertod von Gefangenen: der Balkankrieg hat uns die europäische Menschenrechtstradition in Fetzen hinterlassen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.