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Cover Lettre International 66, Miquel Barceló
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LI 66, Herbst 2004

Berge hinter Bergen

Paul Farmer, ein Arzt der die Welt kurieren möchte

(...) Als ich Zanmi Lasante zum ersten Mal sah, dort draußen in diesem kleinen Dorf Cange, das für mich am Ende der Welt lag und das zu den ärmsten Gebieten des ärmsten Landes der westlichen Hemisphäre gehört, hatte ich wirklich das Gefühl, einem Wunder zu begegnen. Ich wußte, daß in Haiti das Pro-Kopf-Einkommen pro Tag etwas mehr als einem amerikanischen Dollar entspricht, auf der zentralen Hochebene liegt es sogar etwas darunter. Das Land hat den Großteil seiner Waldfläche und viel seiner fruchtbaren Erde verloren. Es hat die schlechteste Gesundheitsstatistik der westlichen Hemisphäre. Und hier, in einer der am stärksten verarmten Regionen Haitis, die von Krankheiten, Erosion und Hunger betroffen ist, stand diese wunderbare befestigte Zitadelle, Zanmi Lasante. Ich hätte es kaum unwahrscheinlicher finden können, hätte mir jemand erzählt, sie sei von einem Raumschiff dort abgesetzt worden.

In meiner ersten Woche in Cange traf ich einen Bauern, der ein krankes Kind in die Klinik brachte – auf einem Esel, zwölf Kilometer den Highway 3 entlang. Ich fragte ihn, ob er erleichtert sei, Cange und den medizinischen Komplex erreicht zu haben. Die Frage war überflüssig, sie schien ihn zu erstaunen, und er sagte nur: „Wi." In der Region gab es eine Handvoll weiterer Behandlungsmöglichkeiten und Krankenhäuser, aber davon war keines gut ausgerüstet, manche waren regelrecht unhygienisch, und überall mußten die Patienten ihre Arzneien und sogar die Handschuhe für ihre Untersuchung bezahlen, und die wenigsten Menschen auf der zentralen Hochebene konnten überhaupt etwas erübrigen. In Zanmi Lasante sollten die Patienten eigentlich auch Gebühren bezahlen, umgerechnet achtzig amerikanische Cent für einen Besuch. Farmers haitianische Kollegen hatten darauf bestanden. Farmer war zwar der medizinische Leiter, stritt sich aber deswegen nicht. Statt dessen untergrub er die Richtlinien einfach – diesen Weg wählte er oft, wie ich mit der Zeit merkte. Jeder Patient mußte achtzig Cent zahlen – bis auf Frauen und Kinder, arme Menschen und jeden, der ernsthaft krank war. Jeder mußte zahlen, das heißt bis auf beinahe alle. Und niemand – eine von Farmers Regeln – durfte weggeschickt werden.

Etwa eine Million Bauern waren auf Zanmi Lasante angewiesen. Zu dieser Zeit lebten etwa einhunderttausend Menschen im Einzugsgebiet der Klinik, für das siebzig Mitarbeiter des öffentlichen Gesundheitswesens zuständig waren. Manche Patienten kamen von weither - weit für ein Land voller kaputter Straßen und mit Dörfern, die nur über Fußwege zu erreichen sind -, aus Port-au-Prince und von Haitis südlicher Halbinsel wie auch aus Städten an der Grenze zur Dominikanischen Republik, in denen man Spanisch spricht. Die meisten kamen von der zentralen Hochebene, auf den schäbigen, überladenen Passagierlastern über den Highway 3. Viele kamen zu Fuß oder mit dem Esel. Zuweilen näherte sich auf der Straße langsam ein Bett dem Haupttor, an jeder Ecke ein Träger, auf der Matratze ein Patient.

Manchmal verwechselte die Apotheke von Zanmi Lasante ein Rezept, oder ein Medikament war nicht vorrätig. Ab und zu verlor der Laborant eine Probe. In der Anlage arbeiteten sieben Ärzte, von denen nicht alle wirklich kompetent waren – die Mitarbeiter waren alle Haitianer, und die dortige medizinische Ausbildung ist bestenfalls mittelmäßig. Aber Zanmi Lasante hatte Schulen und Häuser, öffentliche sanitäre Anlagen und eine Wasserversorgung im ganzen Wirkungsgebiet gebaut. Alle Kinder wurden geimpft, und sowohl Mangelernährung als auch Kindersterblichkeit wurden stark vermindert. Zanmi Lasante stellte Programme auf die Beine, um Frauen Lesen und Schreiben beizubringen und um Aids vorzubeugen, und es senkte in seinem Arbeitsgebiet die HIV-Übertragungsrate von Müttern auf Babys auf vier Prozent - in den USA ist die Rate doppelt so hoch. Als auf Haiti vor einigen Jahren eine Typhusepidemie ausbrach, dessen Erreger gegen die normalerweise verwendeten Medikamente immun war, importierte Zanmi Lasante ein effektives, aber teures Antibiotikum, reinigte die Wasserreserven vor Ort und stoppte die Verbreitung der Krankheit auf der zentralen Hochebene. Auf Haiti sterben immer noch mehr Menschen an Tuberkulose als an jeder anderen Krankheit, aber in Zanmi Lasantes Einzugsgebiet ist seit 1988 niemand mehr daran gestorben.

Das Geld für Zanmi Lasante brachte eine kleine öffentliche Stiftung auf – Partners in Health, also „Partner für Gesundheit", mit Hauptsitz in Boston. Die Ausgaben waren im Vergleich zu denen, die es in den USA gebraucht hätte, gering. Farmer und seine Mitarbeiter des öffentlichen Gesundheitswesens behandelten Tuberkulosepatienten in ihren Hütten und gaben für die Heilung eines unkomplizierten Falles zwischen 150 und 200 Dollar aus. Der gleiche Fall kostete in den USA, wo Tuberkulosekranke stationär im Krankenhaus behandelt werden, durchschnittlich zwischen 15 000 und 20 000 Dollar.

Das Krankenhaus bei mir zu Hause in Massachusetts behandelte etwa 175 000 Patienten im Jahr und verfügte über ein Budget von 60 Millionen Dollar. 1999 hat Zanmi Lasante ungefähr ebenso viele Menschen behandelt, sowohl in den medizinischen Einrichtungen als auch vor Ort in den Gemeinden; die Arbeit kostete etwa 1,5 Millionen Dollar, von denen die Hälfte in Form von gespendeten Medikamenten vorlag. Einige Gelder stammten aus öffentlichen Zuschüssen, das meiste jedoch aus privaten Spenden. Der aktivste Geldgeber war ein Bauunternehmer aus Boston namens Tom White, der über die Jahre Millionen spendete. Farmer beteiligte sich ebenfalls, aber er wußte nicht genau, mit welcher Summe.

Mir wurden die logistischen Fakten von Farmers Schaffen erst nach und nach klar, und sie erschienen mir nicht allzu ungewöhnlich, bis ich alles zusammenrechnete. 1993 verlieh ihm die MacArthur-Stiftung einen von ihren sogenannten „Genie-Preisen", in seinem Fall eine Zuwendung in Höhe von 220 000 Dollar. Er spendete die ganze Summe Partners in Health, um einen Forschungszweig innerhalb der Organisation zu gründen – das Institut für Gesundheit und soziale Gerechtigkeit, wie er es nannte. Von Harvard und dem Brigham Hospital erhielt er im Jahr etwa 125 000 Dollar, bekam aber weder seine Gehaltsschecks je zu Gesicht noch die Ehrengehälter oder Tantiemen – beides kleinere Summen, die er für seine Vorlesungen und Artikel erhielt. Die Buchhalterin im Stammsitz von Partners in Health löste die Schecks ein, bezahlte seine Rechnungen – und die Hypothek seiner Mutter – und steckte den Überschuß in die Stiftungskasse. 1999 wollte Farmer einmal seine Kreditkarte benutzen, und ihm wurde gesagt, er hätte sein Limit erreicht. Also rief er die Buchhalterin an, die ihm sagte: „Herzchen, du bist der am schwersten arbeitende Bankrotteur, den ich kenne."

Als er noch Junggeselle war, wohnte er während seiner Aufenthalte in Boston im Keller von Partners in Health. Vor vier Jahren heiratete er die Haitianerin Didi Bertrand, sah aber noch keinen Grund, seine Unterkunft in Boston zu verlegen. Als aber 1998 seine Tochter geboren wurde, bestand seine Frau auf einem Umzug. Danach wohnten sie während ihrer seltenen Besuche in Boston in einem Appartement im Eliot House in Harvard. Didi verbrachte mit ihrer zweijährigen Tochter ein akademisches Jahr in Paris, wo sie ihr Studium der Anthropologie beendete. Farmers Freunde sagten ihm, er solle mehr Zeit mit den beiden verbringen. „Aber ich habe keine Patienten in Paris", antwortete er. Man merkte, daß er seine Familie vermißte. Während ich bei ihm in Haiti war, rief er sie wenigstens einmal am Tag an, von dem Zimmer mit dem Satellitentelefon aus. Theoretisch verbrachte er vier Monate im Jahr in Boston und die restliche Zeit in Cange. Tatsächlich aber wurden seine Aufenthalte in Boston immer wieder von Reisen zu seinen Patienten unterbrochen. Vor Jahren bekam er einen Brief von den American Airlines, die ihn in ihrem Millionen-Meilen-Club begrüßten. Seitdem hat er wenigstens weitere zwei Millionen Meilen zurückgelegt.

In Cange besaß er ein kleines Haus, das für ihn am ehesten ein Zuhause darstellte und gegenüber den Medizingebäuden auf einer Anhöhe stand. Das Haus war eine abgewandelte ti kay, das Ebenbild der besser ausgestatteten Bauernhäuser mit Metalldach und Betonfußboden, und besaß zusätzlich ein Badezimmer, wenn auch ohne heißes Wasser. Oft, wenn ich einen Blick in sein Haus warf, wirkte das Bett unbenutzt. Er erzählte mir, er schlafe vier Stunden pro Nacht, gestand aber ein paar Tage später: „Ich kann nicht schlafen. Irgendwo ist immer jemand, der nicht behandelt wird. Das kann ich nicht ertragen."

Wenig Schlaf, kein Aktienpaket, kein heißes Wasser, von der Familie getrennt. Eines Abends, ein paar Tage nach meiner Ankunft in Cange, wunderte ich mich laut, was ihn für diese Entbehrungen entschädigte. Er sagte: „Wenn man Opfer bringt, und das nicht nur, weil man automatisch irgendwelche Regeln befolgt, versucht man offensichtlich, psychisches Unbehagen zu lindern. Wenn ich mich also beispielsweise darum bemühe, als Arzt für jene ohne medizinische Versorgung dazusein, könnte man das als Opfer ansehen, aber auch als eine Art, mit einem inneren Zwiespalt umzugehen." Als er weitersprach, veränderte sich seine Stimme ein wenig. Er klang nicht böse, aber sehr entschieden: „Ich empfinde es als zwiespältig, wenn ich meine Dienste verkaufe in einer Welt, in der einige sie nicht bezahlen können."
 
(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.