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Cover Lettre International 92, Barbara Breitenfellner
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LI 92, Frühjahr 2011

Falsche Kostüme

Rollen des Lebens – die Bühne als Welt und die Welt als Bühne

(…)

Tagtäglich werden auf der Welt rund 400 000 Babys geboren. Manche sind schon irreparabel geschädigt, sind Opfer der Bedingungen, in denen ihre Mütter leben – Unterernährung, verschmutztes Wasser, rätselhafte Chemikalien, die sich in den Körper schleichen und die Gene manipulieren. Die weit tragischere und schrecklichere Wahrheit ist jedoch, daß die meisten Babys gesund zur Welt kommen. An ihnen stimmt alles. Jedes einzelne ist in der Lage, sich zu einer Persönlichkeit zu entwickeln, deren Intelligenz, Einsicht, ästhetischer Geschmack und Liebe zu anderen dazu beitragen könnte, die Welt besser zu machen. Jedes einzelne ist in der Lage, zu einem Menschen zu werden, der morgens glücklich aufwacht, weil er weiß, daß er den Tag mit einer Arbeit verbringen wird, die er faszinierend findet, die er liebt. Sie werden mit allen genetischen Gaben geboren, die sie sich nur wünschen können. An ihre Mutter gekuschelt, haben sie keine Ahnung, was mit ihnen geschehen wird.

In den alten Zeiten des sowjetischen Fünfjahresplans versuchten die Planer zu ermitteln, was mit den Babys geschehen sollte, die in ihrem Zuständigkeitsbereich geboren wurden. Sie berechneten, wie viele Manager die Wirtschaft brauchte, wie viele Forscher, wie viele Fabrikarbeiter. Und die sowjetischen Politiker organisierten die Gesellschaft in dem Versuch, in jede Kategorie die richtige Anzahl von Menschen zu leiten. Im größten Teil der heutigen Welt erfüllt diese Funktion die unsichtbare Hand des Weltmarkts.

Mir ist hin und wieder aufgefallen, daß viele meiner Generation, die im Zweiten Weltkrieg geboren wurden, wie ich von dem Bild der Züge verfolgt werden, die am Bahnhof von Auschwitz ankamen, und wie die SS-Offiziere, die diese Züge empfingen, an Ort und Stelle eine sogenannte „Selektion“ durchführten. Einige wenige derer, die aus den Zügen stiegen, bestimmten sie zu Sklavenarbeitern, die so lange zu leben hatten, wie sie gebraucht wurden, während alle anderen praktisch sofort in die Gaskammer geschickt wurden. Genauso unerbittlich wie diese „Selektionen“ sind die Zuweisungen des Weltmarkts, wenn die Babys geboren werden. Der Weltmarkt selektiert eine winzige Gruppe privilegierter Babys, die in bestimmten Vierteln bestimmter Städte in bestimmten Ländern geboren werden, und diese Babys dürfen ein privilegiertes Leben führen. Einige werden Wissenschaftler, andere Banker. Einige werden befehlen, herrschen und märchenhaft reich werden, andere werden mäßig entlohnte Intellektuelle, Lehrer oder Künstler. Aber alle Mitglieder dieser winzigen Gruppe werden die Chance haben, ihren Verstand zu entwickeln und ihre Talente zu verwirklichen.

Die anderen Babys hingegen sortiert der Markt, drückt ihnen ein Etikett auf und schleudert sie brutal in diverse Gruben, wo eine entsprechende Erziehung und Vorbereitung auf sie warten. Findet der Markt, daß Arbeiter in Elektronikfabriken gebraucht werden, werden hunderttausend Babys mit dem Etikett „Fabrikarbeiter“ versehen und in eine bestimmte Grube geworfen. Und ist der Zeitpunkt gekommen, daß eines dieser Babys vorbereitet und alt genug ist, um zu arbeiten, kriecht der junge Mensch aus der Grube und steht vor einem Fabriktor in Indien, China oder Mexiko. Dann steht er täglich 16 Stunden an seinem Arbeitsplatz, er schläft im fabrikeigenen Wohnheim, er darf nicht mit seinen Kollegen sprechen, er braucht eine Erlaubnis, um aufs Klo zu gehen, er wird den sexuellen Launen seines Chefs ausgesetzt und atmet Tag und Nacht Abgase ein, die ihn krank machen und zu seinem frühen Tod führen. Wenn er dann gestorben ist, wird man über ihn sagen können, daß er, wie eine Krankenschwester, nicht zum eigenen Nutzen, sondern zu dem anderer gearbeitet hat. Nur daß die Krankenschwester zum Nutzen der Kranken arbeitet, der Fabrikarbeiter dagegen zum Nutzen des Fabrikbesitzers. Er wird seine Zeit, sein Denken, seine Kraft und Energie darauf verwandt haben, dessen Reichtum zu vermehren. Dafür wird er gelebt haben und gestorben sein. Und bei seiner Geburt wird niemand zu dem bedauerlichen Schluß gekommen sein, daß es ihm an dem Talent mangelte, Geiger, Dirigent oder vielleicht ein neuer Beethoven zu werden. Der Grund dafür, daß er nicht in den Konzertsaal, sondern in die Fabrik geschickt wurde, waren nicht mangelnde Fähigkeiten, sondern, daß der Markt Arbeiter brauchte, weswegen er zu einem bestimmt wurde.

Und in der Zeit, in der alle Babys, die geboren werden, in ihre verschiedenen Kategorien sortiert und etikettiert werden, in der Zeit, in der sie sozusagen in ihrem Ställchen aufgezogen werden, bis sie soweit sind, um arbeiten zu gehen, wird ihnen ein passendes Kostüm zugewiesen. Und wenn sie erst mal wissen, welches sie tragen werden, erhält jedes einzelne einen Akzent, eine Sprechweise, ein paar charakteristische Wesenszüge und den passenden Körpertypus, und jedes Gesicht spezialisiert sich langsam auf bestimme Ausdrücke, die gut zu ihrem Wesen, ihrem Körpertypus und Kostüm passen. Und somit erlangt jeder Mensch einen Begriff von der Rolle, die er spielen wird, und somit kann jeder beständig, durch alle Jahrzehnte und sich wandelnden Moden hindurch, sein Leben lang den passenden Stil und die angemessene Garderobe selektieren und reproduzieren.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.