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Titel Lettre International 97, Minoo Emami
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LI 97, Sommer 2012

Pitjantjatjara

Eine weiße Nanny unter Aborigines im Land der Regenbogenschlange

Die Barkindji kamen in weißen Geländewagen mit Funkantennen und GPS. Sie trugen Filzhüte, Abzeichen an ihren Parkwächteruniformen, Mobiltelefone am Gürtel und Goldkettchen am Handgelenk.

Wir können euch gleich zu den ältesten erhaltenen Fußspuren Australiens bringen“, sagte Warren, ihr Wortführer, ein schmaler, weißhaariger Mann, der so aussah, als würde er einen Rasenmäher besitzen.

Mir wäre es lieber, ihr würdet Emuspuren finden!“ herrschte ihn Nelly unter allgemeinem Gelächter an. „Ich habe Hunger. Ich will einen Emu!“

Während Warren über die Schlaglöcher davonschaukelte, um Nellys Emu zu schießen, machten wir es uns in den Schurbaracken bequem. Nebenan zerlegten die Pitjantjatjara die Betten ihrer beiden Kabinen, um auf dem Boden schlafen zu können, ich aber schwelgte im Luxus eines eigenen Zimmers. Als ich Rasierseife und Dachshaarpinsel auf dem kleinen Tisch aufbaute, klopfte jemand an meine Tür. Es war Mike.

„Komm, kalaya!“ rief er, drückte seinen Bauch nach vorn und schlackerte mit den Armen, „ich muß dir etwas zeigen! Aber sei vorsichtig: Es ist sehr gefährlich.

Schon einige Meter hinter dem Schurstall machte der Junge halt und griff sich an die Wade; in dem messerscharfen Gestrüpp gab es keine andere Lösung, als ihn huckepack zu nehmen. So trug ich das Kind auf meinem Rücken in den Busch, und auf der nächsten Anhöhe mußte ich etwas mit ansehen, das meinen Glauben an die Pitjantjatjara zutiefst erschütterte.

In scheinbar sinnlosem Furor prügelte die Gruppe mit Stöcken auf einen Strauch ein, um nach jedem Schlag in Deckung zu gehen. Dann pulte Peter, der hier das Kommando hatte, mit seinem Ast im Unterholz herum und schleuderte ein Reptil aus seiner Deckung ins Freie. Doch es war keine Giftschlange.

Es war nur eine fette, stummelschwänzige Echse, deren grobes Schuppenkleid sie wie einen dreißig Zentimeter langen Tannenzapfen aussehen ließ. Dieser lahme, fluchtfaule Wüstenskink, dessen Artgenossen ansonsten mit der Geschwindigkeit von Schildkröten die Landstraße entlangstapfen, blinzelte ungläubig, öffnete sein Maul und zeigte eine blaue Zunge.

Aufkreischend stoben die Pitjantjatjara davon, so als ob sie noch niemals in ihrem Leben einen Wüstenskink gesehen hätten – und als ich sie mit ihren übergewichtigen Körpern, Hot pants, Flipflops, Turnhosen und Blümchenkleidern den Abhang hinunterstolpern sah, da gab ich sie und ihre Kultur verloren.

Denn ich sah keinen Grund, sich vor diesem prächtigen Tier zu fürchten. Ich sah noch weniger Grund darin, es zu töten. Peter pirschte sich heran und schlug der Echse mit seinem Stock auf den Kopf. Es war ein wohldosierter Schlag, geführt wie der Schlag eines Löffels auf das Frühstücksei, der die Schale bricht, das Innere aber intakt läßt. Die Kreatur blinzelte erneut.

Peter klopfte wieder auf ihren Kopf, und dann klopfte er weiter und immer weiter, bis ein Flecken Blut auf dem Schädel des erlöschenden Reptils erschien. Sein Körper wurde wie ein Pfannkuchen gewendet, und als wir sichergehen konnten, daß der Wüstenskink tot war, wurde er in einer Wollmütze zur Schurstation getragen, wo Alex uns mit der Hupe zum nächsten Ausflug rief.

Wir fuhren in einen Teil des Nationalparks, der nicht von Schafen leergefressen worden war, durch knorrige Black-Box-Eukalyptus und ein Meer aus weiß wogenden Salzbüschen. Eine Schlechtwetterfront zog auf. Regentropfen fielen in Staubwölkchen auf den Boden. Der Wind pustete Sandkörner weg, überall lagen Faustkeile und Feuersteine herum, und dann standen wir vor den Fußspuren, über 400 an der Zahl, die wie ein Tomatenbeet mit Jute abgedeckt worden waren.

Peter, der spürte, daß ich die Szene mit dem Wüstenskink noch nicht ganz verdaut hatte, trat an meine Seite. „Ich sehe, daß diese Stätte heilig ist“, sagte er, „für die Leute, die hier leben. Sie ist heilig, weil ihre Ahnen auf ihren Wanderungen hier vorbeigekommen sind. Auch wir haben solche Stätten auf unserem Land. Unsere Stammesältesten haben uns die Stätten gezeigt und gesagt, daß sie die Orte unseres traumzeitlichen Erbes sind.“ Dann schielte er nach meinen Zigaretten, doch ich hatte vier Tage lang nicht mehr geraucht.

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.