LI 111, Winter 2015
Ein Tonkopf in Paris
Beobachtungen und Erlebnisse eines Radioreporters in der NachkriegszeitElementardaten
Textauszug
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7.
Besuch des genialischen Surrealisten Salvador Dalí in Paris. Zeigt in einer pompösen Galerie am Faubourg Saint-Honoré Grafiken, denen er Textur verleiht, indem er einen Frosch, dessen Beinchen in Tusche getaucht sind, darüber hinhüpfen läßt. Rauschender Beifall der geladenen Journalisten. Ähnlich wie bei dem Maler Georges Mathieu, der vor unserem laufenden Tonband ein action painting in gezählten vierzig Sekunden hinlegt. Oder dem Maler Yves Klein, der nackte Models mit seiner patentierten Blautinktur bestreicht und dann einen Papierabklatsch davon liefert. Oder Niki de Saint Phalle, die mittels Schießgewehr Farbflecken gegen eine Leinwand spritzt. Also der Künstler, der nicht so sehr etwas herstellt, als seine eigene Person wie ein Kunstwerk inszeniert. Warum nicht? Übrigens zeigt Dalí wiederum in einer anderen Galerie hinreißend abstruse Schmuckstücke. So etwa einen Ring in Form eines Korsetts, oder einen geöffneten Mund als Brosche, mit Zähnen aus echten Perlen. Clou der Darbietung: ein ansteckbares Herz aus roten Rubinen, das mit einem Minimotor zum Schlagen gebracht wird.
Am 25. November Catherinettentag, wie jedes Jahr. Die kleinen Midinetten der Modehäuser, die ihr 25. Jahr erreicht haben, ohne unter die Haube zu kommen, defilieren angetan mit gelb-grünen Hüten zum Standbild der heiligen Katharina in der Rue de Cléry. Dort eine stille Fürbitte um ... Sie dürfen es erraten. Abends Tanz in allen Couturehäusern. Einschließlich dem wiedereröffneten Modesalon von Coco Chanel, die nach Jahren selbstgewählten Exils in der Schweiz wieder da ist. Oder war es eher eine Verbannung? Man spricht von ihrer zweifelhaften Rolle während der Okkupation, darunter ein Verhältnis mit dem deutschen Diplomaten von Dincklage. Bei einer Pressekonferenz, die mindestens so umlagert ist wie die der ewig wechselnden Ministerpräsidenten, verweigert Mademoiselle jedes Geständnis: „Ich lebe nur für die Zukunft.“ (Sie muß immerhin jetzt an die Siebzig sein.) Und wie sie sich die Zukunft der Mode vorstelle? „Jedenfalls anders als dieser Monsieur Dior mit seinen H- und X- und O-Linien, und wie sie alle heißen. Als ob der Charakter der Frau sich jedes Jahr verändern würde. Aber eine Frau muß mehr sein als ihr Kleid!“ Neben Coco sitzend ihre jüngste Kundin und Bewunderin, Romy Schneider. Die ich kürzlich im Theater kennenlernte, wo sie unter Viscontis Regie in einem elisabethanischen Reißer auftritt: Schade, daß sie eine Dirne ist. Zusammen mit ihrem neuen Lebenspartner Alain Delon. Romy klagend über die wüsten brieflichen Beschimpfungen aus Deutschland: „Was erwartet man von mir – daß ich ewig Sissi bleibe? Und wieso bin ich auf einmal eine Sexualschlampe? Ob das nicht bei den Frauen der pure Geschlechtsneid ist? Und bei den deutschen Männern die Wut, daß man ‘es’ den Franzosen besser zutraut?“ Dazu Delon: „Ich verstehe zwar kein Wort. Aber was immer Romy sagt, es ist die lautere Wahrheit. Sie kann nicht lügen.“ Bald darauf wird er ihr in dem Film Der Swimmingpool mit einer abgerissenen Gerte eins überziehen. Worauf jeder Zuschauer überzeugt ist, dies wäre die Grundlage ihres Verhältnisses.
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10.
Nun bekomme ich auch endlich meinen ersten Presseausweis. Verliehen vom Amt für die Auslandspresse, Rue Lord Byron hinter den Champs-Élysées (und dicht neben einem stadtbekannten Bordell). Was solch Ehre zu dieser Zeit bedeutet, erfahre ich nach und nach von den Kollegen. Ein französischer Journalist hat primär zu wissen, von wem sein Blatt oder Medium gekauft ist, aber darüber den Mund zu halten. Ohnehin soll er prinzipiell jemand sein, der sehr viel weiß, aber wenig davon verlauten läßt. Er ist informiert, das reicht. (Manch einer hat sich schon hinaufgehangelt in höhere politische Sphären mit diesem Wissen.) So ein Mann – es sind immer Männer – bringt also wenig Konkretes ins Publikum, wenn auch mit ausgesuchten Worten. Läßt aber dabei durchblicken, was er alles bringen könnte, wenn er bloß wollte. Nur solche elenden Witzblätter wie die Angekettete Ente versteifen sich auf die grobe Recherche. Viel lieber kommentiert man Angebliches, dementiert ungenannt Bleibendes, kolportiert Gerüchte, berichtet aus besten Quellen. Schließlich: Der Lieblingsausdruck des damaligen französischen Journalismus hatte zu lauten: „Wie bekannt“. „Wie bekannt war uns das alles schon längst bekannt, wir haben es aber aus den bekannten Gründen nicht bekanntgemacht.“ Amen. PS: Daß sich inzwischen, angespornt von der sogenannten presse people, auch hier die Zeiten geändert haben, ist sicher. Und doch hörte ich noch kürzlich aus dem Mund des Chefredakteurs von Paris Match folgenden Satz: „In gewissem Sinne ist Frankreich noch immer eine Monarchie, wo jeder alles weiß, aber keiner irgend etwas sagt …“ Naturgemäß besitze ich jetzt neben der Pressekarte auch noch meinen maccaron, das kastanienförmige Abzeichen der Polizeipräfektur. Den blechernen coupe-file, der mir erlaubt, Sperren zu durchbrechen. Sowie die brassard genannte Armbinde, die mich bei Demos vor Polizeiübergriffen schützen soll. Mit anderen Worten, ich darf als ein Unerschrockener auftreten in einer jetzt mehr und mehr von Unruhen geschüttelten Stadt. Die seit Krieg und Besatzung die ihr zustehende Rolle nicht mehr recht finden kann.
Kurz danach allerhand Aufregung um den Architekten, der sich Le Corbusier nennt, der Rabenfänger. Dieser Bewunderer des Brutalismus hat einen Bauplan für das geschichtsträchtige Marais-Viertel vorgelegt, Heimstätte auch seit Jahrhunderten des jüdischen Ghettos. Sein Rezept: Alles abreißen und durch 18 aufgereihte Glastürme ersetzen. Dabei wohnt er selbst in einem klassisch verschnörkelten Eckhaus am Boulevard Raspail. Dieser Schweizer ist auch ein Anhänger des umstrittenen Arztes (und Nobelpreisträgers) Alexis Carrel. Der schon Jahre vor dem Holocaust, nämlich anno 1935, in Erwägung zog, einen Teil der französischen Bevölkerung zu vergasen, um damit Platz zu schaffen für das „virile Element“. Da mir ein Sender die Reise anbietet, fahre ich mit dem Nachtzug nach Marseille, um dort Le Corbusiers berühmte Wohnmaschine, die Strahlende Stadt zu besichtigen.
Ein origineller Wabenbau, mit kunterbunten Öffnungen und Balkonen nicht übel anzusehen. Nur warum der ganze Block auf mammutenen Betonstelzen lagern muß, ist nicht auszumachen. Hier im Erdgeschoß könnte man doch allerhand Läden und Lokale unterbringen. Daß diese dann bei näherem Zusehen auf fast allen Etagen zu finden sind, scheint die ohnehin mißvergnügten Bewohner nur noch mehr zu verstören. Vielleicht weil man ihnen damit das bißchen Abenteuer des Ausgehens auch noch versalzt. Der Mensch auf den möglichst passiven Konsumenten herabgestimmt – irgend etwas in den ewig unruhebedürftigen Franzosen scheint sich (noch) dagegen zu sträuben. Dazu zur Zeit gehörig auch die wütenden Straßendemonstrationen der kleinbürgerlichen Poujadisten-Partei, ausgerechnet gegen die neuen Supermärkte.
Danach kleine Kulturreportage im Louvre vor der Mona Lisa, mit Volksbefragung, was es mit ihrem Lächeln auf sich hat? Die häufigsten Antworten: „Weil sie in ihren Leonardo verliebt ist.“ – „Weil sie ein Kind von ihm erwartet.“ – „Weil ihr der Maler fürs Modellsitzen ein saftiges Honorar zahlt.“
Dann ein aufregender Tag: Die junge Schauspielerin Jean Seberg getroffen, natürlich im Hotel Raphael. Mitsamt ihrem Entdecker, Mentor und Peiniger, dem Regisseur Otto Preminger. Dieser Wiener Oligarch hat anscheinend in Amerika einen landweiten Wettbewerb veranstaltet, um eine heilige Johanna zu finden, die gleichzeitig ländlich-sittlich und verführerisch-sexy zu sein hatte, von Talent nicht zu reden. Und machte zuletzt seine Jean ausfindig unter, wie er behauptet, 18 000 Kandidatinnen. Preminger ein massiver Kahlkopf, arrogant, genialisch. Sein bisher größter Hit ist Der Mann mit dem goldenen Arm. Nach einem Roman von Nelson Algren, hier unter Eingeweihten als zeitweilige große Liebe von Simone de Beauvoir bekannt. In der Hauptrolle des Drogenspritzers unerwartet Frank Sinatra, nachdem Brando den Part strikt ablehnte. Der erste Rauschgiftfilm überhaupt, berichtet Preminger stolz, den er erst nach langem Kampf mit der Zensur durchpauken konnte. Ich versuche auf Jean umzuschwenken, aber der Regisseur ist noch nicht fertig mit sich. Denn wäre es nicht erst seit diesem Film in Hollywood möglich geworden, ein Doppelbett im Bild zu zeigen – Küsse jenseits von drei Sekunden auszudehnen – sowie im Dialog solche allgemeingültigen Ausrufe unterzubringen wie shit, Christ oder sogar fuck? Wobei Jean, die angeblich erst Siebzehnjährige, ihrem Pygmalion begeistert zustimmt. Endlich darf ich mich an sie wenden. Ob sie ihre großen Vorgängerinnen in der Rolle der Heiligen je im Film gesehen habe? Also die erschütternde Falconetti in dem Klassiker von Carl Dreyer? Oder auch Michèle Morgan vor zwanzig Jahren, oder vor zehn eine jugendliche Ingrid Bergman? (Offenbar muß in jeder Dekade eine neue Jungfrau her.) Darauf ein spitzbübisches Lachen, sogar ein aufsässiges, das ich ihr gar nicht zugetraut hätte: „Natürlich hat es mir Otto verboten. Und natürlich habe ich mir in L.A. alles angeschaut.“ – „Und?“ – „Aber das waren doch lauter alte Frauen!“ Hierauf werde ich eilig hinauskomplimentiert.
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