Lettre aktuell 1/2021
Lettre International 132 / Neue Ausgabe
Verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde,
heute, am 25. März 2021, erscheint Lettre International Nr. 132. Das ideenreiche, lebendige, anmutige und überaus betörende Frühjahresheft ist ab sofort im Buchhandel und am Kiosk erhältlich, an städtischen Bahnhöfen und Flughäfen sowie ab Verlag (www.lettre.de).
Trotz mancher negativer ökonomischer Auswirkungen der Pandemie ist Lettre mit einem wahrhaft ermutigenden Signal ins neue Jahr gestartet: Mehr als 450 neue AbonnentInnen haben seit Dezember 2020 Lettre zu ihrer Leib- und Magen-Lektüre erkoren – eine Willensbekundung für unbeirrte Qualitätsorientierung und unabhängige Printmedien! Wir freuen uns sehr darüber und sagen: Herzlichen Dank!
ABO PLUS +++ INSPIRATION GEGEN DIE LOCKDOWNS +++ UNSERE OSTER-ÜBERRASCHUNGSEIER
Gegen die Monotonie des Lockdowns und die Melancholie des Fernwehs bieten wir neuen Abonnentinnen und Abonnenten ein attraktives Vakzin. Bis zum Ende der Osterwoche, am 11. April 2021, hoppelt der Lettre-Osterhase allen Neu-AbonnentInnen mit einem Lettre Überraschungsei entgegen. Für jedes Neu-Abonnement erwartet Sie eine schöne Hör- oder Musik-CD. Autobiographisches von Hape Kerkeling oder Haruki Murakami, musikalische Werke von Verdi, Strawinsky oder Brahms, meisterliche Erzählungen von Gabriel García Marquez, Aldous Huxley oder James Joyce, legendäre Hörspielinszenierungen von Dylan Thomas, John Dos Passos und H.G. Wells, und vieles Tolles mehr.
Beste Lektüre ● 4 x im Jahr ● frei Haus (im Inland und in der Schweiz) ● druckfrisch ● direkt in Ihren Briefkasten ● keine Ausgabe verpassen ● unschlagbares Preis-/Leistungsverhältnis: Sie sparen mit einem 1-Jahres-Abo etwa 12 Prozent des Kioskpreises (49,- Euro statt 55,60 Euro im Inland), mit einem 3-Jahres-Abo 15 Prozent (140,- Euro statt 166,80 Euro im Inland) ● Schweizer AbonnentInnen sparen bei einem 1-Jahres-Abo 15 Prozent des Einzelverkaufspreises (79,- statt 92,- CHF), bei einem 3-Jahres-Abo 23 Prozent (225,- statt 276,- CHF) ● Bezahlung auch bequem per PayPal möglich
Geben Sie sich einen Ruck und rufen Sie uns an. Unsere Überraschungsei-Verantwortlichen sprechen mit menschlicher Stimme: Tel. +49 (0)30 308 704 62!
DIE THEMEN DES HEFTES IM ÜBERBLICK
Operation Europa ist eine brillante und tiefgreifende Analyse der Integrationsdynamik, des Institutionengefüges und mancher Geheimnisse der Europäischen Union. Chinas Erneuerung kontrastiert das autokratische Machtsystem des heutigen Reichs der Mitte mit der kulturellen Folie seiner uralten konfuzianischen Zivilisation und fordert eine demokratische Verfassungsreform des Landes. Friedrich der Große war Philosoph, Musiker, Staatsmann und Feldherr – „ein Großer von höchster Fragwürdigkeit“ im Porträt. Nietzsches Napoleon skizziert die Verkörperung des Willens zur Macht und der Sehnsucht nach Kälte. Im Plädoyer für Hunde offenbaren sich geistige Verwandtschaften zwischen dem Sultan der Hohen Pforte des einstigen Osmanischen Reiches, Abdülhamid II, und dem heutigen neo-osmanischen Sultan von Istanbul. Das Lächeln Bergoglios enthüllt die Karriere eines peronistischen Jesuiten aus Buenos Aires auf den Heiligen Stuhl im Vatikan. An die Tragödie des Holodomor in der Ukraine in den 1930er Jahren und einen aufopferungsvollen Journalisten erinnert Die Große Hungersnot.Das Leben riskieren hinterfragt die ubiquitäre Rhetorik der Anerkennung auf ihre philosophische Dignität. Mit Hilfe der Antiken Polis verstehen wir Muster unserer eigenen Demokratie. Körper und Geist erquicken sich bei Nächtlichem Gehen. Ein rebellischer Tanz aus Los Angeles bringt Alles in die Vertikale. Wir erleben Amouren in Triest, hören das kaddisch für einen verblendeten, sitzen Zu Gast bei Trimalchio aus dem Satyricon des Petronius und inspizieren die US-amerikanische Landschaft nach dem Aufruhr. Brooke DiDonato schlüpft durch die angelehnte Tür des Unbewußten und entführt uns ins Wunderland ihrer Bilder. Floriane de Lassée porträtiert drei Generationen afrikanischer Erfolgsfrauen.
STILFRAGEN
Alles in die Vertikale! ist das Motto junger rebellischer Tänzer auf den Straßen von Los Angeles. Aus Hip-Hoppern und Stripdancern sind Krumper geworden, Widerstandstänzer gegen die Polizeigewalt, aus Clowns wurden Krieger. Gwenaëlle Aubry war dabei: „Radikal hoch oben sind wir, wenn wir tanzen, höher als die Watts Towers, höher als die Trump Towers, unsere Köpfe berühren das Königreich. Mit gespreizten Beinen stampfen wir den Boden, als wollten wir Ketten abschütteln, man bohrt die Erde, man weckt die Wurzeln auf, und dann plötzlich eine Drehung des Knies, ein Schlag auf den Feind von hinten. Stomp, unsere Schritte werden schneller, (...) unsere Schultern heben sich: Wobble, unsere Arme schwingen nach unten: Bounce, strecken sich, fangen auf oder werfen: Grab, unsere Hände schließen sich, eine Gerade mit der Führhand: Jab, unsere Finger öffnen sich, Zeigefinger und Daumen hochgestreckt: Talking, spreizen sich: Smack, unsere Fäuste ballen sich: Power.“
Gehen bekräftigt, daß man auf dieser Erde lebendig ist, so Nicholas Shakespeare. Der intellektuelle Wanderer George Steiner, ein passionierter Bergsteiger und Spaziergänger, sah die europäische Philosophie als vom Gehen geprägt; Europa sei von den Füßen geformt und humanisiert worden. Kant durchquerte Königsberg in chronometrischer Präzision, Kierkegaard streifte per pedes durch Kopenhagen, Coleridge dichtete und führte theologische Streitgespräche beim Stiefeln durch bergiges Gelände. Trevelyan verriet: „Ich habe zwei Ärzte, mein linkes und mein rechtes Bein.“ Und Kavafis lief durchs Land, „wie ein leerer Krug zum Brunnen geht – um gefüllt zu werden.“ Unser Autor hingegen wandert am liebsten unter dem Sternenhimmel Tasmaniens; wenn alle schlafen, öffnet er den Reißverschluß seines Zeltes, pirscht durchs nächtliche Dunkel und in der Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger eröffnen sich seinem Blick zweitausend Galaxien: Nachts gehen.
Boris Groys reflektiert über Anti-Philosophie und die Politik der Anerkennung. Ist das Bedürfnis nach Anerkennung mit einer philosophischen Haltung vereinbar? „Das Wort ‘Anerkennung’ ist politisch ambivalent. Unter einer Politik der Anerkennung versteht man oft eine Politik, die das Exkludierte inkludiert. Doch solch eine Politik der Inklusion, die eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Exkludierten voraussetzt, richtet sich de facto auf die Eliminierung der Metaposition, welche von den Ausgeschlossenen besetzt ist. Eine Politik der totalen Einbeziehung zielt darauf ab, sich des außerhalb der Gesellschaft liegenden Raums zu entledigen und jede externe, potentiell kritische Position gegenüber der Gesellschaft als Ganzes zu eliminieren. Diese Politik verlangt von jedem, nach denselben Regeln zu spielen, denselben Gesetzen zu gehorchen, dieselben Ziele zu verfolgen, um wie jeder andere angesehen und behandelt zu werden, und jeden anderen auf dieselbe Weise anzusehen und zu behandeln. Offensichtlich läuft diese inkludierende Anerkennung einer philosophischen exkludierenden Anerkennung zuwider, die nicht beabsichtigt, die Exkludierten in das gesellschaftliche Ganze zu integrieren, sondern die das Anerkannte gerade als Punkt außerhalb der Gesellschaft benutzt, von dem aus dieses Ganze kontemplativ geschaut, kritisiert und eventuell transformiert werden kann.“
Müssen Philosophen sich also jeglicher Vereinnahmung entziehen, um die Logik der Gesellschaft hinterfragen zu können? Wie erlangt man eine Metaposition jenseits gesellschaftlicher Regeln, die es erlaubt, durch souveräne Kontemplation völlige Unabhängigkeit gegenüber der etablierten Ordnung und Gesellschaft zu bewahren? Sokrates versuchte, die logische Struktur der etablierten Meinungen zu analysieren, anstatt sie nur zu akzeptieren oder abzulehnen, und wurde von seinen Mitbürgern dafür umgebracht. Und auch heute gilt: Der Philosoph muß Das Leben riskieren!
WIE KANN EUROPA ZU EUROPA WERDEN?
Der Historiker Perry Anderson rekonstruiert in seinem tiefschürfenden Essay den Werdegang der Europäischen Union. Er legt einige Geheimnisse ihrer wichtigsten Prozeduren, Entscheidungen und höchsten Kreise offen. Er erklärt, welche Bedeutung ein Bluff und eine Art von Putsch bei der Machtergreifung der Europäischen Union gegenüber ihren einzelnen Mitgliedsstaaten hatten. Ein Exkurs skizziert eine faszinierende, ganze Theorie des Staatsstreichs. Er porträtiert die wichtigsten Akteure der EU, beschreibt Integrationsdynamik und Stufenfolge ihrer Erweiterung sowie das Institutionengefüge der politischen Ordnung Europas: Europäische Kommission, Europäischer Rat, Europäisches Parlament, Europäischer Gerichtshof und Europäische Zentralbank. In ihrem zielgerichteten Zusammenspiel formiert sich trotz Brexit die Neuordnung des Kontinents zu einer immer engeren politischen Union. Scharfsinnige Beobachtungen und Blicke hinter die Kulissen: Operation Europa
Zhang Qianfan, Verfassungsrechtler an der Universität Peking, dessen Schriften der Zensur unterliegen, kämpft für die Etablierung einer Verfassungsdemokratie in China und die Beendigung der diktatorischen Herrschaft der Kommunistischen Partei. Seine differenzierte und erschütternde Diagnose der Gesellschaft ist Ausgangspunkt seines Plädoyers für eine Systemreform. Katastrophische und kriegerische Entwicklungen sind möglich, sollte es nicht zu einer konstitutionellen Neubesinnung des Landes kommen. Hundert Jahre nach dem Sturz des Kaisers finden sich die Chinesen in einer zentralistischen Einparteienherrschaft wieder. Der autokratische Staat ist übermächtig, die Freiheit des Individuums unterliegt strengsten Restriktionen und Kontrollen, flächendeckende visuelle und elektronische Überwachung überzieht das Land, Selbstbereicherung der Parteieliten, Korruption, Unterwürfigkeit und moralische Verwahrlosung durchziehen die Gesellschaft. Nie zuvor, so Zhang, erlebte diese Nation eine Zeit, in der es derart an Gerechtigkeit, Zivilcourage und Selbstbesinnung fehlte. Nie zuvor, so der Rechtsgelehrte weiter, gab es so viele profitgierige Beamte und Büttel, nie war die Luft so versmogt, die Nahrung so verseucht, nie schrumpften Chinas Steppen und Seen so rapide wie heutzutage. Sein faszinierender Rückblick auf die 3.000-jährige Kultur des konfuzianischen Chinas zeigt eine reaktionäre hierarchische Ordnung, in der teilweise die Verantwortung des Einzelnen zur Selbsterziehung und die moralische Selbstverbesserung normativen Rang hatte. Kann man dem jahrhundertelangen Alptraum autoritärer Herrschaft in China endlich ein Ende setzen? Könnten ethische Elemente des Konfuzianismus zu Erneuerungsressourcen für die Würde und Verantwortung des Einzelnen werden? Chinas Erneuerung. Warum das Land eine demokratische Verfassungspolitik braucht.
Der walisische Journalist Gareth Jones (1905–1935) opferte sein Leben bei dem Versuch, die Weltöffentlichkeit über die mit Kollektivierung und Kulakenvertreibung einhergehende Hungersnot in der Ukraine Anfang der 1930er Jahre zu informieren, der Millionen Menschen zum Opfer fielen. Auf eigene Faust schlug sich der Korrespondent durch die von der Öffentlichkeit abgeschotteten Gebiete der Sowjetunion und wurde Augenzeuge einer unvorstellbaren Hungerkatastrophe. Er versuchte durch seine Schriften, die Öffentlichkeit wachzurütteln: vergeblich. Manche kommunistischen Schriftsteller rechtfertigten die Kollektivierung der Agrarökonomie als grausame, aber notwendige Durchgangsstufe bei der Genesis einer besseren Welt, andere erblickten darin einen kalkulierten Vernichtungsplan des Stalinismus, den Holodomor. Der einsame Aufklärungskämpfer Jones scheiterte an Desinteresse und Feigheit, an verharmlosenden journalistischen Widersachern, an Ignoranz, Opportunismus und Intrigen. Auf einer Reise in das Konfliktgebiet der Mongolei wurde er 1935 ermordet. Georges Nivat erinnert an die Erfahrungen des resoluten Humanisten und würdigt den aktuellen Film von Agnieszka Holland zu seiner Person, „Mr. Jones“. Über Wahrheit, Verrat und den Preis des Widerstands gegen eine Vertuschungsaktion im Jahrhundert der Extreme: Die große Hungersnot.
MACHTMENSCHEN
Wie gelang es diesem jungen peronistischen Jesuiten namens Jorge Mario Bergoglio aus Buenos Aires, zum Heiligen Vater im Vatikan zu werden? Wie vollzog sich der Aufstieg eines Priesters, dem zu Zeiten der argentinischen Militärdiktatur Nähe nachgesagt wurde zu den Putschisten, die 30.000 Menschen umbrachten und mit etlichen Eminenzen der katholischen Kirche auf bestem Fuße standen? Wie wurde der Priester Bergoglio zum Kardinalerzbischof von Buenos Aires, und wie kam er – zur Überraschung fast aller Beobachter – auf den Besetzungszettel des Heiligen Stuhls? Wie ist seine Haltung zum weitverbreiteten Mißbrauch in seiner klerikalen Organisation? Und wie kann er sich behaupten in dieser jahrtausendealten römischen Institution voller Intrigen und Ranküne, von der intime Kenner sagen, ihre Mitglieder trügen tagsüber gerne Spitzen und wandelten des Nachts in Leder? Der irische Schriftsteller Colm Tóibín weiß den listigen Aufstieg zum Papst, ja sogar Das Lächeln Bergoglios zu entschlüsseln.
Unheilvolles Heulen vernimmt Philippe Videlier, wenn er zurückblickt auf jene Endzeit des Osmanischen Reiches, als Sultan Abdülhamid II Teile seiner Bevölkerung in Blut ertränkte und die Vertreibung und Vernichtung der Armenier und anderer Minderheiten befahl. Etliche Bevölkerungsgruppen fielen den Bereinigungsaktionen des Herrschers zum Opfer. Man deportierte und massakrierte sie massenhaft, die elenden Feinde, die „Hunde, Hündinnen und Bastarde von Hunden“. Der Autor erzählt auch vom Heulen der vormals geliebten tierischen Freunde von Istanbul, die man einfing und auf die Prinzeninseln deportierte, um sie dort an Hunger und Durst verenden zu lassen. Von „Hunden“, die es einzusperren und loszuwerden gilt, spricht man auch heute noch, in einem neuen Palast, bei einer neuen Art von Sultan, der von einem neuen Osmanischen Reich im Nahen Osten träumt. Es gilt, sehr wach zu sein, wenn man am Bosporus von Hunden spricht, die es zu beseitigen gilt: Plädoyer für die Hunde.
Rüdiger Görner huldigt Friedrich dem Großen. Gequälter und traumatisierter Sproß und Thronfolger des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I., war Friedrich II. zugleich Philosoph, Schriftsteller, Staatsmann, Feldherr und Musiker. Der Preußenkönig war Verfechter der Aufklärung und Toleranz, doch zugleich ein Machtphilosoph mit eisernem Sinn und ehernem Herzen. Er war ein Technokrat der politischen Maschinerie, der seine Untertanen als Monaden des Vernunftmosaiks Staat verstand. An seinem Hof in Sanssouci waren die Musen zuhause, der virtuose Flötenspieler bewunderte Johann Sebastian Bachs Musikalisches Opfer, und er war skrupelloser Initiator dreier bitterer Kriege – eine der widersprüchlichsten Figuren der deutschen Geschichte. Hegel sah mit Friedrich die Idee auf den Thron gehoben, Thomas Mann war er die Verkörperung eines Menschen, der sich seiner Zeit geopfert hat, Schiller wollte sich die Riesenarbeit seiner literarischen Idealisierung nicht aufbürden. Das Porträt eines „Großen von höchster Fragwürdigkeit“:Flöte und Krückstock
Napoleon, das war eine europäische Faszinationsfigur und das Spektrum seiner Beurteilungen reichte von der Verehrung zur Verachtung, vom Ressentiment zur Idealisierung. Es gab den antiquierten Kriegsgott, den republikanischen Helden, den notwendigen Zerstörer, den Friedensstifter, Revolutionsvollender und Republikretter, den weltumschaffenden Halbgott, den Zerschmetterer des Klerikalismus, aber auch den Verräter an der Revolution und den Schöpfer eines neuen Despotismus. Wie sah Friedrich Nietzsche diesen Welteroberer? Seine Betrachtungen reichen von einer frühe heldenromantischen Verehrung hin zu einem Verständnis von Napoleon als Typus des großen Menschen, später des Übermenschen. Er erschien ihm als „Wunder an Sinn“, als „Schluß-Tyrann“, der einem anarchistischen, entgleisten Machtkampf aller gegen aller ein Ende bereitete; als Herrscher antiken Wesens, als modernes Musterexemplar des vornehmen Typus, als Synthese von Unmensch und Übermensch; als Fleischwerdung der Herrschsucht, als Gott aus der Tiefe, der die Kreaturen seiner Politik künstlergleich formte. „Die Revolution ermöglichte Napoleon: Das ist ihre Rechtfertigung. Um einen ähnlichen Preis würde man sich den anarchistischen Umsturz unserer ganzen Zivilisation wünschen müssen.“ Aber Nietzsche sagt auch: „Solche Menschen wie Napoleon müssen immer wieder kommen und den Glauben an die Selbstherrlichkeit des einzelnen befestigen: er selber aber war durch die Mittel, die er anwenden mußte, korrumpiert worden und hatte die noblesse des Charakters verloren. Unter einer andern Art Mensch sich durchsetzend, hätte er andere Mittel anwenden können; und so wäre es nicht notwendig, daß ein Cäsar schlecht werden müßte.“ Der Philosoph Jürgen Große rekonstruiert in Nietzsches Napoleon die komplexen Metamorphosen seines Napoleonbildes, seine Verständnis von diesem Symbol „großer Politik“, das Symbol des „vornehmen Typus“ und eines „höheren Menschen“.
LEBENSWEGE
Der deutsch-iranische Dichter SAID besingt in seinem Poem kaddisch für einen verblendeten das Schicksal eines künstlerischen Außenseiters in einer Welt der Normalität: „(...) nur die ohne charakter legen sich eine methode zu. ich hingegen habe nur einen geschmack, /samt der einschlägigen passion. damit brachte ich es immerhin fertig, gleichzeitig frauen und /der freiheit zu huldigen. (...) / ich habe mich /nie gelangweilt, denn ich suchte keine herrschaft, nur die schönheit. /man beschimpft mich oft als agenten des südens im schlafgemach des nordens. ich bekenne /mich vormittags zum islam. ab 18 uhr diene ich dem abendland. ... /meine poesie ist vom fleisch genährt, ich habe stets von wirklichen dingen gesprochen ...“
Bora Ćosićs „Abhandlung über die Genealogie der Geister in unserem kleinen literarischen Umfeld“ huldigt einer genial-schöpferischen, aber fast vergessenen Übersetzerin des Gastmahls bei Trimalchio aus Petronius’ Satyricon ins Serbokroatische. Er erinnert sich an ihre Lebensumstände: „Frau Cica Šalabalić ... gab nichts von sich preis. Für mich blieb sie der Schatten im Halbdunkel des Haustors, mit Brille und viel Mißtrauen, das sie, denke ich, gegenüber dem Rest der Welt hegte. Ich erinnere mich dunkel an diese ganze Zeit, in der sich, dort irgendwo im Souterrain, ein autistisches Geschöpf aufhielt, als wäre es wütend auf alle um es herum, von einem beinahe verrückten Benehmen. Doch fließt in den paar düsteren Räumen ein Text von unübersehbarer Schönheit, Weisheit und Heiterkeit ...
In der Villa oben lebte eine Familie von Ärzten, Rechtsanwälten, Journalisten und ganz anständigen Menschen ... In allen Farben schillert sie, die weitere Umgebung dieser Villa. In der Nähe gab es lange die Garagen der Armee des Königreichs Jugoslawien, so hieß die Gegend auch ‘Auto-Kommando’. Auf einer Anhöhe sind zwei Fußballstadien, dann die Villa des ermordeten Kriegsverbrechers Arkan und seiner Frau, einer Volksliedsängerin. Die Gegend wimmelt von kleinen Kneipen, winzigen Kramläden, türkischen Burekbäckereien, Schuster- und Schneiderwerkstätten, Friseursalons für ‘Damen und Herren’, Friedhofsgärtnereien, Kerzenverkäufern, Konditoren und Kurzwarenhändlern. Säufer, Lastenträger, Strolche, Bäcker, Sängerinnen, Kriegs- und andere Verbrecher, Fußballer und ihre Fans, Chauffeure, Kutscher und Taxifahrer, Büfettiers und Findelkinder. Das war das Umfeld des Gastmahls des Trimalchio von Frau Šalabalić, und so ist es überwiegend auch heute ...“
Maike Albath, intime Vertraute der italienischen Kultur, erinnert sich an eine Art der Begegnung und die Biographie eines literarischen Lebens- und Liebeskünstlers, Ketzers und Anregers, im Getümmel und Gewimmel der kosmopolitischen Hafenstadt: Bobi Bazlen. Sie zeigt uns eine Stadt inspirierender Begegnungen und gelehrter Experimente, amouröser Biographien und kapriziöser Lebensentwürfe. Von Cafés und Salons, bizarren Figuren und Abenteurern des Lebens, Karrieristen und Scheiternden, humanistischen und faschistischen Parallelgesellschaften: Zurück nach Triest
BRIEFE UND KOMMENTARE
Mit dem scheiternden Sturm auf das Kapitol und der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten erlebte das weltweite Tauziehen von Demokratie und Autoritarismus eine wichtige Umkehrung. Stephen Eric Bronner zeichnet die amerikanische Landschaft nach dem Aufruhr und die Situation der republikanischen Partei. „Warum sich exponieren, wenn sich Trumps Partisanen bei der nächsten Wahl rächen? Nach dem augenblicklichen Stand der Dinge fehlt es den „moderaten“ Republikanern an einer echten Basis in der Partei. Sie sind vollkommen isoliert, und es ist gut möglich, daß sich die Partei spaltet – zur großen Freude der Demokraten. Sollten die Kongreßwahlen 2022 nicht in einer Katastrophe enden, werden diese rückgratlosen Leute zweifellos so weitermachen wie bisher. Und noch immer besteht die Möglichkeit, daß Trump 2024 noch einmal zur Wahl antritt. Schon jetzt haben seine Verbündeten unter den Staatsbeamten in Arizona, Georgia, Texas, Oregon, Michigan und einigen anderen Staaten die Kritiker des ehemaligen Präsidenten zum Schweigen gebracht. Abtrünnige kommen wieder angekrochen nach Mar-a-Largo, um Trump die Stiefel zu lecken. Dutzende Gauner, Rassisten und enge Freunde wurden begnadigt. Ivanka plant ihre Kandidatur für den Senat in Florida, Erics Frau Lara überlegt noch, ob sie für den Senat in North Carolina kandidiert, und Schleimbeutel Don Jr. erwägt gar eine Präsidentschaftskandidatur. Es kann gut sein, daß Hardcore-Fans von „the Donald“ 2024 einen neuen Demagogen brauchen, der ihrer Hysterie, Paranoia und ihrem Verschwörungsfetischismus Ausdruck verleiht. Aber es gibt ja immer noch seine Kinder; außerdem sitzen genug andere dubiose Kandidaten in den Startlöchern, die bereit sind, demokratische Verfahren, ökonomische Gleichheit und Weltoffenheit zu behindern. Auf einen wirklichen Widerstand wartet viel Arbeit, und die Edmund Burke zugeschriebenen Worte: „Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun“ bekommen eine ganz neue Bedeutung.
Eine tour d’horizon vom Verfassungsverständnis der antiken Polis zu konstitutionellen Fragen unserer Zeit unternimmt Birger P. Priddat in Die Antike Polis und die heutige Demokratie und nimmt den Quellcode der athenischen Polis als Matrix unseres Verfassungsverständnisses. Die grundlegende Verfaßtheit aller Verfassungen ist nicht die Demokratie selbst, sondern bezieht sich auf das Hoheitsrecht über die Wahl von Verfassungen. Die wunderbaren Eigenschaften der Bürger, ihre Tugenden, Freundschaften, ihre Kampfbereitschaft zur Verteidigung ihrer Politik, sind bereits zu der Zeit ihrer Niederschrift normativ-romantische Konzepte, immer um einen Topos kreisend: Daß die Erfindung der Demokratie als Selbstherrschaft bloß nicht aufgegeben werden möge, weil man sonst niemals wieder in den Zustand der Freiheit der Selbstbestimmung zurückfände. Man vergewissert sich auch immer wieder der Ungeheuerlichkeit, wie in einer Welt der „Herrschaft“ (der Despotien) eine kleine mittelmeerische Kohorte die „Politik“ erfindet, das heißt nämlich nur jene Herrschaft zuzulassen, die man über sich selbst ausübt. Selbst wenn man diese Freiheit an Tyrannen delegiert, haben sie Revisionsrechte. (...) „Die Gesellschaften heute sind nicht nur zu groß für athenische Politikformate, auch sind die Zukünfte zu ungewiß, als daß wir wahrscheinlich vermeiden können, entweder idiotische Tyrannen (schlecht) oder aristokratische Könige (gut) zu wollen, die uns mit ihrer hard oder good governance die Komplexität zu reduzieren versprechen. Daß 27 Länder die EU regieren, ist eine Kunst, welche die Kompetenz jeder Polis hochgradig überstiege. Daß sie die EU letztlich undemokratisch regieren, vom demos direkt entkoppelt, als funktionale Großbürokratie ist die sichtbarste Differenz zur politischen Erinnerungskultur der demokratischen Formen. Wir haben es bei der EU – antik betrachtet – mit einem attisch-persischen Hybrid zu tun: die für sich demokratischen Poleis (Länder) stehen unter funktionaler Herrschaft (bürokratische Despotie) ohne Herrscherfigur (vielmehr ein politischer Führungsklub eingebildeter Aristokraten, machtvoller Gut-Menschen (aristoi) unter Lobbyeinfluß (plutoi)). So betrachtet, ist die EU eher ein römisches Modell, bevor die res publica in ein Kaisertum umkippte.“
„Oh Wien! Wie hier alles aufeinanderknallte. Antagonisten und Protagonisten, Aktion, Reaktion, Monarchie und Moderne, Zionismus, Antisemitismus, Armut und die gesammelte Dekadenz des Fin de Siècle, sein allmächtiger Höhepunkt geistiger Schaffenskraft, Freuds Psychoanalyse, Mahlers Theaterrevolutionen, Schieles Bilder. Pausenlose Prostitution, Séparées, in Sittenrüstungen gekleidete Frauenzimmer und mit 14 verheiratete Mädchen. Extreme von epischen Dimensionen, zwischen denen die gewaltigsten Energien fließen konnten. Es hatte Gründe, daß Freud, Wittgenstein und Schiele keine Pariser waren. Zu tief die Abgründe, zu blühend bunt die Neurosen, an denen sich ihre Gehirne austoben konnten." Konstantin Arnold war in Wien und konstatiert Wien kann helfen: gegen Tugendterror und Zeigefinger, gegen Dogma, Todschlag und allerletzte Wahrheiten, gegen die Atombombe der Moral. Eine Liebeserklärung an die Donaustadt der Moderne und die dort herrschende Freiheit der Kunst.
Jean-Claude Pinson erinnert sich an revolutionsromantische Abenteuer seines Studentenlebens, an seine Zeit als Aktivist unter Eisenbahnern und auf Atlantikwerften, an die verführerische Metapher, mit der Lokomotive der Geschichte in die paradiesischen Zustände politischer Freiheit und Gerechtigkeit gelangen zu können. Nach dem Katzenjammer folgte die Wiederentdeckung des „dichterischen Wohnens“, des Tanzes der Jahreszeiten, des pastoralen Lebens, des maritimen Zaubers, der Wunder der bukolischen Natur ... Einst gab man mit der roten Fahne das Zeichen zum Aufbruch, heute denkt man daran, daß sie Schrankenwärtern mit Kupferhorn und Sturmlaterne auch als Alarmsignal diente.
KORRESPONDENZEN
Ulf Peter Hallberg schickt aus Malmö Erinnerungen an den verstorbenen Freund: „Lawrence Ferlinghettis Name klingt nach Zirkusartist, vielleicht einem Seiltänzer. Seine Gedichte stammen aus einer Epoche, da man noch an Träume und Einfühlung glaubte. An das Echte! Man kämpfte gegen den Krieg, die Gesellschaft, die Normalität, den kapitalistischen Bluff, ja gegen jede Art von Steuerung: Nicht nachgeben, alles durchschauen! Allen Ginsberg meinte: „Das Beste in uns entsteht aus unserer Verletzlichkeit.“ Ferlinghetti sagte: „Mein Freund Allen Ginsberg hat gesagt: /Das Wichtige beim Sterben ist, /zu fokussieren, /sich darauf zu konzentrieren. /Dasselbe gilt für das Leben. /Tötet nicht alle Träume!“
Oksana Timofejewa aus Sankt Petersburg beobachtet die heftigen Proteste gegen die Deportierung Alexander Nawalnys und staunt über die unerwartet zahlreichen Menschen, die den Mut gefunden haben, trotz einer enthemmten Polizeigewalt auf die Straße zu gehen. Ein Riß geht heute durch die russische Gesellschaft und zahllose Menschen haben bereits mit der herrschenden Macht innerlich gebrochen: Die Schwelle ist überschritten.
Sergio Benvenuto analysiert die überraschende Komposition der neuen italienischen Regierung unter EZB-„Superman“ Mario Draghi und fragt, wie diese Regierungskonstellation aus Nicht-Politikern, Fachleuten und Experten, an die Macht gelangen konnte. Als Königsmacher sieht er den früheren Ministerpräsidenten Renzi, der mit einem raffinierten Machtspiel der vorangegangenen Regierung Contes das Überleben verbaute: In der italienischen Hauptstadt herrscht nunmehr Das Römische Triumvirat.
Unbeeindruckt von den dramatischen Ereignissen während der Französischen Revolution empfängt und tanzt die Schriftstellerin Madame de Krüdener weiter in ihrem Salon. Inmitten einer Zeit grundlegender Umwälzungen verkörpert die Mystikerin die Sehnsucht nach dem Übernatürlichen. Als Schriftstellerin wird ihr zwar Anerkennung gezollt, als sie jedoch beginnt, sich für die Armen einzusetzen, wird sie als „Sozialistin“ zum Sündenbock gemacht. Suzanne Brøgger zieht in Schaltanz eine Linie von den Umwälzungen des späten 18. Jahrhunderts hin zu aktuellen Veränderungen durch die #MeToo-Bewegung, die schon zu einer „Entthronung“ jener Kunst geführt hat, wo gottgleiche Künstler als Rollenmodelle für „nine to five“-Angestellte dienten, mit einem Freibrief für ihr Tun. Während die Frauen in Brøggers Generation es fast als normal empfanden, durch (sexuelle) Zugeständnisse Zugang zu den Tempeln der Kunst zu erhalten, so stellen junge Frauen dies heute in Frage, wehren sich. Doch auch die Ehen halten nicht, weder im Fernsehen noch in der realen Welt. „Das ist auch nicht nötig. Man kann nur sich selbst heiraten.“
Herbert Maurer sieht Frühlingslüfte und Frühlingsgefühle sich regen an der schönen blauen Donau und widmet sich der „Wiener Liebe“ und ihren kultursoziologischen, kardiologischen und kriminalpsychologischen Folgeerscheinungen. Wer das Wort „Liebe“ auch nur denkt, geschweige denn ausspricht oder die Liebe gar besingt, sollte den schönsten aller Wiener Imperative vor Augen haben: „Nua ka schmoez net – nur kein Schmalz“. Mit dem fein kalibrierten Wort „schmoez“, also „Schmalz“ oder Schweinefett in konsistenter Form, wird nicht nur die Liebe ins Herz getroffen. Auch die Folgen angewandter, gedachter und unausgesprochener Liebe vom pathosbeseelten Eros bis zum lächerlichen Techtelmechtel, von der platonischen Neigung zur Idee des Guten bis zum hingebungsvollen Kosen eines kläffenden Schoßhündchens werden schonungslos entblößt, oder, um Wiener Amtsdeutsch in seiner hölzernen Art zu bemühen „zur Aufdeckung gebracht“. ... Mit der Vermeidung von „schmoez“, mit der Warnung vor Kitsch und Gefühlsduselei wird größte Vorsicht bei der romantischen bis hin zur käuflichen Liebe eingemahnt, aber eben auch die Vermeidung eines Gefängnisaufenthaltes, denn „schmoez“ steht auch für den richtigen „Knast“. Eine heikle Gradwanderung zwischen Schmalz und Schmoez – Kann das gut gehen?
KUNST
Die amerikanische Photographin Brooke DiDonato spielt mit hyper-femininen Versionen ihres „Ichs“, sie lotet Spielräume von Geschlechterrollen und deren stereotype Grenzen aus. Sie schlüpft durch die angelehnte Tür des Unbewußten und gibt surrealen Bildwelten Raum. Das Portfolio ist den Arbeiten der französischen Photographin Floriane de Lassée gewidmet. Sie porträtiert Frauen dreier Generationen in Afrika, optimistisch, feminin, strahlend, gegenwartserfüllt: Mamas Benz
Wir wünschen Ihnen anregende und abwechslungsreiche Lektüre! Jetzt erst recht.
Bleiben Sie uns gewogen!
Mit den besten Grüßen,
Lettre International