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Lettre aktuell 1/2023



Lettre International 140 / Neue Ausgabe


 

Verehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser, liebe Freunde,

heute, am 24. März 2023, erscheint mit Nr. 140 die Frühjahrsausgabe von Lettre International. Sie liegt im Buchhandel, am Kiosk, an Bahnhöfen und Flughäfen sowie ab Verlag für Sie bereit. Neben spannenden Themen und Texten finden Sie für diese Ausgabe geschaffene Bilder des Künstlers Marcel Eichner. Der Photograph Juan Manuel Castro Prieto eröffnet uns ein Kuriositätenkabinett.

Erlauben Sie uns den Hinweis, daß im Anschluß an die Vorstellung des neuen Heftes einige Hintergrundinformationen zur Auseinandersetzung zwischen Lettre International und der Akademie der Künste zu finden sind.


UNSER KURZMENÜ

Mark Belorusez, Nikolai Kononow und Evgen Bavčar berichten über Krieg, Autokratie und Geschichte, aus der Ukraine, aus Moskau und aus der Kulturstadt Europas 2025, dem slowenischen Gorica. Dieter Bachmann und Paul Nizon leiden an ihrer Heimat Schweiz. Web-Vordenker Geert Lovink diagnostiziert eine Internetdämmerung, ein Ende der Netzkulturen. Michaël Fœssel sucht nach Horizonten der Freiheit in der ökologischen Kritik an der Moderne: Natur, Kosmos, Welt. Iain Sinclair führt uns durch das gigantische Bauprojekt eines neuen Kanalisiationssystems für London. Martin Burckhardt verbindet Kernspaltung, prometheische Scham, digitale Kontamination und Identitätsobsession: Im Zeichen des Dividuums. Der Psychoanalytiker Christian Kläui betrachtet Kindstötung und Todesstrafe als Akt der Perversion. Der Theatermagier Peter Brook reflektiert über Bühne und Musik: Spielen nach Gehör. Roland Zag verfolgt das Schicksal Neuer Musik im deutschsprachigen Raum. Durch Georges Nivat belauschen wir Ossip Mandelstams Plaudereien mit Dante. John Lahr stürzt sich kopfüber in Buster Keatons rasantes Leben, Ulysses Belz macht sich ein Bild von Botho Strauß: Das Bibliotheksgespenst. Arne Eppers durchstreift Küstenregionen und Theodor Storms Norden. Helmut Böttiger vernimmt mit Lutz Seiler ein Ticken der Kartoffeln in den Speisekammern der alten DDR. Wir erinnern uns an Sam und Top, erleben Libyens Chaos und das Wunder von Peking, erleben Nächte aus Martinique, besuchen das Österreichische Parlament und Boccaccios Florenz, durchstöbern als Archivratte Moskauer Archive, handeln im Auftrag eines Prinzen und betrachten Putins Herrschaftsweise. Der Berliner Künstler Marcel Eichner führt uns mit seinen für dieses Heft geschaffenen Bildern in traumwandlerische Szenerien. Juan Manuel Castro Prieto öffnet uns sein photographisches Kuriositätenkabinett.


HEIMATKUNDE

In seinem Bericht Leichnam des Imperiums resümiert Mark Belorusez, der ukrainische Übersetzer deutscher Poesie, den Überfall Rußlands auf seine Heimat: „Als das Zarenreich zusammenbrach, erbte Moskau die Geschichte der großen Bruderschaft der Nationen. Die russische Führung und die Propagandisten wiederholten immer wieder diesen Mythos vom goldenen Zeitalter der Sowjetmacht und der brüderlichen Liebe, welche die Völker um das große Rußland herum vereinte. Moskau litt unter Phantomschmerzen, ähnlich wie ein Mensch unter einem verlorenen Arm oder Bein leidet. Seit dreißig Jahren wird Rußland diesen Phantomschmerz nicht los. In seinem Inneren hämmert ein totes Imperium gegen die Wände seines Sarges. Es will die Vergangenheit wiederbeleben, das Rad der Geschichte zurückdrehen. Die unterdrückte Ukraine ist die letzte Hoffnung des Toten. Aus dem Munde der russischen Bosse und Propagandisten verflucht der Imperiumsleichnam alle Ukrainer als Satanisten, Nationalisten und Perverse, und er verdammt den durch demokratische Laster kontaminierten Westen und droht mit Atomwaffen [...] Das tote Imperium ist bereit, Hunderttausende von Russen zum Sterben in die Ukraine zu schicken, damit der Fluß des Blutes nicht versiegt, denn der tote Mann braucht Rußland auch nicht, er will allein das Imperium wieder auferstehen lassen. Aber nichts kann einen Toten wieder zum Leben erwecken. [...] Der russisch-ukrainische Krieg erscheint zuweilen wie ein Alptraum, aus dem man nicht in die Realität zurückkehren kann. Es ist wie ein Traum im Traum, der aus einer anderen Traumzeit stammt, aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als ‘Genosse Stalin’ die Pferde des Kalten Krieges mit der Atompeitsche traktierte. Doch Stalins Karren ritt schließlich auf ihm selbst. Seine Schergen haben sich um ihn gekümmert. Ich vermute, daß es mit dem derzeitigen ‘Stalin’ genauso sein wird. Erst dann wird es möglich sein, aufzuwachen.“

Der ins Exil geflüchtete Nikolai Kononow protokolliert in seinem Rückblick die Entwicklungen der 35 Jahre seit der sowjetischen Perestroika im Jahre 1988. Es war eine Zeit, als der Dissident und Atomwissenschaftler Andrei Sacharow zum ersten Mal öffentlich fordern konnte, daß das KGB von Abgeordneten kontrolliert werden sollte. Die Straßen Moskaus hatten sich wiederbelebt, verschiedenste politische Bewegungen konkurrierten in einem kurzen Karneval der Freiheit, 1991 kamen die Scorpions mit ihrem „Wind of Change“, Jelzin trat als Hoffnungsträger hervor, 1994 besucht Prinz Philipp den Roten Platz, 1996 dauert der Tschetschenienkrieg bereits seit einigen Jahren an, dann entsteht Nostalgie nach der Stalinschen Epoche und der Größe der UdSSR, nationale Ressentiments greifen um sich, 2004 redet man davon, daß der KGB wieder an der Macht sei, 2007 spricht Putin vom Untergang der Sowjetunion als der größten geopolitischen Katastrophe, 2014 folgt die Annexion der Krim. Die junge Generation muß erkennen, daß sie nicht an der Akkumulation des ursprünglichen Kapitals teilgenommen hatte und in die Falle des Apolitischen geraten war. Als man Nawalny vergiftete und an der ukrainischen Grenze Militärmanöver stattfanden, hoffte man, es werde schon nichts passieren ... betäubt von toxischen Substanzen und eingelullt in süßer Starre. Dann erwacht diese Generation durch einen Schlag: Krieg! So wird unser Autor zum Heimatlosen und bald auch offiziell zum Verräter gemacht.

Dieter Bachmann zeigt uns die reiche Schweiz: Über dem See. Auf das Schweigen des dunklen Wassers starrt der Einsame, das Fenster seines Schlafzimmers geht auf den See hinaus. Anton Straub ist bitterer geworden, schwerhörig. Die anderen sind ihm verhaßt, hier in den Villenorten des Tessins, er, der Chefarzt war und Chirurg, ihm ist das Haus viel zu groß geworden seit dem Tod seiner Frau. Er denkt über sein Leben nach und wartet auf den Tod. Hier, in seinem Sterbeland. Das alte Tessin gibt es nicht mehr, er aber hat es noch gesehen. Er lebt unter Reichen, die leben wie Indianer in Pueblos, übereinander geschachtelt, ineinander geschichtet, eng aneinander, jeder verbarrikadiert sich, so gut es geht, baut Mauern, zieht Hecken, errichtet Stahlglaswände zum Nachbarn. Das häufigste Schild heißt „Privato“. Jede Wabe eine Monade. Straub lebt im Abseits, aber er bleibt auf dem Posten. Er wehrt sich, er hat doch nicht ein Leben lang hart gearbeitet in einem Beruf der Menschlichkeit, um sich einschüchtern zu lassen vom Gerede der anderen hier, die herausposaunen, die Schweiz sei neutral und dürfe sich in nichts einmischen. Es reicht ihm. Es ist die Schande, die uns einmalig macht in Europa, sagt er. Der Eigennutz. Das Abseitsstehen. Schau nur mal die Landkarte an, diesen weißen Unschuldsfleck. Mit dieser sogenannten Neutralität, die nur dafür da ist, daß unsere Banken das Geld der russischen Oligarchen horten können. Und das Geld der anderen Drecksäcke. Die Waffen, die wir ins Ausland verkaufen, sind dafür gemacht, Krieg zu führen und Menschen umzubringen. Wofür denn sonst? Ein Schweizer Psychogramm.

Eine magische Stadt, nennt Evgen Bavčar sie, eine Stadt voller Paradoxa und Widersprüche. Er kennt sie seit früher Kindheit. Kein Stein, kein Weg, kein Fluß ohne Zeugnis der grausamen Geschichte Europas. Anfang des 20. Jahrhunderts von den Slowenen Gorica genannt, da mehrheitlich slowenisch, im Unterschied zu Triest, wo die Italiener dominierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als man die Grenze zog, wurde der italienische Teil auf slowenisch zu „Stara Gorica“ (Alt-Gorica), der slowenische, auf jugoslawischer Seite erbaute Teil zu „Nova Gorica“ (Neu-Gorica). In dieser Stadt führen unterschiedlichste historische Stränge zusammen. Hier finden sich die prägenden Divergenzen zwischen politischer Geschichte und Kulturgeschichte. Hier ranken sich Legenden um das Marienheiligtum von Sveta Gora, bekannt für sein Gnadenbild, hier befindet sich die Ruhestädte des letzten Bourbonen Karls X., hier, an der italienischen Isonzo-Front, fanden Schlächtereien des Ersten Weltkriegs einen Schauplatz. Hier wirkten berühmte Maler, Schriftsteller, Musiker, Dichter, hier kristallisierte sich die Tragödie Mitteleuropas heraus. Über die komplexe Identität eines Ortes, ihrer Bewohner, Sprachen und Kulturen, deren Grenze schmerzhafte Erinnerungen an die Trennungen in sich birgt, und die doch das Versprechen einer kommenden Blüte in sich trägt.

Iain Sinclair, Londons unermüdlicher Stadterforscher, steigt hinab in Londons große Röhre. In der Gegenwelt des Untergrunds erkundet er das Verdauungssystem der Stadt und inspiziert ein gigantisches Bauvorhaben: die Erneuerung der Hauptschlagader des Kanalisationsnetzes der Themse-Metropole. Diese Röhre ist ein Triumph ziviler Baukünste. Sie neigt sich sanft gen Osten. Sie folgt dem Geld, den Möglichkeiten und Gelegenheiten am Flußufer: Chelsea Embankment, Nine Elms, Victoria Embankment, Shad Thames. Viele Geheimnisse Londons, architektonische, soziale, kulturelle, steuerliche, apokalyptische, akkumulieren sich in diese Richtung. Der neue Super Sewer startet in einem vierzig Meter langen, betonummantelten Loch, umschmeichelt alle Windungen der Themse und mündet zuletzt in eine sechzig Meter lange Grube: Hier hat er sein Rendezvous mit einem atemberaubenden viktorianischen Abfluß.

BESTANDSAUFNAHME

Martin Burckhardt zerbricht sich den Kopf über die Kernspaltung. Erhob mit dem Grauen Hiroshimas eine kühle, antihumanistische und gänzlich technologische Gottheit — ja, der Inbegriff des Bösen — sein Haupt, so hat die Kernkraft diese dunkle Aura niemals mehr abstreifen können. Das Projekt der Moderne scheint mit der Hiroshima-Bombe selbst fragwürdig geworden zu sein. Die Nutzung der Kernkraft hat man mit einem Generalverdacht belegt. Selbst dort, wo dies in friedlicher Absicht geschieht, hat eine Form der psychischen Lähmung, ja der Begriffslosigkeit die Nachkommen ergriffen. Günter Anders sprach von einer prometheischen Scham, der Geistesverirrung eines Schöpfers, der die Frucht seines Denkens verleugnet. Muß also der Bewohner der Moderne als strukturell zwiegespaltene Person begriffen werden, als Doktor Jekyll und Mr. Hyde? ... Was hat diese psychische Kernspaltung mit den digitalen Schatten zu tun, die heute einen jeden unentrinnbar verfolgen? Oder auch mit dem ubiquitären Furor der Identitätspolitik? Lassen sich derartige Identitätsverheißungen überhaupt einlösen? Oder sollte man die Suche nach einem authentischen Selbst aufgeben und das Moment der Spaltung als Voraussetzung eines vielversprechenden neuen Menschenbildes begreifen? Die Akzeptanz der Brüchigkeit des Einzelnen könnte zu einer ganz neuen Potenz werden, so der Autor in seiner virtuosen Betrachtung: Im Zeichen des Dividuums.

Überlegungen zur ontologischen Wende der Kritik an der Moderne und zur Rehabilitierung des Unendlichen präsentiert der französische Philosoph Michaël Fœssel in Kosmos, Natur, Welt. Die heutige Kritik der Moderne trägt den Namen „naturalistische Ontologie“. In einer Welt endlicher Ressourcen sind unendliche Wünsche nicht mehr zu verwirklichen. Sollte es mit dem Projekt der Moderne so weitergehen, wird sich bald erweisen, daß dies mit der Existenz eines einzigen bewohnbaren Planeten unvereinbar ist. Es ist geboten, als Bewohner eines endlichen Kosmos und nicht als Beobachter einer auf Distanz gehaltenen Natur zu handeln. Muß man also fortan auf das Projekt der Moderne verzichten, weil dieses die terrestrischen Bedingungen seiner Verwirklichung nicht bedacht hat? Kehren wir zu einer geschlossenen Welt zurück? Oder geht nicht doch die Welt über die Natur hinaus, so wie der Horizont über den Boden hinausgeht? „Mögliches, sonst ersticke ich!“ meinte Gilles Deleuze.

Geert Lovink, Vordenker des World Wide Web, konstatiert eine Internetdämmerung und das Absterben der Einbildungskraft im Internet. Die einstige Utopie einer universellen freien Internet-Kommunikation ist ausgeträumt. Die Netzkulturen, wie freie Geister sie kannten, existieren nicht mehr. Das „Netzwerk aus Netzwerken“ hat sich gegen zentralisierte Plattformen und Staatskontrolle nicht behaupten können. Während sich der Fokus auf eine Parallelwelt mit Krypto, Blockchain und Bezahlsystemen verschob, wurde die Dimension des Techno-Sozialen vernachlässigt. Das Vergessen der kurzen Epoche der Freiheit mit all ihren Merkwürdigkeiten und Fehlern ist kein Indiz für einen unaufhaltsamen Fortschritt. Im Gegenteil: Vor uns türmen sich die Datentrümmer. Wird man noch einmal neu mit der Utopie freier Kooperation experimentieren können? Eine Bestandsaufnahme.

Marco Baschera analysiert die Beziehung von Hand und Denken. Die Interpretation, welche die Welt durch die Algorithmen erfährt, verändert diese in allen Lebensbereichen. Der Mensch verändert die Welt und sich selbst auf fundamentale Weise, je mehr er sie durch die Digitalisierung erfaßt und interpretiert. Eine Art von hybridem Rausch hat die Technologie ergriffen. Sie bindet die Welt und den Menschen in ihr System ein. Die Wissenschaften können sich nicht entziehen. Ihre Mathematisierung und Quantifizierung distanziert sie zunehmend von unserer Lebenswelt. Eine Einheitssprache, das globale Englisch, verdrängt alle anderen und führt zum Verlust eines immensen semantischen Reichtums, den alle Sprachen zusammen darstellen. Die Transplantationsmedizin befördert die Vorstellung von sterbenden Menschen oder von Tieren als Ersatzteillager. Die kognitiven Wissenschaften, voran die Neurowissenschaften, verstehen das menschliche Hirn und Denken als ein beschreib-, imitierbares und verbesserungsfähiges, funktionales System ... Und was geschieht mit der menschlichen Hand?

Das Tötungsverbot gilt universell, aber in unterschiedlichen Kulturräumen wird es von je eigenen Geschichten, Mythen und Traditionen abgeleitet und getragen. Die Kindstötung verkörpert die gravierendste Zuspitzung grausamen Unrechts. Mit Abraham und Isaak und mit Medea haben sich zwei Erzählungen von Kindstötungen als Ursprungsmythen und Leitmotive durch die Jahrhunderte in unserer Kulturgeschichte erhalten. Beide erzählen von grundlegenden existentiellen Krisen, beide gehören zu elementaren Geschichten der Menschheit, die verstörend bleiben und nie erschöpfend ausgedeutet sein werden. Mit Hilfe einer psychoanalytisch informierten Re-Lektüre dieser mythischen Geschichten entwickelt der Schweizer Psychoanalytiker Christian Kläui seine Haltung zu Tötungsverbot und Todesstrafe: Ein Kind wird getötet.

MUSIK UND SPIEL

Warum ist die zeitgenössische Konzertmusik weitgehend aus dem Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit verschwunden? Verglichen mit Kunst, Film, Literatur lebt Neue Musik in Deutschland heute eher am Rande öffentlicher Sichtbarkeit – fast unbegreiflich für ein der „klassischen“ Musik traditionell so zugetanes Land: Konzerthäuser, Opernhäuser, Orchester, Musikhochschulen sind doch Ausdruck einer historisch gewachsenen öffentlichen Wertschätzung. In deren Zentrum steht das Phänomen der Gefühlstiefe. Musiker schufen die Voraussetzung für tiefe emotionale Resonanz; die Gesellschaft reagierte mit Wertschätzung und Aufmerksamkeit. Dieser „ungeschriebene Kunstvertrag“ wurde im 19. Jahrhundert von nationalistischen Klischees überwuchert, welche einer „deutschen Tiefe“ eine Sonderstellung zuerkannten. Diese behauptete Tiefe wurde später zum Einfallstor für die Ideologie des Nationalsozialismus. Aus dieser trau-matisierenden Erfahrung haben sich seither weder Komponisten noch Zuhörer lösen können. Tiefe Gefühle wurden seither aus dem Repertoire der Musik verbannt – nichts sollte erneuter ideologischer Instrumentalisierung Vorschub leisten können. Aus dieser emotionalen Askese entstanden diverse Schulen. Ihnen gemein war, daß sie aus Sicht des Publikums zwar brillante Theorien, aber nur schwer zugängliche Ergebnisse hervorbrachten. Man begegnet(e) der Neuen Musik mit bewundernder Ergebenheit – doch auch mit Entfremdung und Teilnahmslosigkeit. Wie könnten Wege aus dieser Krise aussehen? Aus der Tiefe. Ein Verstehensversuch von Roland Zag.

Der Musikwissenschaftler Constantin Floros würdigt György Ligeti (1923—2006) aus Anlaß seines 100. Geburtstags als einen der bedeutendsten europäischen Komponisten des Jahrhunderts. Seit Kindheit ein Grübler, Einzelgänger und Phantast, hat Ligeti lebenslang neue künstlerische Wege gesucht. Die europäische Intelligenz verstand er als seine eigentliche Heimat. Sein leidenschaftlich verfolgtes Ziel war es, den gesamten akustischen Kosmos, das Spektrum der Klänge und Geräusche zu erneuern. Er experimentierte mit Mikrotönen, verstimmten Instrumenten, Natur-Obertönen oder mechanischen Klavieren, er studierte zentralafrikanische und subsaharische Klangwelten sowie musikalische Übersetzungen der fraktalen Geometrien. Diesem Meister der Illusionsästhetik, dessen assoziationsgeladene Musik vom idealen Hörer einen synästhetischen Mitvollzug erfordert, wurden höchste Ehrungen zuteil.

Der Bühnenmagier Peter Brook verstarb im Juli 2022. Er verkörperte die Idee eines Welttheaters wie kaum ein anderer. Vom Leiter der Royal Shakespeare Company wurde er zum Zauberer der Pariser Bouffes du Nord. Seine mit einfachsten Mitteln — Licht, Raum, Leere, der nackte Mensch — realisierten Inszenierungen für Bühne und Film wie das Mahabharata, Die Konferenz der Vögel oder König Lear strahlten in ergreifender Intensität. Sein letzter Text versammelt Beobachtungen und Erfahrungen mit Theater, Oper und Musik. Er spricht über glänzende Inszenierungen wie Der Rosenkavalier, Die Dreigroschenoper, Don Giovanni oder Die Zauberflöte, über eine Musik ohne Ton aus Steinen im japanischen Zen-Garten und die Kunst des Klavierstimmens, über absolute Stille als idealer Raum der Kreation, darüber, warum die vier Eröffnungsnoten von Beethovens Fünfter Symphonie Menschen aller Kulturkreise berühren können. Oder über das Vermögen, ein Orchester mit nur minimalen Bewegungen zu dirigieren, über Pausen, die einem Werk erst Atem verleihen, über das japanische Marionettentheater Bunraku und über balinesische Perkussionisten. Ein Reigen voller Anekdoten und Witz mit Erinnerungen an Truman Capote, Laurence Olivier und Vivien Leigh, John Gielgud, Herbert von Karajan. Ein Weltspaziergang durch Landschaften der Musik und ein Abschied: Nach Gehör spielen.

Der Vater warf ihn durch die Luft, als er noch keine drei Jahre alt war; stolpernd im Matsch eines Vaudeville-Theaters, brachte er die Zuschauer zum Lachen. Unschuldige Kindheit gab es nicht, er war der „smallest real comedian“. Das Training war knallhart, unbeweglich die starre Miene, die er auch im Leben nicht ablegen konnte. Seine stoische Passivität und sein Emblem des versteinerten Gesichts waren ihm eingebläut worden. Es folgten ein steiler Aufstieg und dicke Schecks. Obwohl im zartesten Alter noch, ernährte Buster Keaton schon seine Familie. Seine Karriere führte ihn an den Broadway, dann zum Stummfilm, in den er sich verliebt hatte, in Kameras, Action, Gags, Knalleffekte. Jeder Stunt war selbstgemacht. Tagträume wurden sein Stoff. John Lahr, dessen Vater Künstlerkollege und enger Freund Buster Keatons war, läßt den Comedian wiederauferstehen: Buster Keatons Visage.

„Meet me by the lake“, singt sie, „meet me by the lake“ und Patricia Görg folgt dem Ruf Laurie Andersons, die in ihrem Film Heart of a Dog, die Geschichte von Lolabelle erzählt, ihrem Hund, der nicht mehr ist, und dessen Tod sie zum Anlaß nimmt, um über Leben und Tod nachzudenken. „Aus Selbst-Gezeichnetem, Selbst-Gefilmtem, Selbst-Erzähltem und Selbst-Erlebtem wird ein selbst montierter Erinnerungs- und Assoziationsfluß, der windbewegte Silhouetten von Bäumen mit sich führt, als würden sie in unserem Inneren schwanken. [...] Lolabelle geistert hinter einer regenbeschlagenen Scheibe durch den Film, tritt nach ihrem Tod in den Bardo ein, das neunundvierzigtägige Zwischenreich der Gestorbenen, von Laurie Anderson mit schwarzer Tusche detailreich gezeichnet, während es gilt, die dort Wandernden nicht zurückzurufen und nicht zu weinen.“ Der Film skizziert auch die Etappen der Verarbeitung des Schmerzes über den Tod ihres Mannes Lou Reed, der während der mehrjährigen Arbeit an diesem Projekt stirbt. Poetische Erinnerungen an jene, die man geliebt hat: Schlittschuhgeister.

AUTORENSCHICKSAL

Euphorisiert von einer persönlichen Begegnung hüpft unser Autor die Mommsenstraße hinunter. Kurz zuvor hat ein junger Dramatiker ihm gegenübergesessen, ein junger Autor, dessen Bücher man als neue Stimme seiner Generation feiert. Sein Name steht auch schon groß am Firmament der deutschen Bühnen. Seine Aufmerksamkeit strahlt ganzheitliche Offenheit aus, Wahrnehmung mit Überblendungsfähigkeiten, eine Sensibilität, wie das Implantat aus einer anderen Spezies. Mit wenigen Worten erschafft seine Literatur Figuren. Auf der Bühne trägt diese der Glaube, der Mensch reiche als Dramenentwurf aus und böte alles Nötige an. Dieser Autor spendet keinen Trost, fängt niemanden auf, befördert Wachzustände, macht hellhörig, und verzeichnet kalt die schwindende poetische Kraft unserer Sprache. Dieser Autor und Dramatiker soll unserem Maler in einem künstlerischen und intellektuellen Annäherungsversuch Porträt sitzen. Doch wer ist Maler, wer ist Modell? In einem kurz darauf erscheinenden Buch des Autors findet sich nun der Maler als Porträtierter wieder. Das peinliche Gefühl des Erkannt-Seins macht sich breit. Dies heizt die Neugier an. Welches Theaterverständnis bringt der Autor mit in die literarische Sphäre? Mit welchen anderen Künstlern verbindet ihn sein radikalisierter Zweifel und seine kultivierte Distanziertheit? Was verbindet ihn mit anderen Stilisten anspielungsreicher Gesellschaftsbilder, fragt er sich, und er verfällt auf Gerhard Richter, Neo Rauch und Günter Grass. Als Phantom der deutschen Gegenwartliteratur ist Botho Strauß selbst vielen Freunden ein Rätsel geblieben, eines jedoch steht allen klar vor Augen: Er ist der wichtigste Kritiker der angesagten Absage an das poetische Denken. Ulysses Belz nähert sich dem Bibliotheksgespenst.

Einen freiherzigen Lebensrückblick gibt der Schweizer Schriftsteller Paul Nizon im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks: Schöpferischer Pessimist. Seine Erinnerungen an ein Leben ohne Herkunft im Lärm der Welt skizzieren eigensinnige Wege eines Autors, welcher der Enge der Heimat entfliehen will und dem sein neuer Lebensort Paris die Eroberung der großen Welt bedeutete. Über Begegnungen mit Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Peter Handke, über Lektüren von Dostojewski, Tolstoi und Céline. Über den Versuch, der eidgenössischen Existenzweise zu entkommen und über die Sehnsucht nach dem Schöpferischen als dem Sinn des Lebens: „Ich wollte ankommen im Neuland und sehnte mich nie zur Schweizer Heimat zurück. Auch nicht am Ende meiner Tage.“

Dacia Maraini taucht ein ins 14. Jahrhundert Italiens und bewundert, bereits eine Epoche der Buchkultur, zumindest handgeschriebener Bücher. Florenz war eine elegante und raffinierte Stadt und die Novellen der italienischen Schriftsteller drückten bereits die Freude über eine erkämpfte Säkularität und den Stolz auf die Freiheit der Gedanken aus, sie waren ironisch und hatten nichts Konfessionelles mehr. Der Schriftseller wurde zum Chronisten seiner Zeit. Boccaccio war der große Libertin unter ihnen, der Geschichten aus dem Volk erzählt, der das Wohlleben preist, burlesken und doppelbödigen Figuren huldigt. Über kunstvolle Novellen als Protokolle ihrer Zeit.

Helmut Böttiger führt uns in ein Dorf, in die Schwärze des Ostens, zum Bergbau. Hier herrschte die schwere Mechanik der Industrialisierung, verwandelte sich stolz proklamierter Fortschritt in Verwahrlosung. In der Luft liegt Radioaktivität. Man glaubt, das Ticken der Kartoffeln in den Speisekammern zu vernehmen. Die Sprache Lutz Seilers ist vermeintlich aus der Zeit gefallen, und sie steht doch in der Zeit. In seinem Wörterkosmos verschwimmen Kindheit und Industriezeitalter, fortschrittsvergessene Heimat und ferne Verheißungen. Die Zugänge zu seinen aufeinanderfolgenden Innenwelten als Baufacharbeiter, Zimmermann, Maurer, Leser, Germanistikstudent und Kellner in den letzten Jahren der DDR führen eine wundersame Mechanik der Bild- und Wörterwelten vor Augen. Über die Chancen, individuelle Freiheit unter gesellschaftlichen Zwängen zu erproben: Lutz Seiler erinnert uns an Härtere Zeichen.

Die Marsch, die Geest, der Deich, das Meer – Erfinder des Nordens nannte man Theodor Storm, seinen Schimmelreiter das Nationalepos der Nordfriesen; er war für die Friesen Geschichtenerzähler, Mythenbewahrer und Identitätsstifter. Thomas Mann erkannte bei ihm die Urgewalt der Verbindung von Menschentragik und wildem Naturgeheimnis. Er hatte ein spannungsreiches Leben zwischen seiner konservativen Orientierung an Erfolg und Stabilität und gewissen Neigungen für allzu junge Mädchen. Storms Novellen gerieten allerdings zu einer Phänomenologie des Scheiterns. Arne Eppers über den Walter Scott der Friesen.

Als Wolfshund-Jahrhundert bezeichnete Ossip Mandelstam seine menschenverschlingende Zeit, über ihm schwebte stets Gefahr: „Isolieren, aber erhalten“ hatte Stalin neben seinen Namen geschrieben und Anna Achmatowa notierte: „in des verbannten Dichters Zimmer stehen wechselnd Angst und Muse ihre Wacht ...“ 1931 unternahm Mandelstam etwas Tollkühnes, er schrieb ein Epigramm über den „Bergmenschen mit den fetten Fingern“ und war so unbesonnen, diese Zeilen vor vierzehn Leuten vorzutragen, zu einer Zeit, als in der Sowjetunion auf fünf Personen ein Spitzel kam. 1934 wurde er erstmals verhaftet, 1937, zu Zeiten der großen Säuberungen, mit seiner Frau Nadeshda nach Woronesch verbannt; bald machten sich Symptome von Isolation und Tagesdelirien bemerkbar: „Einen Leser! Ein Ohr! Ein Wesen, mit dem ich sprechen kann!“ In größter Vereinsamung halluziniert er, das Exil Dantes sei der Schlüssel zu dessen Genie gewesen. Er lernt Italienisch, um die Göttliche Komödie im Original zu lesen. Dante wurde zum wichtigsten Gesprächspartner des Dichters. Georges Nivat belauscht Mandelstams so erleuchtete und verzweifelte Plaudereien mit Dante: Beweger der Gestirne.

BRIEFE & KOMMENTARE & KORRESPONDENZEN

Reinhard Müller, Forscher und Historiker in den Archiven der russischen Geheimpolizei, berichtet über seine Jahre unter den mißtrauischen Augen der Verwalter der Dokumente des Stalinismus in Moskau. Thomas Willems erlebte den strikten Corona-Lockdown in Shanghai über Monate hinweg eingesperrt und nun die radikale Öffnung: Aus der strahlenden, technologisch avancierten Fortschrittsdiktatur wurde eine Gesellschaft des Zweifels. Herbert Maurer berichtet von der Wiedereröffnung nach den Renovierungen im Österreichischen Parlament und Erika Tophoven erinnert sich an Begegnungen mit Samuel Beckett. Wolfram Lacher schildert die Herausbildung Libyens neuer räuberischer Elite aus dem der Militärintervention folgenden Chaos des Landes.

KUNST & PHOTOGRAPHIE

Der Berliner Künstler Marcel Eichner erzählt uns traumwandlerische Geschichten. Juan Manuel Castro Prieto entführt uns in sein Kuriositätenkabinett – das Photoportfolio.


1988

Ende Mai 2023 feiert Lettre 35. Geburtstag! Es erwartet Sie ein besonderes Heft! 
Doch jetzt wünschen wir erst einmal anregende und spannende Lektüre! Bleiben Sie uns gewogen! Gerade jetzt!

Mit den besten Grüßen, 
Lettre International

Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.