Direkt zum Inhalt

Lettre aktuell 2/2021




Lettre International 133 / Neue Ausgabe


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde,

heute, am 24. Juni 2021, erscheint Lettre International Nr. 133. Das lebensvolle und farbenreiche Sommerheft ist ab sofort im Buchhandel und am Kiosk erhältlich, an Bahnhöfen und Flughäfen sowie ab Verlag (www.lettre.de).


IN EIGENER SACHE

Mehr als 600 Neuabonnements seit Ende 2020, inmitten der Pandemie, ermutigen uns, unbeirrt an Qualität und Unabhängigkeit, Internationalität und Interdisziplinarität festzuhalten! Wir sagen: Herzlichen Dank!

Und Abonnements, die Entscheidungen der Leser selbst, sind neben Anzeigenverkäufen unser wichtigstes Gegenmittel gegen die ökonomischen Konsequenzen des Pandemie-Lockdowns. Die Einbeziehung von Kulturzeitschriften in die Corona-Hilfsprogramme für Verlage wurde vom Staatsministerium für Kultur und Medien abgelehnt. Eine Zeitschrift wie Lettre International zähle nicht zur Kultur, sondern zur Press.

„Bei der Konzipierung der Kriterien für das Verlagsförderprogramm wurden Zeitungen und Zeitschriften bewusst ausgenommen, weil die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) keine Presseförderung mit diesem Programm betreiben will. (...) Literaturzeitschriften fallen aber eben auch unter den Zeitschriftenbegriff und sind damit (auch) der Presse zuzuordnen. Die Pressefreiheit bedingt das medienrechtliche Prinzip der Staatsferne, aus dem sich ein Gebot der Neutralität und ein Verbot jeglicher Einflussnahme ergeben. Ebenso darf der Staat nicht in den publizistischen Wettbewerb der Presse eingreifen. Eine finanzielle Förderung einzelner Zeitschriften mit öffentlichen Geldern unterläge daher sehr hohen (verfassungsrechtlichen) Hürden und könnte nicht unter denselben Bedingungen wie eine Förderung der Buchbranche abgewickelt werden.“ (Soweit ein Auszug aus der Lettre zugeschickten Begründung der Ablehnung einer Überbrückungshilfe durch das BKM.)

Alle mindestens viermal pro Jahr regelmäßig erscheinenden Kulturzeitschriften gelten demnach als „Periodika“ und also als „Presse“, auf welche das verfassungsmäßige Gebot der „Staatsferne“ anzuwenden sei. Folglich sei Lettre als Presse von allen Pandemie-Überbrückungshilfen ausgeschlossen.

Dieses vom BKM ins Feld geführte Verfassungsgebot hindert das BKM wie auch andere Ministerien wie das Auswärtige Amt – und damit auch dieselben Politiker, die unter Berufung auf das Gebot der Staatsferne eine Unterstützung von Kulturzeitschriften selbst in existenzbedrohlichen Krisen ablehnen – jedoch nicht daran, andere, genauso regelmäßig erscheinende und im freien Verkauf und im Abonnement vertriebene Kulturzeitschriften und -medien mit erheblichen Dauersubventionen als staatsfinanzierte und staatsabhängige Konkurrenten unabhängiger Kulturzeitschriften prächtig am Leben zu erhalten.

In diesen spezifischen Fällen ist Kultur und Periodizität erstaunlicherweise kein Hindernis mehr, und es gilt weder das „Gebot der Neutralität“ noch das Prinzip, nicht „in den Wettbewerb einzugreifen“. Doch genau dieses tut man, und zwar massiv. Und in wachsendem Maße erweitert sich das Terrain scheinunabhängiger, de facto jedoch staatsfinanzierter Publikationen. Das zitierte Verfassungsgebot soll hier nicht gelten. Man hilft staatsabhängigen Zeitschriften dabei, unabhängigen Zeitschriften mit Hilfe von Steuermitteln (Steuern, die unabhängige Zeitschriften selbst bezahlen), nach Möglichkeit Leben schwer oder auch den Garaus zu machen. Man kann Leistungen teurer einkaufen, höhere Honorare und die Zeitschriften zu billigeren Preisen verkaufen. Das ist kein fairer Wettbewerb. Keine dieser staatsfinanzierten Publikationen und Redaktionen könnte länger aus eigener Kraft überleben.

Hier herrscht zweierlei Maß, Heuchelei und Willkür. Leben wir mittlerweile in einer Republik, in der eine doppelzüngige, intransparente und zynische Ministerialpolitik, über Verfassungsgebote hinweg machen kann, was sie will? Nähern wir uns wieder einer Staatspublizistik à la DDR, in der staatsabhängige Zeitschriften und Redakteure auf Steuerkosten prosperieren, während unabhängigen Zeitschriften, ungeachtet aller Qualität übervorteilt werden?

Hier handeln Ministerien, nimmt man ihre eigenen Erklärungen zum Maßstab, auf verfassungswidrige Weise.

Auf unsere Nachfrage, wie sich dieses widersprüchliche Verhalten und die Widersprüche zwischen erklärtem Prinzip und realer Subventionierungspraxis erklären, erhalten wir seit Monaten seitens der verantwortlichen Ministerien keine Antwort. Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz werden abgeblockt. Eine Kommunikationskultur scheint im Bundesministerium für Kultur und Medien nicht vorgesehen zu sein.

Man darf sich fragen, ob die betreffenden Ministerien selbst gegen ein Verfassungsgebot verstoßen.

Über diese Sachverhalte wird öffentlich noch eingehender zu sprechen sein.


SOMMERPICKNICK FÜR PRÄMIENFANS

Bis Ende August 2021 dreht sich unser sommerliches Prämien-Karussell, reisen Sie mit einer Sommerprämien in Gedanken. Ein Jahr dolce vita oder drei Jahre Cassata Siciliana wie bei „Achteinhalb“. Wählen Sie aus unter schönen und attraktiven Prämien für alle neuen Abonnements! Auf zur Prämienseite: www.lettre.de/sommerpicknick. Auf frisch Entschlossene warten: Notizbücher + Musik + Sprachführer + Kochbücher + Espresso-Tassen + Hörbücher + Globen + Hängematten + ... und einiges mehr! Rufen Sie einfach an! Tel. +49 30 308 704 62. Die Abonnementbedingungen finden Sie am Ende dieses Briefes.


DAS SOMMERHEFT – DIE THEMEN

Wie Sternbilder entstehen / Himmel und Höhle / Weltmitbewohner Virus / Nordische Weiten / Frauenmilizen in Kurdistan / Geopolitische Explosion im Kaukasus / Demokratieverteidigung in Myanmar / Urbanismus des Offenen / Architektur im Anthropozän / Umbau der Champs-Élysées / Albert Speer in Bildern von Luc Tuymans / China – Bataillone des Himmels / Martin Scorsese: Il Maestro Fellini / Paolo Sorrentino: Regie und Psyche / Die russischen Séancen des Andrei Tarkowski / Musik und Macht und Politik / Kunst von Maia Flore und vieles andere Entdeckenswerte.

HIMMEL UND HÖHLE

Wie alles begann? Die Grotten schweigen nicht mehr, konstatiert Patricia Görg, die rot umrandeten Handabdrücke der Steinzeithöhlen stammen zu 75 Prozent von Frauen, doch das Geheimnis bleibt bestehen: Warum pusteten Frauen Farbe auf ihre Hände auf den Felsen? Aus kultischen, religiösen, künstlerischen oder Selbstdarstellungsgründen? Ein Abdruck wurde hinterlassen, eine Information, so wie heutzutage eine versehentlich miteingescannte schwarze Hand bei Google Books, wo unzählige Buchseiten digitalisiert werden, oder ein ominöser Teebeutel, den Rudi Dutschke an die Decke einer Charlottenburger Kneipe pfefferte. Spuren des Alltags, Fingerzeige der Geschichte, Interpretation dessen, was nicht ist und doch ist. Körpersprache, Abdrücke, Fährten der Menschheitsgeschichte – überall lauern Entschlüsselungsprojekte: Hand und Fuß.

Raoul Schrott fragt Wie Sternbilder entstehen. Unserer ist kein Vorbild für einen Sternenhimmel, weil wir unsere Sternbilder aus dritter Hand erhielten. Griechen schauten sich von Babyloniern deren Figuren ab und deuteten sie um; sie gaben deren Göttern und Mythen andere Namen, erfanden neue Kunstmärchen dafür. Die Römer wiederum übernahmen diese hybriden Embleme, gaben sie weiter an arabische Astronomen, über die sie im Mittelalter zu uns gelangten. Folge war, daß die Zeichnung der Sternbilder, wie wir sie kennen, nur noch als grobe Etiketten auf den Sternen kleben: irgendein Stern, irgendwo und irgendwie den Kopf oder eine Hand markierend. Kein Wunder, daß wir sie kaum noch wahrnehmen.
Jede andere Kultur, ob historisch oder indigen, ob die alten Ägypter oder Maya, die Maori oder Inuit, hat ihre eigenen Sternbilder detailgetreu aus den Sternen herausgelesen. Doch warum sehen wir überhaupt Bilder in den Sternen? Sie sind das größte Bilderbuch der Menschheitsgeschichte. Die UNESCO erklärte sie zum unangreifbaren Kulturerbe der Menschheit. Es gilt, den Sternbildern den Rang zurückzugeben, der ihnen gebührt.

PANDEMIE UND ZIVILISATION

Pandemieforscher Alex de Waal, Direktor der World Peace Foundation, fragt in Die Schönheit der Viren nach den Ursachen der Corona-Pandemie: Wie ist das Virus in die Gesellschaft gekommen? Durch Ansteckung, Übertragung durch ein Tier oder einen Laborunfall? Fledermaus oder chinesisches Forschungslabor – eine höchst brisante Frage. „Biologische Waffensysteme sind Kandidaten für „normale Unfälle“. Das gilt auch für avancierte virologische Forschung. Virologen geben ungern den ganzen Umfang der Gefahren bei ihrer Forschung zu, vom Sammeln und Transportieren von Proben bis hin zur Laborarbeit und Lagerung. Eine der mit Insistenz vorgetragenen Botschaften der Mikrobiologie besagt, daß wir, um unseren Lebensstil aufrecht erhalten zu können, der Evolution von Pathogenen immer einen Schritt voraus sein müssen. Um des Menschen Dominanz zu sichern, ist eine immer elaboriertere technische Intervention in die planetare Umwelt erforderlich, vom Klima bis zu den Viren. Doch wenn wir andere Lebensformen als unsere Besitztümer oder Feinde ansehen, verschreiben wir uns einem Krieg, den wir – so die Logik der Evolution – nicht gewinnen können. Zwei hochgeachtete Autoritäten, David Morens und Anthony Fauci, geben einen weisen Ratschlag: „Die Wissenschaft wird uns gewiß viele lebensrettende Medikamente, Vakzine und diagnostische Möglichkeiten bescheren, doch besteht kein Grund zu der Annahme, daß dies allein die Bedrohung des Auftretens stets häufigerer und tödlicherer Krankheiten bannen kann. COVID-19 ist einer der grellsten Weckrufe seit über einem Jahrhundert. Dieses Virus sollte uns dazu zwingen, ernsthaft und gemeinsam nachzudenken über ein Leben in schöpferischerer Harmonie mit der Natur.“ Ein Krieg gegen die Krankheit kann so gefährlich sein wie der Feind

Im Schatten von Corona war 2020 auch das Hölderlin-Jahr. Der Geburtstag des Dichters jährte sich zum 250. Mal. Infolge der Pandemiebekämpfung fielen die meisten Veranstaltungen dazu aus. Die Enttäuschung darüber wurde konterkariert durch die Stilisierung eines Hölderlin-Zitats aus der Patmos-Hymne: „Wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch.“ Es fand sich, halb als Abwehrzauber, halb als Mutmacher, gedruckt auf Atemschutzmasken oder als kunstvolles Tattoo. Hier fand die Begierde nach Rettung symbolischen Ausdruck. Die agency des Coronavirus konfrontiert uns mit einer Weltenkatastrophe unbekannter Größe. Hier und jetzt erfährt die Menschheit eine zeitgleich erlebte, existentielle Bedrohung an Leib und Leben – ein vollkommen neuer Ausnahmezustand. Weil es jeden treffen kann, erleben wir uns ganz unmittelbar als „Sterbliche“, und dies nicht nur als Einzelwesen, sondern als Teil einer in ihrer Existenz bedrohten Gattung. Die Begierde nach Rettung ist stark und überall zu spüren; sie darf jedoch nicht nur dem Ende der Pandemie gelten, sonst wären wir lediglich zufällig Überlebende, die ungerettet einem blinden „Weiter-so“ verfallen. Eine schonungslose Konfrontation mit der Wahrheit ist ohne geistige Erschütterung nicht zu haben. Franz Maciejewski über unsere Pandemie-Erfahrung.

Odessa 1975. Mit einem Stipendium in der Tasche, um ihre Diplomarbeit zu schreiben, steckt sich die Ungarin Zsuzsa Hetényi durch eine frisch erblühende Liebe zu einem Studenten im Wohnheim mit einer Krankheit an, von der sie nur im mittelalterlichen Kontext gehört hatte: Cholera. Es folgt eine Zeit surrealer Erlebnisse in baulichen Gefilden, die im Sommer als „Irrenhaus“, im Winter als Krankenstation genutzt werden. Mit schwarzem Humor berichtet die Autorin von einem Körper, den sie nicht mehr kennt, nicht mehr beherrscht, in der Fremde, in der Provinz. Von alten Parteikadern bewacht, einer starren sowjetischen Administration geplagt, von Isolation, Desinfektionskellern, Ärzten, Schwestern und Patienten und schließlich jener List, die den ersehnten Rückweg in die Heimat ermöglicht: Mit Chorela in Odessa.

WEITE WELT

„Schon als Kind wollte ich nur fort und sobald ich in einem Alter war, daß ich alleine reisen konnte, war ich auch weg“, mit diesen Worten hat Wim Wenders auch das Programm von Karl Wetzig umrissen, der seiner Sehnsucht nach unbekannten Landschaften nachspürt: Fernweh, nordwärts. Aus einer Industriestadt im Ruhrgebiet träumt er sich in sommerliche Landschaften der Heide, in die borealen Wälder Finnlands, ins Zederngebirge des Libanon, in die Wälder östlich von Schwedens längstem Fluß Klarälven, doch ist sein Fernhunger nicht gestillt, es zieht ihn hinaus in die Tundra Lapplands über Grönland hinweg zum Kanadischen Schild. Nach Eisregen und dichtem Nebel folgen Wanderungen unter kreisenden Weißkopfseeadlern, Schiffspassagen zwischen Belugawalen und in seinen Ohren klingt die kanadische Nationalhymne: Mit glühendem Herzen sehen wir, wie du dich erhebst, wahrer Norden, stark und frei.

Suzanne Brøgger berichtet aus dem Land, das nicht ist. „Erst jetzt wird mir klar, daß ich den Tigris eigentlich illegal überquert habe – über die humanitäre Grenze gefahren bin, genau wie die NGOs, welche die IS-Gefangenenlager versorgen – und wie wichtig es ist, einen Chauffeur zu haben, der selbst im Krieg gekämpft hat und die Orte kennt, in denen die Regierung präsent ist, und sie umfährt, damit man nicht in Damaskus im Gefängnis landet. Ich fahre aus Erbil, Irak, in den syrischen Teil von Kurdistan, Rojava, in „das Land, das nicht ist“ – und bald nicht mehr sein wird –, ein revolutionäres Experiment, als Teil einer säkularen, feministischen Graswurzel-Konföderation, allseitig unter Druck gesetzt von Polizeistaaten. Aus dem Süden von Syrien, aus dem Norden von der Türkei. In dem bewachten Hotel in Erbil, Irak, hatte (natürlich) am heiligen Tag, am Freitag, eine Hochzeit stattgefunden, und die Gäste wurden zur Begrüßung mit einer netten kleinen Dusche empfangen – einer erotischen Mischung aus „Duftender Garten“ und Maschinengewehren. Wenn die Hochzeit als Höhepunkt des Lebens so tief in der Tradition verankert ist, wie hätte man sich da vorstellen können, daß revolutionäre Frauengruppen den Ehering, der alles bedeutet, aber das Leben in solchem Ausmaß einengt, abschaffen wollten?“ Man kann sich vorstellen, welche Auswirkungen das, was die Frauen in Kurdistan erreichen, auf die ganze Region hätte, die unter der mangelnden ökonomischen, sozialen, demokratischen Entwicklung leidet, was vor allem darauf zurückzuführen ist, daß die Hälfte der Bevölkerung – die Frauen – durch Beschneidungen, Kinderehen und Analphabetismus in Rückständigkeit gehalten wird.
„Können wir nicht einen ‘Nürnberger Gerichtshof’ gegen den IS einsetzen?“ wird gefragt. Die Menschen fürchten sich vor den IS-Mitgliedern, die Gefängnisse und Gefangenenlager sind voll von ihnen, und es gibt keinen Plan, wie es weitergehen soll, wenn sie freigelassen werden. Überall laufen sie ungeniert herum, auf freiem Fuß, mit Bärten und hochgekrempelten Pluderhosen. Doch sie können nicht dorthin zurück, von wo sie gekommen sind, niemand will sie kennen, kein Land oder Nachbar will sie haben. Sie sind die meistgehaßten Menschen auf der ganzen Welt, die Verdammten dieser Erde, und so wachsen IS-Kinder inmitten von Haß auf. Denn wie die Kurden sagen: Einem arabischen Sprichwort folgend muß über vier Generationen gehaßt werden ...“

Der armenische Weltbeobachter Georgi Derluguian nimmt uns mit in den Kaukasus. Der jüngste Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan ist Ausdruck einer geopolitischen Explosion und einer neuen Phase der welthistorischen Entwicklung: „Covid, Brexit, Trump: Der letzte Herbst hatte einiges im Angebot, um die Weltaufmerksamkeit von jenem Krieg abzulenken, der am sonnigen Morgen des 27. September 2020 begonnen hatte. Unmittelbare Kriegsteilnehmer waren die kleinen kaukasischen Nationen Armenien und Aserbaidschan, die um das seit langer Zeit umstrittene Gebiet Bergkarabach kämpften – so lautete formelhaft die 'unparteiische', in der Nachrichtenflut untergehende Schlagzeile im Westen. Aserbaidschan brachte Erdoğans Türkei mit und mobilisierte schlechtbezahlte syrische Dschihadisten und teure israelische Drohnen. Pakistan stellte sich auf Aserbaidschans Seite, im Geben und Nehmen für die Anerkennung seiner Rechte über Kaschmir. Bakus enormes Waffenarsenal, über die Jahre aus Rußland importiert, wurde ergänzt durch moderne Raketen der weißrussischen und tschechischen Artillerie. (...) Zu guter Letzt erfolgte das Eingreifen Rußlands nach 44 Tagen brutaler Kämpfe, als die angeschlagenen Armenier bereits verloren schienen. Am 9. November 2020, als die aserbaidschanischen Kräfte sich darauf vorbereiteten, Stepanakert, die Hauptstadt der Enklave, anzugreifen, stellte Putin ein Ultimatum: Wenn Baku die Operationen nicht einstellte, würde Rußland intervenieren. Wenige Stunden später verkündete er ein Friedensabkommen.“ Dieser Kleine Weltkrieg bedeutet – so der Autor – den Anbruch des Vierten Akts der Moderne.

PHOTOREPORTAGE

Badoom, Myanmar. Tage des Ungehorsams
Regierten in der Vergangenheit Diktaturen das Land, verschwand Myanmar jeweils hinter dem Bambusvorhang. Unter Lebensgefahr erzählen heute einheimische Journalisten der Welt von der eskalierenden Krise und verteidigen dabei dieselben Rechte wie die Menschen auf den Barrikaden. Dramatische Bilder vom Widerstand gegen den Staatsstreich der Militärjunta, von Entschlossenheit, Opfermut und verzweifelten Kämpfen. Eine Photoreportage

DIE STADT UMBAUEN

Rem Koolhaas ist ein weltberühmter Architekt und Urbanist. Seine Gebäude stehen in Beijing, Dubai, London und Kuala Lumpur. Seine kosmopolitische Lebensgeschichte prägte ihn von früh an: „Mich interessiert mein Leben als Russe, Franzose, Deutscher, Engländer, Amerikaner, Chinese, Araber und wie ich in all diesen Ländern und Kulturen mein Selbst losgeworden bin, was ich dort gelernt habe, wie jede dieser Erfahrung mein Schaffen bereichert hat.“ Was hat sich von Koolhaas’ bahnbrechendem Buch Delirious New York über den Bau des für die Olympischen Spiele 2008 konstruierten „China Central Television“-Headquarters bis heute geändert und warum? „Architektur ist ungeheuerlich in der Art und Weise, wie jede Wahl zur Reduzierung der Möglichkeiten führt. Dies impliziert ein Regime von Entweder-Oder-Entscheidungen, die selbst für den Architekten oft klaustrophobisch sind. Architektur ermöglicht und verhindert, nimmt weg. Ihre Mythologie, ihre Wichtigkeit, Ernsthaftigkeit und Aura ... Das ist eine paradoxe Ideologie. Sie vermittelt ein erhebendes Gefühl, wenn sich Aktivitäten auf neue Art und Weise arrangieren und kombinieren lassen. Gleichzeitig ist es alarmierend, daß Architektur diese Neuheit „fixiert“, möglicherweise für Jahrzehnte. Das ist der Grund, warum ich in den letzten Jahrzehnten immer mehr versucht habe, in unserer Architektur selbst die Mentalität des Urbanismus gegen die Starrheit der Architektur zu mobilisieren. Denn Architektur friert ein bestimmtes Programm ein und schließt alternative Nutzungen aus. Der Urbanismus ist das Gegenteil: Er antizipiert Veränderungen, ermöglicht Evolution, verlangt Flexibilität.“ Hat er noch Utopien? „Für mich ist Architektur, die nichts mit utopischen Ambitionen zu tun hat, wertlos. Aber heute gibt es angeblich keinen Raum mehr für utopisches Denken. So viele Utopien sind gescheitert, wurden entlarvt, mußten als Alibi für schreckliche Verbrechen herhalten. Vielleicht ist Nachhaltigkeit – im Umgang mit der Klimakrise – eine schöne neue Utopie, eine Utopie, welche die unterschiedlichsten politischen Systeme verbinden könnte. Ein kollektiver Traum! Sie müssen schon weit zurückgehen, um etwas Ähnliches zu finden“. Ein Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks: Coole Ekstase.

Der französische Architekt Philippe Chiambaretta ist Meisterplaner der elementaren Umgestaltung der Pariser Champs-Élysées bis zum Jahr 2030. In seinen Essays Artefakt und Biosphäre und Urbaner Metabolismus umreißt er Prinzipien einer Architektur der Zukunft. Zum Hintergrund: 1960 lebten drei Milliarden Menschen, 2050 werden es neun Milliarden sein. Behält die Erde ihre jetzige Entwicklungsdynamik bei, dann benötigt die Menschheit 2050 gleich zwei Planeten Erde, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen; die räumlich-ökonomische Konzentration der Welt in den Megalopolen verdichtet Reichtum, Macht, Technik, Wissen aus allen Kontinenten auf einem supranationalen Archipel, von dem die Weltökonomie gesteuert wird. Ein Urbanismus der Zukunft erfordert ein neues Bündnis von Gesellschaft und Natur. Es gilt, das Lebendige, das Leben ins Zentrum aller Planungen zu rücken. Sozial- und Lebenswissenschaften müssen ineinandergreifen, Nano- und Biotechnologie, Materialanalyse, Umwelt und urbane Funktionen digital vernetzt werden. Es gilt, komplexe Verknüpfungen und Synergien zwischen Artefakten und Biosphäre zu erzeugen. Der Architektur kommt eine neue Verantwortung zu.

Wiederverzauberung: Die Champs-Élysées sollen umgestaltet und wiederverzaubert werden. Das Ereignis der Olympischen und Paralympischen Spiele 2024, deren Organisation der Stadt Paris unter der Bedingung anvertraut wurde, daß sie diese zum Innovationslabor einer nachhaltigen Stadt macht, bietet die einmalige Gelegenheit, diese Transformation einzuleiten, die Champs-Élysées bis 2030 zum Musterbeispiel einer nachhaltigen, inklusiven und wünschenswerten Stadt zu machen. „An der Wiederverzauberung eines Gebietes zu arbeiten bedeutet, die Frage nach dem Sein in der Welt zu stellen und zu lernen, die Stimmen, die zum Schweigen gebracht wurden, wieder zu hören.“, so Philippe Chiambaretta

Ihre historische Entwicklung aus den Gärten des königlichen Schlosses von Ludwig XIV durch das Genie André Le Nôtres schildert Allen S. Weiss. Ursprünglich waren die Champs-Élysées eine Avenue, die den königlichen Palast in Paris mit dem Schloß von Versailles verbinden sollte. Diese in Linearperspektive angelegte Zentralachse war Zeichen der Macht, eine symbolische Struktur zur Verherrlichung des Sonnenkönigs. Sie war zugleich Einführung der Moderne in die damals noch mittelalterliche Stadt. Bis dahin galt „Unendlichkeit“ als theologisches Prädikat zur Beschreibung der transzendenten Attribute Gottes, als Symbol für die Unvergleichbarkeit des Menschlichen und des Göttlichen. Mit der Erfindung der Infinitesimalrechnung wurde nun das Unendliche säkularisiert und der Fluchtpunkt der Linearperspektive zur Manifestation des Unendlichen innerhalb der Welt. In der Avenue vom Schloß des Königs zu den Gärten von Versailles verbinden sich die Geometrie und die Leidenschaften der Seele, Mathematik und Ästhetik: Elysische Felder

Drei Gemälde des belgischen Künstlers Luc Tuymans setzen sich mit dem Meisterarchitekten der Nazizeit, Albert Speer, auseinander. Vincenzo Latronico motivieren sie zu einer Tiefenanalyse eines Karriereintellektuellen, der als NS-Führungsgestalt mit nur 20 Jahren Festungshaft im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis davonkam. Speer hatte sich vor Gericht als genialischen Baumeister und Ästheten ausgegeben, der, ganz hingegeben an seine visionäre Aufgabe, von Konzentrations- und Vernichtungslagern nichts gewußt haben wollte – was sich post mortem als Lüge erwies. Nach seiner Freilassung wurde Speer als Autor sogar noch zum reichen Mann. Ist Speer ein singuläres Phänomen? Oder verkörpert er einen Charaktertypus, der sich aus Ehrgeiz und Eitelkeit jeglicher Macht, jedem Zweck andient? Das Psychogramm eines so kultivierten wie skrupellosen Karrieristen: (K)ein Mann der Zukunft. Über die vielen Bilder des Architekten Albert Speer

Eine Konferenz führt den Architekturhistoriker Tom Leiermann ins „Reich der Mitte“. Er besucht religiöse Stätten, Siedlungen und Industrieanlagen, Metropolen und Naturlandschaften. Zeitsprünge katapultieren den Reisenden von Massenstädten und Serienarchitektur ins Kernland der uralten Flußzivilisation. Er rauscht in Hochgeschwindigkeitszügen durch Maisfelder, Gebirgstäler, Steppen und Kohleregionen, die an die industrielle Frühzeit erinnern, hin zu Gebieten, die noch vom frühen chinesischen Buddhismus geprägt sind. Dorfstrukturen, Klöster, Tempel, Häuser, Lehmbauten, Höfe und Vorgärten lassen ihn staunen über die Überlebensfähigkeit konfuzianischer Elemente im hypermodernen China. Das dynamische Land birst vor Spannungen. Doch ist China mehr als ein Land: Die Formeln heißen: „Reich der Mitte“, Heimat der „Söhne des Himmels“, „Spitze der Revolution“, „Kommender Weltmarktführer“. Die Etiketten verändern sich, doch etwas bleibt gleich: Die Zugehörigkeit zu einem Kosmos, der schützt, verpflichtet, Größe verspricht. Die Herrschaft des Systems scheint ungebrochen: Bataillone des Himmels.

FILMKÜNSTLER

Der New Yorker Star-Regisseur Martin Scorsese huldigt seinem Vorbild Federico Fellini: Il Maestro. Scorsese wuchs auf in Little Italy, als die Leinwand noch Magie ausstrahlte. Neue Filme kamen unablässig aus aller Welt. Ob Godard oder Bertolucci, Antonioni oder Bergman, Imamura oder Ray, Cassavetes oder Kubrick, Varda oder Warhol – jeder riskante Kameraschwenk, jeder tollkühne Schnitt konnte den Film neu erfinden. Orson Welles, Robert Bresson, John Huston und Luchino Visconti genossen als etablierte Filmfürsten das umstürzlerische Treiben ihrer Nachfolger. Im Zentrum all dieser Strahlungen stand wie ein Magier Fellini: La Strada, I Vitelloni, La Dolce Vita, 8½, Amarcord ... So wie Chaplin, Picasso und die Beatles erschien er in persona noch größer als seine Werke. Einen „Fellini“ anzuschauen war so, als hörte man die Callas in der Oper oder sähe Nurejew beim Tanzen zu. Der Amerikaner Scorsese feiert das künstlerische Kino Europas: „Wir müssen unser Verständnis davon, was Kino ist und was es nicht ist, neu befragen und verfeinern. Fellini muß der Ausgangspunkt dafür sein.“

Ingmar Bergman meinte: Wenn der Film kein Dokument ist, dann ist er Traum; und darum ist Tarkowski der größte Filmemacher von allen. Dessen Filmepos Andrej Rubljow, so der New Yorker Kritiker Alex Ross, ist ein Meisterwerk, aus Schlamm gemacht. „Ich hatte das Gefühl, das Rohmaterial der Geschichte vor Augen zu haben, gefiltert durch künstlerische Vorstellungskraft.“ Dieses Werk machte Tarkowski berühmt. Die postapokalyptische Landschaft seines Films Stalker von 1979 schien die Atomkatastrophe von Tschernobyl vorauszusehen, das Attentat auf den schwedischen Premierminister Olof Palme Vorgänge seines Films Opfer Wirklichkeit werden zu lassen. Der Kult um den Visionär wuchs ins Unermeßliche. Tarkowski galt als Gipfelpunkt sowjetischer Filmkunst – und wurde zum Dissidenten. „Wie oft“, so der Autor, „zogen in mir Motive aus Tarkowskis Werken vorbei, tropfendes Wasser, brennende Häuser, Körper, die sich in die Lüfte erheben, aus ihrem Innersten leuchtende Landschaften, menschliche Relikte halb von der Natur verschlungen, eine Sonne, die blaß vom Horizont her scheint.“ Séancen der russischen Seele.

„Davon besessen sein, das war mein Rat“, so Paolo Sorrentino, an alle, die wissen wollten, wie man es schaffe, „Filme zu machen“. In einem ungeschminkten Gespräch mit Malcom Pagani spricht der Schöpfer von Il Divo und La Grande Bellezza von seiner Obsession, derart „verflixte Filme“ zu drehen, von seinem Willen, einem Kreis von Menschen zu beweisen, daß auch er es könne und zwar „besser“. Revanche, meint er, sei heimtückisch und befriedigend. Woher rührt diese Motivation? Sorrentino gesteht, von früh auf immer ein wenig langsamer gewesen zu sein als die anderen, für alles etwas länger gebraucht zu haben. Er spricht über Traumata, den frühen Verlust der Eltern, das jähe Erwachsenwerden, über Vorbilder, Träume, Filmsets, Kollegen, das Künstlerleben nach einem Oscar: Das heilige Feuer – Mysterien der Regie.

Der Filmer Heinz Peter Schwerfel erzählt von seiner cineastischen Initiation, von ästhetischen und sinnlichen Erlebnissen im magischen Flimmern und von seiner „Erziehung der Gefühle“ durch französische und deutsche Filme der 70er und 80er Jahre. Ob Zelluloid, Video und Digital-Streaming – immer gilt: Der Underground von gestern wird zum Fundament der Gegenwart – was auch heute noch gilt. Doch vermag das Publikum in Zeiten eines digitalen Streamings noch, „zwischen Bildern zu lesen“? Warum pflegt man in Deutschland, im Unterschied zu Frankreich, Film nicht als Kunst? Ein Grund, warum im heutigen Deutschland Kino nicht Kunst sein darf: Man mißtraut ihm, als sei es subversiv, so wie der Staat in den sechziger und siebziger Jahren der zeitgenössischen Kunst mißtraute, solange sie gesellschaftskritisch war. Dabei sind Avantgarde und Underground in der bildenden Kunst des vereinigten Deutschlands längst passé, Kunst schmückt heute die Büros der Mächtigen, Regierungssitze und die Gänge von Banken und Unternehmen. Immer noch ist jedes Kunstwerk politisch, auch wenn Liberalismus mit Konformismus verwechselt wird. „Kunst liegt immer im Bett der Herrschenden“, nennt das Kunstgeschichtler Beat Wyss. Kino hat in Deutschland seit der Nachkriegszeit nicht einmal das geschafft, es ist nur Kulturgut, sprich gehobene Unterhaltung. Wie erklärt es sich, daß Politik und Politiker hierzulande ohne wirkliche Liebe zum Kino sind? Eine Zeitreise: Große Leinwand

SPHÄREN UND KLÄNGE

Klaviervirtuosen sind Würdenträger, Reizfiguren oder Idole, manchmal sogar Dissidenten des klassischen Musiksystems; häufig pochen sie darauf, unpolitische Musiker zu sein. Sind sie wirklich so politikfern? Innigen Verflechtungen von Piano und Politik spürt Ulysses Belz nach. Seltsame Umkreisungen gab es: Ferdinand III. von Habsburg vertraute seinem Cembalisten Johann Jacob Froberger geheime diplomatische Missionen an. Johann Sebastian Bach hat vor Friedrich dem Großen zu erscheinen und improvisiert vierstimmige Fugen. Kaiserin Maria Theresia unterliegt dem Charme des sechsjährigen Mozart. Liszt spielt in Privataudienzen vor dem Zaren, Königin Victoria, Napoleon III und dem Papst. US-Präsident Richard Nixon, selbst als Pianist im Fernsehen aufgetreten, gönnte sich 1969 eine Jazz-Soirée der Extraklasse, bei der er Duke Ellington zu dessen 70. Geburtstag die Presidential Medal of Freedom verlieh. Mit Nixon an Ellingtons Flügel sang die Jazz-Royalty der Vereinigten Staaten „Happy Birthday to You“ ... Über ungeahnte Verstrickungen von Musik und Politik.

Constantin Floros widmet sich dem Schaffen des ungarischen Komponisten György Ligeti und dessen Durchdrungen-Sein vom Absurden, von der Zivilisationsbedrohung, der Sinnlosigkeit des Daseins und der Unbeholfenheit einer rationalen Lebensweise. Das Irrationale, das Verrückte, das Unwirkliche jenseits von Normalität und kausaler Logik, die Mischung von Komischem und Tragischem sind Ingredienzien jener verrückten Welten, die er in seiner Oper Le Grand Macabre kompositorisch auf die Bühne brachte.

BRIEFE & KOMMENTARE & KORRESPONDENZEN

Arne Eppers ist Orpheus zugeneigt, jenem mythischen Dichter und „hochgepriesenen Vater der Gesänge“ (Pindar, Pythische Oden), „Mozart der antiken Welt“ (Stephen Fry, Helden). Apollon selbst hat ihm die Lyra geliehen, die er so einzigartig zu spielen versteht, daß er mit Musik und Gesang die Wälder, die Herzen der wilden Tiere und die Steine, die ihm folgen, in Bann zu ziehen vermag. Es gelang ihm, in den Hades hinabzusteigen, nicht aber, seine Geliebte Eurydike aus dem Totenhaus zu befreien. Ironischerweise wird er bald darauf von einem Mob thrakischer Frauen, die ein Fest zu Ehren des Dionysos feiern und sich von ihm abgewiesen fühlen, erschlagen und verstümmelt. Urworte. Orphisch heißt ein vor 200 Jahren entstandenes Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe, in dem er dem, „was sich hier nur ahnen läßt“, klaren Sinn und reine Erkenntnis verleihen will. Über jene besonderen Mächte, die das Leben bestimmen: Dämon, Glück, Liebe, Not und Hoffnung - über das Wollen und Sollen und die Hoffnung als Flucht nach vorn: „Ein Flügelschlag und hinter uns Äonen.“ Hören Sie Orpheus singen?

Mit kaum einem deutschsprachigen Autor von Rang ist die Literaturgeschichte so ruppig umgesprungen, wie mit August von Kotzebue, so André Georgi in Die vier Tode des August von K. Der Name löst heute noch Beißreflexe aus: Kotzebue, Autor des Trivialen, des Rührseligen, der falsch-verkitschten Emotionen, der dramatischen Massenproduktion, der dem Publikum nach dem Munde schreibt und nur auf seinen Geldbeutel schielt. Und wenn man noch etwas über ihn weiß, dann, daß er 1817 von einem radikalen Burschenschaftler ermordet wurde, und dieser Mord die Restauration in Deutschland eingeleitet hat. Mit nahezu unheimlicher Konstanz waren seine Stücke vierzig Jahre lang erfolgreich und beherrschten die europäischen Bühnen. Am Ende hatte er rund 230 Stücke geschrieben, Romane, Erzählungen, Reiseberichte und mehrere historische Werke. Ein immenser Erfolg also und andererseits eine tiefe Ablehnung, man muß sagen: Haß, der so abgründig war, daß Kotzebue nur noch eine Fußnote der Literaturgeschichte ist. Das Porträt eines Verfemten.

Stephen Eric Bronner analysiert die jüngsten bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas. „Israelis und Palästinenser sind zwei Nationen mit zwei Kulturen und zwei sehr unterschiedlichen Geschichten: der des Kolonisators und der von Kolonisierten. In einer Welt, die es ablehnt, die Logik von Ereignissen zu erforschen, hat der tunesisch-jüdische Denker Albert Memmi uns einiges zu sagen. Sein 'Nero-Komplex' erklärt, wie Kolonisatoren ein Land übernehmen, stolz darauf, die Vorteile der 'Zivilisation' zu exportieren, während die Kolonisierten sich gegen solche Wohltaten wehren. Bei der Niederschlagung des Widerstands empfindet der 'zivilisierte' Kolonialist eine unbewußte Schuld und zugleich ein Ressentiment gegenüber der Undankbarkeit der Kolonisierten. Die 'Notwendigkeit' der Gewalt mildert die Schuld. Mit jedem Aufstand wird sich daher die Unterdrückung durch den Kolonisator intensivieren, was zu noch intensiverem Widerstand der Kolonisierten führt – und so weiter. Der Bürgerkrieg bleibt eine Möglichkeit auf beiden Seiten der Barrikaden. Zionistische und palästinensische Extremisten halten ihr Veto gegenüber jeglichem Friedensplan aufrecht. Fanatische Siedler und orthodoxe religiöse Eiferer in Israel sowie sektiererisch-militante Fraktionen der Hamas und des 'Islamischen Dschihad' in Palästina können versuchen, jede Friedensbemühung durch neue Provokationen zu unterlaufen. Der Status quo ist für das 'Volk' unhaltbar, für Politiker beider Seiten aber wünschenswert.“ Die Aussichten auf einen dauerhaften Frieden sind düster: Die Rache ist mein

Dem letzten Meisterdenker Tübingens, dem Religionstheoretiker Heinz Küng, dem „Papst im roten Alfa Romeo“, widmet Sergiusz Michalski seine Korrespondenz und umreißt das Weltbeglückungspotential der beschaulichen Universitätsstadt, in der Persönlichkeiten wie der Philosoph Ernst Bloch, der Philologe Heinz Meier, der Rhetor Walter Jens oder der Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg zu Hause waren. Eine kathederrhetorische Tradition hat Tübingen stärker geprägt als andere deutsche Universitäten. Und auch jüngere Rhetoren versuchen sich an dem spezifischen Tübinger sprachlichen Duktus zwischen gravitas und Ironie. (...) Der öffentlich-moralisierende Impetus hat der Stadt immer wieder eine Option auf geistige Ausstrahlung verschafft, auch deshalb, weil er auf die historische Tradition der lokalen Versuche einer Weltverbesserung zurückgreift.

Mit Post-Corona-Schwung stürzt sich unser Wiener Korrespondent ins hymnische Geschehen: „Raus aus den Federn, rein ins frisch gebügelte Adamskostüm! Husch, husch, ab in die Sonne – es war Zeit genug zum Nachdenken, zur Selbstfindung, zur Erfindung, Auffindung von uns selbst, unserer Identität, unseres So-und-nicht-anders-Seins, unseres Ichs, des richtigen Lebens im falschen und umgekehrt. Wir sind wieder da, mittendrin im Wie und im Wer: als Individuum und Kollektiv. Wir, das europäische, das nationale und internationale Menschenmaterial, sind wieder wer, mehr denn je, nicht nur immateriell. Nun heißt es: hinaus in die Welt, als Botschafter der Zivilisation, des europäischen Gedankens, der humanistischen Ideale, des abendländischen Selbstbewußtseins ... Eben dazu brauchen wir unsere Hymnen, die wir in der Abgeschiedenheit des Inneren angesichts der lebensbedrohlichen Bedingungen des Äußeren wieder richtig gut zu singen gelernt haben, Ton für Ton, Wort für Wort, zackig und gelockt, mit jeder Faser unseres Herzens.“ Herbert Maurer über Tralala und Identität

KUNST

Maia Flore, Anderswo, über den Dingen
„Wer am Tag träumt, wird sich vieler Dinge bewußt, die dem entgehen, der nur nachts träumt“, meinte Edgar Allen Poe, und auch die Montagen der Künstlerin ließen sich als inszenierte Tagträume lesen. Es geht darum, sich dem Unbekannten zu überantworten, dem Spiel der Natur, jenem Zufall, der Räume hinter den Spiegeln öffnet, die sonst verschlossen bleiben. Es gilt, sich ganz hinzugeben, loszulassen, ja, zu fallen, aber auch, sich zu konzentrieren und sich neu zu sammeln, um neue Posen und Gesten einzunehmen, um etwas zu riskieren und sich vielleicht wiederzuentdecken im Schutz anderer Kräfte, dort, wo Einsamkeit und Stolz und die Macht der Phantasie zu Hause sind, selbstbewußt, ohne Angst vor dem Licht, mit einer Sonne in der Hand.

In diesem Sinne wünschen wir Ihnen anregende, abwechslungsreiche Lektüre und einen guten Start in den Sommer!

Bleiben Sie uns gewogen!

Mit den besten Grüßen,

Lettre International

Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.