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Lettre aktuell 2/2022




Lettre International 137 / Neue Ausgabe


 

Sehr geehrte Leserinnen und Leser, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde,

heute, am 23. Juni 2022, erscheint Lettre International Nr. 137. Wir bitten, die leichte VerspÀtung des Erscheinens zu entschuldigen, sie ist der angespannten Lage auf dem Papiermarkt geschuldet. Das Sommerheft ist ab sofort erhÀltlich im Buchhandel und an Zeitungsverkaufsstellen, an Bahnhöfen und FlughÀfen sowie ab Verlag (www.lettre.de).


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IN SCHWIERIGER ZEIT

Dieser schlimmste europĂ€ische Krieg seit Ende des Zweiten Weltkriegs markiert einen Epochenbruch. Der russische Überfall auf die Ukraine hat Europa in ein neues Licht getaucht. Die Moskauer FĂŒhrung versucht, die gegebene Ordnung des Kontinents zu zerschlagen. „Zeitenwende“, völkerrechtswidriger Angriffskrieg, FlĂ€chenbombardements, Massaker, Millionen FlĂŒchtlinge, Nahrungsmittelknappheit, Inflation und Wirtschaftskrise sind mit diesem Krieg verbundene Schlagworte, die eine verĂ€nderte RealitĂ€t signalisieren. In der EuropĂ€ischen Union blickt man auf einen Scherbenhaufen der Illusionen. Nie nach 1945 waren Frieden, Wohlstand und Demokratie in Europa derart umfassend bedroht.
Der Konkurs unumstĂ¶ĂŸlich geglaubter historischer Lehren, moralischer Gewißheiten, politischer Konzepte und geopolitischer Konstrukte bedĂŒrfen profunder Aufarbeitung. Ein tieferes VerstĂ€ndnis erfordert, historische HintergrĂŒnde, die Interessen und Handlungslogik der Akteure zu analysieren und zu fragen, von welchen Bequemlichkeiten freiheitliche Gesellschaften sich verabschieden mĂŒssen, wenn sie ĂŒberleben wollen. Dieser gewaltsame Einbruch des Realen will erst noch verarbeitet werden. FehleinschĂ€tzungen und Wunschdenken waren im Spiel. Aber auch die Verabsolutierung ökonomischer Interessen und das GlĂŒcksrittertum politischer Karrieristen fĂŒhrten dazu, daß Vorzeichen der Gefahr – der Krieg in Georgien, die Infiltration des Donbaß’, der Abschuß einer Passagiermaschine, die Krim-Annexion, die gnadenlose UnterdrĂŒckung der russischen Opposition, JustizwillkĂŒr, Attentate und Mordkomplotte – nicht als Ernstfall behandelt wurden. Dies war die insistierende Verharmlosung einer KontinuitĂ€t politischer KriminalitĂ€t. Ein „Wille zum Nichtwissen“ scheint zahlreiche politischen, ökonomischen und medialen Akteure motiviert zu haben.
Lettre International hat Kritikern des Putin-Regimes immer Raum eingerĂ€umt. Der Philosoph Michail Ryklin, die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch, Journalisten und Schriftsteller wie Arkadi Babtschenko, Alexander Soldatov, Oksana Timofejewa oder Liza Alexandrova-Zorina haben Putins UnterdrĂŒckungspolitik ĂŒber Jahre hinweg analysiert. 2003 erhielt die russische Journalistin Anna Politkowskaja den Lettre Ulysses Award fĂŒr ihre EnthĂŒllungsreportagen ĂŒber Putins Tschetschenienkrieg. Sie wurde 2006 in Moskau erschossen. Dieser politische Mord blieb wie viele andere unaufgeklĂ€rt. Die polnische Journalistin Krystyna Kurczab-Redlich recherchierte in Zucker aus dem Kreml (Lettre 80, 2008) zu einer von Mitarbeitern des Inlandsgeheimdienstes FSB organisierten Sprengung zweier Moskauer WohnhĂ€user mit ĂŒber 220 Todesopfern im September 1999. Diese diente im Oktober 1999 als Vorwand fĂŒr den Zweiten Tschetschenienkrieg, dessen PopularitĂ€t dem langjĂ€hrigen FSB-Leiter Putin bei den PrĂ€sidentschaftswahlen im MĂ€rz 2000 zur Macht verhalf.
Das Drama dieses Krieges fĂŒhrt klar vor Augen, wie wichtig unabhĂ€ngige Publikationen sind. Wenn die hochkultivierten, aber angreifbaren europĂ€ischen Gesellschaften das Trauma dieser RealitĂ€tsverkennung aufarbeiten wollen, brauchen sie integre Denker und produktive Medien.


UND DAS ERWARTET SIE

Simon Glinvad Nielsen erzĂ€hlt von zerbombten StĂ€dten, der Verantwortung der Machthaber und von der Bedeutung des ErzĂ€hlens. ‱ RĂ©gis Debray erinnert daran, daß es eine Zeit der Erinnerung und eine Zeit der Geschichte gibt: Museum und Rakete. ‱ Elena Kostioukovitch taucht tief ein in Putins Hirn ‱ Georges Nivat untersucht Das Wort Ukraine. ‱ Philippe Videlier huldigt Odessa, der Königin des Schwarzen Meeres. ‱ Boris Groys und Liza Lazerson erkunden die Spannungen zwischen der Russischen Welt und dem Westen. ‱ Boris Groys analysiert Rußland als Reich des Anderen und Unterbewußtsein des Westens ‱ Azadeh Moaveni begegnet an der polnischen Grenze ukrainischen Frauen auf der Flucht ‱ Jacques Rupnik sieht in Europa und Mittelosteuropa eine Ordnung Konzentrischer Kreise heraufziehen ‱ Lucy Sante berichtet ĂŒber ihre Geschlechtsangleichung ‱ RĂŒdiger Görner nimmt mit sechs Englischen Elegien Abschied von der Insel ‱ Unzensierte Betrachtungen zur israelischen Besatzungspolitik offeriert der einstige Freiwillige des Sechstagekriegs Benjamin Korn ‱ Hans GĂŒnter Holl verfolgt die Entwicklung des Rationalismus durch monotheistische Religionen und Wissenschaft: Ex oriente lux? ‱ Kenah Cusanit entdeckt ein vergessenes Tondokument und belauscht fĂŒnf brillante Intellektuelle bei einem inspirierten GesprĂ€ch ĂŒber Photographie und Philosophie ‱ Ulysses Belz beschaut mit seiner brillanten Tante Alte Meister in verschiedenen Museen ‱ Mark Lammert durchkĂ€mmt als leidenschaftlicher Sammler eBay nach ĂŒberragenden Zeichnungen aus der Zeit der Französischen Revolution ‱ Alexander G. DĂŒttmann spĂŒrt Luchino Viscontis Kunstende nach: „Drama des Nicht-Seins“ ‱ Igor Klech liest Carl von Clausewitz und entdeckt den absoluten Krieg. ‱ Thomas Willems berichtet von seinen 85 Tagen im Lockdown in Shanghai. ‱ Karl Heinz Götze durchquert das Hexagon von Nord nach SĂŒd und entdeckt Frankreichs neue Landschaften ‱ Fabio Stassi ehrt mit dem „Rothemd“ Luciano Bianciardi den letzten Garibaldisten Italiens. ‱ Regina Strassegger erinnert sich an Letizia Battaglias unverwĂŒstliches Leuchten. ‱ Lieferketten und ein Tanzen in Ketten faszinieren Hannes Böhringer. ‱ Wiener NeutralitĂ€tsdĂŒnkel echauffieren Herbert Maurer. ‱ KĂŒnstlerische Interventionen kommen von Julia Oschatz und Friederike von Rauch.


KRIEG IN EUROPA

„Eine Geschichte beginnt. Wir befinden uns in der Mongolei im 14. Jahrhundert. In den GĂ€rten des Kaiserpalastes sind zwei MĂ€nner in ein GesprĂ€ch ĂŒber die vielen unverwechselbaren StĂ€dte des Reiches vertieft, der Kaiser Kublai Khan und der Entdecker Marco Polo. Der Kaiser berĂ€t sich mit Polo: Ist das Reich, das die Schönheit der ganzen Welt zu reprĂ€sentieren schien, in Wirklichkeit ein stinkender faulender Sumpf und er in seinem prachtvollen Palast verblendet in seiner eingebildeten Welt? Der Kaiser sagt zu ihm: ‘Die anderen Gesandten machen mich auf Hungersnöte, Erpressungen aufmerksam oder melden mir die Entdeckung von TĂŒrkisminen, vorteilhafte Preise fĂŒr Marderfelle, Lieferangebote von Damaszenerklingen. Und du? (...) Du kehrst aus ebenso fernen LĂ€ndern heim, und alles, was du mir zu sagen weißt, sind die Gedanken eines Menschen, der abends vor seiner Hausschwelle die KĂŒhle genießt. Was nutzt dir dann das viele Reisen?’“
Marco Polos Antworten bilden den Grundstock des Romans Die unsichtbaren StĂ€dte von Italo Calvino. In 55 kurzen Kapiteln portrĂ€tiert Marco Polo genausoviele StĂ€dte im Kaiserreich, eine wunderbarer als die andere, und langsam erkennen sowohl der Kaiser als auch der Leser, daß diese StĂ€dte nur existieren, solange sie erzĂ€hlt werden. Es sind Sinnbilder des Lebens und seiner unendlichen Zerbrechlichkeit, Vielfalt, Schönheit, seines Grauens und seines Reichtums. Es sind lebendige StĂ€dte, seltsam zitternd am Scheideweg zwischen der Macht der Phantasie und der Macht ĂŒber Phantasie. „Ich habe Die unsichtbaren StĂ€dte erneut gelesen, wĂ€hrend Bomben auf die StĂ€dte der Ukraine fallen und Europa wieder brennt. Was erwartet mich, wenn ich morgen aufstehe? Diese Macht kann immer wieder zu Zerstörung fĂŒhren, doch was genau hat dieser Herrscher davon? Ist der Bombenhagel die reinste Form der AusĂŒbung der Macht?“ Simon Glinvad Nielsen versucht herauszufinden, Was nicht die Hölle ist.

Die psychische Befindlichkeit Europas angesichts des Krieges diagnostiziert RĂ©gis Debray in Museen und Raketen. „Keine Panik. So lĂ€uft es immer. Krieg ist, wenn die Geschichte wieder in Bewegung gerĂ€t. Frieden, wenn die GedĂ€chtniskĂŒnste dominieren. Krieg und Frieden. Sie wechseln einander ab. (...) Auch Gesellschaften haben ein Herz, das schlĂ€gt. Es sieht so aus, als sollten die großen Ferien in Europa zu Ende gehen, als wĂŒrden wir das Regime des GedĂ€chtnisses hinter uns lassen, um – once again – in das der Geschichte einzutreten. Jegliches hat seine Zeit. Es gibt eine Zeit fĂŒrs Archiv und eine Zeit fĂŒrs Arsenal. Eine Zeit fĂŒr Museen und eine Zeit fĂŒr Raketen. (...) Die Zeit der Verheißungen ist vorbei. Gewisse ZukunftstrĂ€ume verfliegen, aber ein langes GedĂ€chtnis und eine starke Hoffnung können dem Regiment der Kasernen widerstehen. Der Eindringling muß sich Sorgen machen, wie schon in Tolstois Krieg und Frieden. Putin sollte sich daran erinnern.“

Ljudmila Ulitzkaja fragt: „Wie konnte es dazu kommen, daß Rußland, ein Staat, der sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als Vorreiter im Kampf fĂŒr den Weltfrieden, als Überbringer humanitĂ€rer Botschaften und Verfechter sozialer Gerechtigkeit dargestellt hatte, auf einmal zum Emblem der Aggression wurde, indem es einem Nachbarstaat den Krieg erklĂ€rte, den es stets als ‘Freund’ und seine Bewohner als ‘Brudervolk’ bezeichnet hatte? Wie konnte Rußland das tun? Und somit den Frieden beenden, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa geschaffen wurde?
Wieviel Toxisches hat sich in den Köpfen der ReprĂ€sentanten der russischen herrschenden Klasse angesammelt, in den Gedanken des Großen FĂŒhrers und seiner Untergebenen, denen der Mut fehlt, eine eigene Meinung zu Ă€ußern? Wie vergiftet mĂŒssen Geist und Herz sein, um Panzern den Befehl zu geben, die ukrainische Grenze zu ĂŒberqueren? Um tödliche Raketen durch den ukrainischen Himmel zu schießen? (...) In Rußland wie in allen Staaten, in denen die demokratischen Prozesse eher fragil sind, hat die Persönlichkeit in der Geschichte schon immer eine ĂŒbertrieben große Rolle gespielt. Das hat zu enormen Verlusten in vielerlei Hinsicht gefĂŒhrt, sowohl beim russischen Staat wie in der Bevölkerung.“

Putins Hirn leuchtet Elena Kostioukivitch aus. Die Schriftstellerin und Übersetzerin Umberto Ecos macht in ihrem brillanten Essay Denksysteme und Obsessionen des Putinschen Denkens sichtbar. Sie offenbart die irrationale Seite seiner MentalitĂ€t. Die Idee der „Noomachie“ – der Krieg der Kulturen –, die Doktrin des „Russkij Mir“ – des „Russischen Universums“ –, und die Vorstellung von Moskau als „Drittem Rom“, vereinigen sich hier synkretistisch zur Utopie eines russischen Idealstaates, zu dem alle ethnischen Russen und alle Gebiete der slawischen Urkultur gehören. Dieser Gedankencocktail vermengt Annahmen der „Neuen Chronologie“ (nach der die gesamte Menschheitsgeschichte von europĂ€ischen Chronisten absichtlich gefĂ€lscht worden ist) mit der KriegserklĂ€rung des Nationalbolschewisten Alexander Dugin gegen eine allverbreitete Russophobie in Europa und im Westen. Putin glaubt, die Menschen des russischen Universums zeichnen sich durch einen besonderen genetischen Code aus. Kritiker gelten ihm als NationalverrĂ€ter oder auslĂ€ndische Agenten. Er glaubt an Zahlenmystik, an kosmische Energien und Wahrsager. Der frĂŒhere Geheimdienstler zelebriert maskuline BrĂŒderlichkeit, huldigt einer Kultur des Krieges und der Kraft, er bekennt sich zur Motorradfahrerhorde der Nachtwölfe. Atavistische, mystische, obskure Motive sind hier im Spiel; eine Aura von Ungewißheit, UnerklĂ€rlichkeit und Nebulösem legt sich ĂŒber Rußland. Wir bewegen uns zwischen Geschichtsklitterungen, FĂ€lschungen, Verschwörer-Regimen und Personen, die aus einem Fortsetzungsroman des 19. Jahrhunderts zu stammen scheinen. Der Angriff auf die Ukraine wird begleitet von der PropagandalĂŒge, Rußland habe niemals in der Geschichte Kriege begonnen. Die Moskauer FĂŒhrung ist vom Wunsch beseelt, Europa unter der Ägide des russischen Universums neu zu vereinen. In dieser Optik ist ein Kriegsende nicht vorgesehen. Kostioukovitch entschlĂŒsselt die Gedankenwelt einer individuellen VerrĂŒcktheit, in der Mythologie, Mystagogie und Esoterik verschmelzen, um einem nur Eingeweihten bekannten „großen Plan“ zu dienen. Dieser große Essay ist die aufrĂŒttelnde Warnung vor einer tödlichen Herausforderung, die nicht nur die Ukraine, sondern die europĂ€ische Zivilisation insgesamt bedroht.

Das Wort Ukraine bedeutet Grenzen, so Georges Nivat, und der Ukrainekenner beschreibt die Umrisse jenes Landes, welches es Stalin verdankt, der es als Letzter formte und dafĂŒr Territorien von Polen, Ungarn und RumĂ€nien nahm. „Ukraine“ – dieses Wort verkörpert eine Geschichte des Werdens aus KĂ€mpfen und IdentitĂ€tskonflikten. Nivat folgt den Meeresgrenzen und KĂŒsten, den Landesgrenzen durch WĂ€lder und SĂŒmpfe hin in die kontinentale, innere Ukraine. Keine natĂŒrlichen Grenzen, fortwĂ€hrende Kriege, von der Karte ausradierte, spĂ€ter durch Siege oder Niederlagen wieder auferstandene LĂ€nder ... Wir erleben eine Reise in die Geographie und Geschichte, in die Sprache und die Poesie, in die philosophischen und politischen Auseinandersetzungen einer alten Nation, welche drei Jahrhunderte lang von Rußland provinzialisiert wurde. Dieser Dialog einer Nation, die einen Kampf um ihr Überleben fĂŒhrt, wobei dieser auch eine Wiedergeburt ist, steht in der Geschichte Europa einzigartig da.“

Ein facettenreiches PortrĂ€t von Odessa zeichnet Philippe Videlier als Hommage an die Königin des Schwarzen Meeres. Nach Mariupol wird nun auch die prĂ€chtige Hafenstadt ins Visier der Eroberer geraten. In Odessa erbaute der italienische Architekt Francesco Boffo 1841 die weltberĂŒhmte Treppe mit ihren 192 Stufen, Symbol dieser einst blĂŒhenden kosmopolitischen Stadt, wo Russen und Ukrainer, RumĂ€nen und TĂŒrken, Tartaren und Moldawier, Juden, Italiener und Deutsche zusammenlebten. Odessa zog Abenteurer, LebenskĂŒnstler, Reisende, GeschĂ€ftsleute aus aller Welt an. 1812 strahlte es so, daß sich der vor der Französischen Revolution geflohene Graf Richelieu dort von Katharina der Großen zum Gouverneur machen ließ. Vor 1829 zĂ€hlte die Stadt 50.000 Einwohner, 1893 waren es schon 350.000. Odessa stand fĂŒr Überseehandel, Luxus, Opernkultur, Architektur, ĂŒppige Wandmalereien. Odessa wurde zum Schauplatz von Eisensteins Revolutionsfilm Panzerkreuzer Potemkin. 1941 belagerten und beschossen die rumĂ€nischen Alliierten Hitlers Odessa 69 Tage lang bis zur Eroberung. Im Oktober folgte ein Massaker an der jĂŒdischen Bevölkerung: Zehntausende wurden erschossen oder aufgehĂ€ngt. Nach zweieinhalb Jahren befreite die 4. Ukrainische Armee die Metropole. Jahrzehnte spĂ€ter sollte Rußland in die HĂ€nde eines obskuren Geheimdienstagenten fallen. Dieser trat ein dreifaches Erbe an – das des FSB, des NKWD und der zaristischen Geheimpolizei Ochrana – und wurde zum Tycoon der Petro-Rubel. Man sah Kanzler und PrĂ€sidenten ihn umschmeicheln und das TIME Magazin krönte ihn als „Zar des neuen Rußlands“ zum „Mann des Jahres 2007“. Ein starker Aufstieg, doch erinnert der PortrĂ€tist auch daran, daß Rußland ĂŒber eine solide Tradition des Tyrannenmords verfĂŒgt: Die Treppe von Odessa

In Putins Russische Welt erörtern der Philosoph Boris Groys und die russische Journalistin Liza Lazerson die Sanktionen des Westens gegen Rußland. Groys vergleicht das heutige Rußland mit der Sowjetunion, in der zuletzt innere Distanzierung, Arbeitsunlust, Erwartungslosigkeit und eine „kollektive nationale Depression“ grassierten, die zum Zusammenbruch beigetragen haben. Der Philosoph meint, der Krieg sei Teil eines schon seit hundert Jahren anhaltenden Restaurationsprozesses in einem Rußland, welches einst Leuchtturm der Weltrevolution sein wollte.

In einer psychoanalytischen AnnĂ€herung geht Boris Groys politisch-philosophischen Axiomen und mentalen Tiefenstrukturen nach, die seit dem 19. Jahrhundert und lĂ€nger das VerhĂ€ltnis Rußlands zum Westen prĂ€gen. Er legt den Patienten Rußland auf die Couch und bringt ihn zum Assoziieren und Sprechen, wobei WĂŒnsche nach Überbietung des Westens abwechseln mit strikter ZurĂŒckweisung und GegenentwĂŒrfen. Der russische Intelligenzler ist in ein „europĂ€isches Bewußtsein“ und ein „russisches Anderes“ gespalten. „Wenn Rousseau sich TrĂ€umen von Indianern hingab, die deutsche Philosophie TrĂ€umen von Indern, Gauguin TrĂ€umen von Polynesiern, Picasso TrĂ€umen von Afrikanern usw., erwies sich der russische Intelligenzler als Kentaur aus Rousseau und dem Indianer, Schopenhauer und dem Inder, Picasso und dem Afrikaner (...) In seinem eigenen ‘Anderen’ erkannte der Russe den Traum der europĂ€ischen Philosophie, in sich selbst erkannte er die Realisation ihres Ideals. Aus dem kritischen Prinzip: ‘das Unterbewußtsein bestimmt das Bewußtsein’ (...), welches der russische Intelligenzler mit dem gesamten europĂ€ischen Denken der Moderne teilte, folgerte er daher: ‘Rußland (als Unterbewußtsein) bestimmt Europa (als Bewußtsein)’, oder genauer: ‘Rußland muß den Westen bestimmen’.“

SchĂŒsse. Bomben. Besatzung. Massaker. Flucht ist die Folge, zerstörte StĂ€dte, Infrastrukturen und HĂ€user entziehen den Menschen in der Ukraine ihren Lebensraum. Die MĂ€nner kĂ€mpfen zumeist im Widerstand, Frauen und Kinder fliehen nach Polen und von dort aus weiter in andere LĂ€nder. Doch die Gefahren enden nicht mit dem GrenzĂŒbertritt. Entlang der polnischen Grenze war Azadeh Moaveni unterwegs und sprach mit Frauen und Helfern. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zĂ€hlen ukrainische Frauen zu denen, die weltweit am hĂ€ufigsten Opfer von Menschenhandel werden. Seit Kriegsbeginn haben FĂ€lle von Menschenraub an GrenzĂŒbergĂ€ngen und Bahnhöfen, aber auch auf Social-Media-Plattformen, wo Frauen Schutz und Arbeit suchen, stark zugenommen. Frauen auf der Flucht berichtet von den Erfahrungen fliehender Frauen im Überlebenskampf.

Auswirkungen von Putins Angriffskrieg auf die LĂ€nder Mitteleuropas ordnet der Politikwissenschaftler Jacques Rupnik in Konzentrische Kreise. Durch den Krieg wird die Debatte in Mitteleuropa ĂŒber die europĂ€ische Integration neu belebt. Mitteleuropa ist wieder Pufferzone zwischen West- und Osteuropa, Polen wird durch Millionen ukrainischer FlĂŒchtlinge zum multiethnischen Staat, die bilateralen Beziehungen der LĂ€nder modifizieren sich. Auch die Debatte um die Rolle der NATO, um neue Mitgliedschaften, um die Energie(un)abhĂ€ngigkeit von Rußland erleben eine Renaissance: „Genau um diese Frage der Werte und der Nicht-Zugehörigkeit Rußlands zu Europa kreist die mitteleuropĂ€ische Debatte ĂŒber die Ursachen des Kriegs in der Ukraine und ĂŒber das, was dort auf dem Spiel steht. Wir stoßen hier erneut auf eines der zentralen Themen der intellektuellen Debatten der 1980er Jahre bezĂŒglich der Wiederentdeckung Mitteleuropas, das Milan Kundera damals als einen von Sowjetrußland ‘gekidnappten Westen’, eine ‘andere Zivilisation’ definiert hatte.“

EXISTENZFRAGEN

Die Suche nach der eigenen IdentitĂ€t, dem wahren Selbst und nach authentischer Geschlechtlichkeit hat nicht nur Philosophen im Laufe der Geschichte, sondern auch die Generationen in den letzten Jahren fasziniert. Etwas gefunden hat der Schriftsteller Luc Sante, als er sich am 15. Februar 2021 eine App herunterlud, auf welcher er – noch Mann – sich als Frau, als Lucy Sante, erblicken konnte. Dieser Anblick ließ sie nicht mehr los, das war der Stein, der alles in Rollen brachte: „Der Gendertausch war eine seltsame und elektrisierende Idee, die den grĂ¶ĂŸten Teil meiner 67 Jahre lang irgendwo in einem Winkel meines Bewußtseins gelebt hatte.“ Die Kritikerin, Photographin und Autorin berichtet in Wie ich Lucy Sante wurde ĂŒber leidvolle Geheimnisse, ein Coming-Out und eine spĂ€te Erlösung.

In sechs Englischen Elegien bringt RĂŒdiger Görner sein leidenschaftliches, gebrochenes VerhĂ€ltnis zu diesem „weltvergessenen“ britischen Eiland, genauer zu England, zum Ausdruck: „Wellenumrittenes Land, schaum- und schattengekrönt;/ verinselter denn je in der Zeit. (
) Was ist es nur, das mich hier hĂ€lt,/ an diese Insel fesselt,/was nur...?“/ „Mit Zigarre, Weinbrand und Portwein löste man/hierzulande die RĂ€tsel der Zeit, spielte/Machtpoker in Clubs und tiefen Ledersesseln,/ grĂŒn bezogen der Spieltisch,/ an dem es ums Alles im Nichts ging.“ Ein zögernder Abschied, eine Hommage.

Der Theaterregisseur Benjamin Korn schildert in „unzensierten Erinnerungen“ seinen Weg vom jĂŒdischen Freiwilligen des Sechstagekriegs 1967 in Israel zum radikalen Kritiker der israelischen Besatzungspolitik in den palĂ€stinensischen Gebieten. Mit jĂŒdischen Freunden aus Frankfurt am Main verpflichtet er sich mit 21 Jahren zum Kampf fĂŒr die Verteidigung Israels. Doch er kommt zu spĂ€t und lebt stattdessen fĂŒr einige Monate im Kibbuz. Bei seiner RĂŒckkehr nach Frankfurt 1969 gerĂ€t er mitten hinein in die Konflikte der Studentenbewegung mit der Politik Israels. Vom Helden, der bereit war, sein Leben fĂŒr Israel zu riskieren, wird er zum AbtrĂŒnnigen in der JĂŒdischen Gemeinde Frankfurts. Tumulte in HörsĂ€len, Zerstrittenheit in der Familie, SchlĂ€gereien mit Bordellbesitzern aus dem Bahnhofsviertel, importierter Nahost-Krieg an der UniversitĂ€t, Boykott eines Fassbinder-StĂŒcks am Frankfurter Theater, Skandale. Benjamin Korn begibt sich auf das verminte Gebiet, Israel zu kritisieren, ein „tollkĂŒhnes Unternehmen“. Muß vor der Erinnerung an Auschwitz die Infragestellung von Israels Landnahme verstummen? Ein offenherziger RĂŒckblick: Kreislauf der Rache

„Europa kannte auch andere große Mythen, aber die christliche Geschichte war der GrĂŒndungsmythos des Kontinents und als solcher unantastbar“, so Douglas Murray. Auch andere Denker begrĂŒnden den Niedergang Europas seit der durch die AufklĂ€rung erwachsenen Krise des Christentums damit, daß Europa einen radikalen „Sinnverlust“ erlitten und seine „Grundorientierung verloren“ habe. „Niemand im Westen kann völlig unchristlich sein. Man mag sich als Nichtchrist bezeichnen, trĂ€umt aber dennoch immer christliche TrĂ€ume.“ So der Religionsphilosoph Don Cupitt. Doch war der Rationalismus als „Ableitung aus der mittelalterlichen Theologie“ gar nicht prinzipiell antichristlich eingestellt. Die zunehmenden Konflikte mit dem Klerus erwuchsen aus dem immanenten Drang des Rationalismus, wissen zu wollen, wie die Welt beschaffen ist, ohne auf Glaubensfragen RĂŒcksicht zu nehmen. Die Wissenschaft entfernte sich immer weiter vom Absolutheitsanspruch der Religion, aber auch von unserem Alltagslatein. Schon 1925 befand der Philosoph Alfred North Whitehead: „Die neue Situation fĂŒr das heutige Denken ergibt sich daraus, daß die wissenschaftliche Theorie den gesunden Menschenverstand weit ĂŒbersteigt.“ Heute leben wir in einer programmierten Welt, deren Routinen und Automatismen nur wenige Experten verstehen, wĂ€hrend die offenen Fragen ungelöst bleiben. Hans GĂŒnter Holl fragt nach der Desorientierung Europas: Ex oriente lux?

IM REICH DER BILDER

Einen Sensationsfund machte die Villa Massimo-Stipendiatin Kenah Cusanit, als sie bei einer Recherche im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam/Babelsberg eine vergessene historische Tonaufnahme entdeckte, die ein im Literarischen Colloquium Berlin 1979 beilĂ€ufig aufgezeichnetes GesprĂ€ch zwischen den berĂŒhmten Theoretikern Roland Barthes, Marshall McLuhan, Susan Sontag, Claude LĂ©vi-Strauss und Walter Benjamin (!) entdeckte. Der Semiotiker, der Medientheoretiker, die Kulturessayistin, der Mythenforscher und der Philosoph bereiteten sich gemeinsam auf eine spĂ€tere Veranstaltung vor, wobei durch ein mitlaufendes Tonband ein temperamentvolles GesprĂ€ch ĂŒber Photographie aufgezeichnet wurde. Wir werden zu Zeugen einer ideensprĂŒhenden Polyphonie. Man erzĂ€hlt vom Ursprung der Wildschweine und Mythen urtypischer Völker, erkundet das Bild an sich und die „Helle Kammer“, rĂ€soniert ĂŒber das VerhĂ€ltnis der Photographie zu Zeit und Tod und ĂŒber abendlĂ€ndische Bildkultur. FĂŒnf Personen auf der Suche nach der Kunst der Photographie und der Rettung des Menschen: Bricoletto

Der KĂŒnstler Ulysses Belz besucht mit seiner Tante aus Amerika Alte Meister in verschiedenen Museen. Erika, genannt „Ego“, gebĂŒrtige Kölnerin und promovierte Kunsthistorikerin, seit Jahren in Wisconsin zuhause, pflegt keinen Kontakt mehr zur Familie. Einzige Ausnahme: ihr Neffe. Mit diesem verbindet sie die Leidenschaft fĂŒr Kunst. Einen scharfsinnigen Dialog fĂŒhren die beiden angesichts der „Alten Meister“ Tintoretto, Manfredi, Rubens, Snyders, Chardin. FĂŒnf GemĂ€lde, fĂŒnf meisterliche Maler, die fĂŒr rĂŒcksichtslosen Lebenshunger, ausgelebte Sinnlichkeit, unerbittliches Können und moralische FreizĂŒgigkeit stehen und den Betrachter immer neu herausfordern. Alte Meister als WĂ€rmepumpe fĂŒr das erkaltete Leben, gefĂ€hrlich, konfliktbeladen, hochabstrakt, weiß man sie zu lesen.

Frivole Neugier treibt den KĂŒnstler Mark Lammert dazu, eBay zu durchstöbern wie einen Flohmarkt, in der Hoffnung auf eine Trouvaille. Im Übermaß der Angebote alter Zeichnungen rĂŒttelt sein Kennerblick ihn auf: Manche Werke erscheinen ihm so virtuos und vergeistigt, daß nur ein großer KĂŒnstler sie geschaffen haben kann. Langsam keimt in ihm ein Verdacht. Auf dieser digitalen Plattform fĂŒr alles und jeden werden delikateste Kunstwerke angeboten, deren VerkĂ€ufer nicht wissen, was sie aus der Hand geben. Und so fĂ€llt im Verlaufe einiger Jahre ein Schatz in seine HĂ€nde, aus Kellern und Speichern, von Erben, Antiquaren und KunsthĂ€ndlern. Kann das wahr sein? Sein detektivischer Instinkt und Forschergeist trĂŒgen ihn nicht: Kunstwerke aus dem Umkreis der Französischen Revolution, Zeichnungen von Ingres, Jacques-Louis David, Armand Cambon, Édouard Manet, EugĂšne CarriĂšre und Pierre Bonnard finden ĂŒber eine digitale Handelsplattform zurĂŒck in unsere Zeit. Es beginnt eine Suche nach der Herkunft der Bilder, den Situationen ihres Entstehens, den historischen Kontexten, KĂŒnstlerbiographien und abgebildeten Personen: Revolutionssplitter

Einer Idee des italienischen Kinoregisseurs Luchino Visconti widmet sich Alexander GarcĂ­a DĂŒttmann anhand dessen frĂŒhen Films Vaghe stelle dell’Orsa... von 1965 mit Claudia Cardinale. Visconti durchquert darin die Geschichte: von den Etruskern ĂŒber die griechische Tragödie, das römische Imperium und das Mittelalter, das elisabethanische Drama bis zur Romantik des 19. Jahrhunderts, zur Dekadenz und zum Futurismus, zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern und der italienischen Industriegesellschaft der 1960er Jahre. Es geht um alles und nichts, um eine unentzifferbare Vielfalt, die sich Hegels „höchster Bestimmung“ verweigert; es geht um ein eigentĂŒmliches „Ende der Kunst“. Hat nicht zuletzt jedes Kunstwerk etwas von Vagheit und OpazitĂ€t durch HeterogenitĂ€t, von einem Bordbuch zwischen Wachen und Schlafen?

KORRESPONDENZEN, BRIEFE & KOMMENTARE

Igor Klech aus Moskau liest die Schriften des preußischen MilitĂ€rtheoretikers Carl von Clausewitz. Dessen Werk Vom Kriege entmythologisiert den Krieg, indem er diesen zum analytisch begreifbaren Objekt macht, und es entfaltet Grundlagen der Kriegswissenschaft. Der „absolute Krieg“ – der rĂŒcksichtslose Krieg auf Leben und Tod – wird von absoluter Feindseligkeit genĂ€hrt und stellt eine totale Gewalt dar, die nicht die Niederschlagung, sondern die vollstĂ€ndige Vernichtung des Gegners mit Stumpf und Stiel zum Ziel hat. Hat der Krieg aber einmal begonnen, dann allerdings ist die Arithmetik mitsamt der Geometrie im Eimer. Wie heißt es im Spottvers eines Offiziers des russischen Generalstabs zu Zeiten der Verteidigung von Sewastopol: „Grad und glatt auf dem Papier,/ doch die Schluchten – die sind hier./ Wer muß drĂŒber? – Freilich wir.“ Dann tritt laut Clausewitz die „moralische Kraft“ der KĂ€mpfenden in den Vordergrund.

Thomas Willems ist gefangen im Lockdown, in der Millionenstadt Schanghai, die von der Regierung fĂŒr 85 Tage lang zur Geisterstadt gemacht wurde. Von einem auf den anderen Augenblick fixiert, eingesperrt an Ort und Stelle, in ihren BĂŒros, Krankenzimmern, Apartments, Tag und Nacht unter Kontrolle der WĂ€chter oder optischer ÜberwachungsgerĂ€te, werden die Bewohner allesamt zu Geistern in Zellen mit fiktionalen GitterstĂ€ben. Shanghai, Geisterstadt ermöglicht einen ungewöhnlichen Einblick in eine Stadt, auf deren Straße sich nur noch ein Roboterhund bewegt.

Der in SĂŒdfrankreich lebende Hexagon-Liebhaber Karl Heinz Götze leidet an der profunden Transformation des Landes und macht sich auf von Nord nach SĂŒd, von Lille nach Aix-en-Provence, in Richtung der legendĂ€ren Route nationale 7. Frankreich ist schön. La douce France – Besucher lieben das Land. Doch was erlebt man, wenn man bei einer Reise das jĂŒngste Frankreich der Transportsysteme und Logistikplattformen, Serverfarmen und Vorortsiedlungen, HypermarchĂ©s und Atomkraftwerke fĂ€hrt? Frankreichs neue Landschaften

Der Italiener Fabio Stassi erinnert an den italienischen Schriftsteller und RevolutionĂ€r Luciano Bianciardi. Der ErzĂ€hler folgt Bianciardi wie ein stiller Begleiter und lĂ€ĂŸt seine Lebensstationen Revue passieren: „In Pisa fĂ€ngt er mit dem Rauchen an, entdeckt fĂŒr sich den Liberalsozialismus, aber Ende Januar 1943 erreicht auch ihn die Postkarte mit dem Gestellungsbefehl.“ Das letzte Rothemd skizziert die Lebensgeschichte dieses zeitweise erfolgreichen, zuletzt jedoch einsamen anarchistischen Streiters gegen soziale MißstĂ€nde.

In Palermo regierte jahrzehntelang grausam die Mafia, und niemand hat sie so drastisch aufs Bild gebannt wie Letizia Battaglia, die sich der photographischen Dokumentation des kriminellen Geschehens ihrer Heimatstadt verschrieben hatte. Sie hat diese Diktatur aus dem Untergrund bildlich eingefangen wie niemand sonst. Regina Strassegger erinnert sich an eine Frau, die fĂŒr ein demokratisches Sizilien kĂ€mpfte, der Mafia mit der Kamera mutig zu Leibe rĂŒckte, aber auch den Opfern einen Moment des Erinnerns, ein Gesicht gab inmitten der Gewalt. Ein RĂŒckblick auf Battaglias „Leben in extremer RealitĂ€t“, als wĂŒrde man ihr beim Betrachten alter Photographien ĂŒber die Schulter schauen: Letizias unverwĂŒstliches Leuchten

Kurzweilig erkundet Hannes Böhringer das PhĂ€nomen der „Kette“ und wirft ein Licht auf die multiplen Wirkungen von Ketten aller Art. Mit Lieferketten zeigt der Autor, daß die Kette sich keineswegs nur materiell entfaltet, sondern auch immateriell zu wirken vermag: Jeder Mensch liege an der Kette, eine besondere Kunst allerdings sei es, damit tanzen zu können, wie schon Nietzsche postulierte.

Ein bissl bissig Ă€ußert sich der österreichische Schriftsteller Herbert Maurer zur Politik seines Landes bezĂŒglich des russischen Überfalls auf die Ukraine. Er identifiziert in dem routinierten Statement, Österreich sei und bleibe neutral, eine Art unverdienten Wohlstandsluxus von Felix Austria. Und er beurteilt die wohlfeile NeutralitĂ€tsgebĂ€rde, wie sie im „postkommunistischen und prĂ€demokratischen Arbeiter- und Bauernstaat katholischer PrĂ€gung von Amerikas Gnaden“ zu erkennen ist, als bequeme Ausflucht vor der Geschichte.

Wir wĂŒnschen Ihnen gute und inspirierende LektĂŒre!

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Lettre International

Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte MĂ€rz 2025.