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Lettre aktuell 2/2023



Lettre International 141 / Neue Ausgabe


 

Verehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser, liebe Freunde,

heute, am 23. Juni 2023, erscheint mit Nr. 141 nicht nur die Sommer-, sondern auch die Jubiläumsausgabe von Lettre International und liegt im Buchhandel, am Kiosk, an Bahnhöfen und Flughäfen sowie ab Verlag für Sie bereit.


35 JAHRE … EINE ZEITSCHRIFT IM LAUF DER ZEIT

Eineinhalb Jahre vor dem Mauerfall, am 26. Mai 1988, inmitten eines in Gärung geratenen Europas und dramatischer kontinentaler Umbrüche erschien die Nummer 1 der deutschen Ausgabe von Lettre International. Die verkalkten Strukturen des Kalten Krieges zerbröselten, eine Zeit der Unruhe und der fundamentalen Umwälzungen kündigte sich an. Man träumte von einer neuen internationalen Kooperation, von einer Ära des Friedens. Doch die Träume vom „Ende der Geschichte“ waren mit dem Bosnien-Krieg 1992—1995, dem Kosovo-Konflikt und anderen Gewalt- und Kriegsereignissen bald verflogen. Die Luft war wieder bleihaltig. Lettre International hat diese turbulenten Zeiten begleitet und ist seit 35 Jahren Zeuge und Spiegel dieser „Geschichte im Werden“. Die Zeitschrift schreibt mit und an ihrer Zeit, sie reflektiert und interveniert in ihrer Zeit. Als Sammelpunkt und Ausgangsort von Beobachtungen, Entdeckungen, Beschreibungen, Analysen, Ideen und als internationales intellektuelles Forum bleibt Lettre Werkstatt der Geistesgegenwart und Energiequelle. Und: eine unabhängige Publikation.

Lettre mit ihrem internationalen und interdisziplinären Konzept verkörperte von Beginn an eine zukunftsweisende Idee. Dennoch blieb die Zeitschrift – da autonom, karg an Mitteln und ohne Staatssubventionen – Überlebenskunst. Aber Lettre war eine Wette auf die Intelligenz der Leser – und diese Wette war erfolgreich. Das Überleben gelang mit Hilfe vieler sympathisierender unabhängiger Geister. Ihre Freundschaft und ihr Engagement haben Lettre 35 Jahre lang getragen. Ihnen allen dafür großen Dank!

Mit diesem Jubiläumsheft feiern wir also unser 35jähriges Bestehen. Versammelt sind bekannte und unbekannte Autoren aus vielerlei Ländern, Kulturen und Sprachen, Texte diverser Spielarten –Reportagen, Essays, Gespräche, Porträts, Meditationen, Geschichten, Erinnerungen, Analysen, Poesie, Kommentare und Korrespondenzen sowie Kunst und Photographie. Ein breites Themenspektrum erwartet unsere Leserinnen und Leser, von Literatur und Musik über Film und Kunst, queere Kultur und Stadtleben, Poesie, Psychoanalyse und Künstliche Intelligenz hin zu Politik, Geschichte und Gegenwart. Wir wünschen gute Lektüre und viel Vergnügen!

DAS JUBILÄUMSBANKETT: AMORE Antonio Tabucchi und Eine Nachricht für Tabonio Antucchi WEST UND ÖSTLICHES GELÄNDE Bulgarien, das Gefängnis des Stillstands und der Fluß der Zeit ● Die fünf Leben des Wolodymyr Selenskyj ● Richtige Angst – Poesie ● asymmetrie des todes – Poesie ● Lemberg – Die vergessene Mitte Europas ● Mein Freund, General Šejna ● Verschiebt sich Europas Gravitationszentrum nach Osten? SEITENSPRÜNGE Wilde Welt der Musik ● Raum der Atonalität — Jazzschlagzeuger zwischen Ost und West ● Tár, Tarr und Tarr — Die Überfrau als Übermensch ● Kaktus und Lockenwickler – Das Universum des Aki Kaurismäki ● Thriller Psychoanalyse ATMOSPHÄREN Die Frau aus den Karpaten ● Fernando Pessoa — Ein Maximum an Vielfalt im Minimum einer einzigen Person ● Venedig und die Venezianer ● Die Flicken des Harlekin — Existieren die Farben? NACHFORSCHUNGEN Argentiniens vergessener Krieg Und vieles andere mehr, darunter eine Erinnerung an Berlins legendären Gastgeber der Paris Bar Michel Würthle. Die künstlerische Intervention kommt von Christine Crozat mit ihren Mémoires de formes und Yael Martínez mit seinen übermalten Photographien aus Mexiko.


AMORE

Eine Nachricht für Tabonio Antucchi. Er entfaltete den Zettel. Zerknittert war der, übel zugerichtet, weil er ihn zwanzig Jahre lang immer wieder gelesen hatte. Und auch die Tinte verblaßte mit der Zeit. „Ich habe dich nur ein einziges Mal betrogen, aber intensiv. Im Juni 36, in Forte, mit Averardo Fonzi. Addio, Lina.“ (...) Es war Forte dei Marmi. Im Juni 36. (...) Aus dem Kellergeschoß des Bewußtseins, aus diesem kleinen Loch dort, aus diesem Deckel der Kanalisation taucht plötzlich eine häßliche, schmutzige Ratte mit rauchschwarzem Fell und roten Äuglein auf und hob den Kopf, triumphierend, dreist. Sie quiekte: „Die Tonietta ist keine Antucci, sie ist eine Fonzi!“ (...) Tatsächlich nannte Linas Botschaft ausdrücklich ein genaues Datum: den Juni 36. Tonietta war am 20. März 1937 geboren. Die Rechnung ging auf. Und was sollte „intensiv“ denn sonst bedeuten? Alle waren jung damals, und vor dem geistigen Auge versucht Tabonio Antucchi zu ergründen, was die Zeit den Protagonisten dieses kleinen Freundeszirkels bereithielt. Wer waren sie? Was verbergen sie? Was ist geschehen? Eine unbekannte, wunderbare Geschichte von Antonio Tabucchi, ein Jubiläumsgeschenk seiner Frau Maria José de Lancastre an unsere Leserinnen und Leser.

WEST UND ÖSTLICHES GELÄNDE

Er träumte den amerikanischen Traum. Wie Huckleberry Finn fühlte er sich frei, ins Indianerterritorium aufzubrechen, unbelastet von der eigenen Geschichte und Kultur, aus Bulgarien in die Neue Welt, um die westliche Grenze, die frontier, zu entdecken. Doch der Traum erwies sich als überholt, das gefeierte amerikanische Ich war selbst auch schon zu einer Ware des Supermarkts der Kulturen verkommen. Und so entschließt er sich, zurückzukehren in seine Heimat Bulgarien, vor dessen Lähmung er ins Offene geflohen war, aus einem Ost- und Mitteleuropa, wo die kommunistischen Regimes zusammengebrochen waren. Mittlerweile war aus dem Hochsicherheitsgefängnis Bulgarien eine frenetische Marktwirtschaft geworden, im Zukunftsrausch der neunziger Jahre wollte fast jeder etwas Kühnes mit der neuen Freiheit ausprobieren. Die Theater spielten radikale Stücke, die Literatur war getränkt mit postmoderner Ironie, es gab alles, was vorher verboten war: laute Musik, experimentelle Kunst, Pornographie, Drogen, die Haare waren grün, blau oder lila, und als Wodka und Marihuana nicht mehr genügten, halfen Crack und Omas Parkinson-Medikament, das zu unglaublichen Halluzinationen führte. Doch bald gingen die Ideen für eine bessere Zukunft aus; es gab immer und ewig die gleiche Suppe. Es griff das Gefühl um sich, daß man im Gefängnis der Zeitlosigkeit dahinsiecht, in den leblosen Landschaften von Instagram dahinvegetiert. Wo war, wo ist die Zukunft, wo der vorwärts gerichtete Zeitvektor geblieben, nicht nur in Bulgarien? Wie kann Europa eine neue frontier finden, starke, glaubwürdige Visionen? Dimiter Kenarov offenbart uns seinen Traum vom Meer.

Die französische Le Monde-Reporterin Ariane Chemin möchte den Nebel über der märchenhaften Karriere des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj lichten. Sie besucht seine Lebensorte, begegnet Freunden, Verwandten und Bekannten, ihre Recherchen führt sie an die Orte seiner Familie, Kindheit, Jugend, Ausbildung, seiner Freundschaften, seines Studiums, seiner Karriere als Stand-up-Comedian, als Schauspieler, Fernsehproduzent. Sie skizziert die familiären und psychischen, sozialen und historischen Bedingungen, unter denen ein namenloses Talent aus der Provinz sich im russischen Angriffskrieg zum heldenhaften Verteidiger einer mit der Vernichtung bedrohten Nation herausbilden konnte. Selenskyjs fabelhafter Weg verkörpert die wohl unwahrscheinlichste Karriere, welche die politische Welt seit langem gesehen hat. Zuerst verlacht und verspottet, als Oligarchen-Marionette denunziert, wird er vom schüchternen Politiker und Schauspieler eines Präsidenten in der beliebten TV-Serie Diener des Volkes zur Führungspersönlichkeit in einer Kriegswirklichkeit, und die Art und Weise, wie er die präsidiale Rolle ausfüllt, übertrifft alle Erwartungen. Welche Lebensstationen führten ihn dorthin? Die fünf Leben des Wolodymyr Selenskyj

Der Poet Georg Witte vertieft sich in seinem Gedicht in den Begriff der Angst, ein furchterregendes, ubiquitär gewordenes, magisch evoziertes Wort, das als Instrument im politischen Meinungskampf keinen Widerspruch duldet: „Wir aber haben die richtige Angst“, „Wir haben die beste Angst“, „Wir haben ethisch fundierte Angst“, „Wir haben aufgeklärte Angst“ (…) „Wir haben diskursiv konsensuelle Angst“ (…) „Wer sich unterwirft, aus Angst, muß keine Angst mehr haben. Das Unterwerfen hat endlich ein Ende. Das ist die richtige Angst. Sie erledigt sich gleichsam von selbst.“ Richtige Angst

Der chinesische Dichter Yang Lian, der seit dem Massaker auf dem Pekinger Tian’anmen-Platz im Jahr 1989 im europäischen Exil lebt, konfrontiert sich in seinem Gedicht asymmetrie des todes mit der wiederkehrenden Lebensverachtung chinesischer Machthaber. Chinas Menschen haben in der Logik der Herrschaft keinen Wert, und nichts, so Yangs bitteres Fazit, hat sich seit 1989 zum Besseren geändert: „der tod ist zurück, einfach so / unter toten zurück / unter lebenden zurück / zurück unter blutverschmierter straßenkleidung / der leere wind treibt leere körper fort / als würd’ er fragen / kann asche aschen überholen? (...)“

Einst Teil des Habsburger Reichs, galt das heute ukrainische Lemberg als „Jerusalem Europas“. Polen, Ukrainer, Deutsche, Juden und Christen lebten hier engstens zusammen. Dichter, Literaten und Künstler verbrachten ihre Zeit hier in einer schöpferischen Atmosphäre, die den kreativen Laboratorien der Wiener, Pariser oder Berliner Moderne nicht nachstand. Krieg, Holocaust und Vertreibung zerstörten diese Lebensvielfalt. Lemberg verlor in den Katastrophen von Krieg und Rassismus fast die gesamte Bevölkerung – und damit sein Gedächtnis. Der Historiker Lutz C. Kleveman und Alexander Kluge sprechen über diese tragische Geschichte. Die blühende, pulsierende multikulturelle Stadt wurde unter deutscher Besatzung zum Schauplatz von grausamen Verbrechen, Vertreibung und kultureller Entmischung. Das Gespräch konturiert, was Europa hätte sein können und was Europa an sich selbst verloren hat: Die vergessene Mitte Europas

Eine köstliche literarische Überraschung präsentieren wir mit der parodistischen Erzählung Mein Freund, General Šejna. Der früh verstorbene tschechoslowakische Drehbuchautor und Filmregisseur Pavel Juráček galt in den sechziger und siebziger Jahren als junges Genie. Er war befreundet mit Václav Havel und Milan Kundera und gehörte zur Generation jenes kulturellen und cineastischen Aufbruchs, der den Prager Frühling befeuerte. Nachdem sein Film A Case for a Rookie Hangman von den Zensoren in die Archive verbannt wurde, fand seine glänzende Zukunft ein frühes Ende. Nach sechs Jahren Exil kehrt Juráček physisch und psychisch zerstört in die Tschechoslowakei zurück. Bevor er ein halbes Jahr vor der Samtenen Revolution 1989 stirbt, gestattet man ihm zynisch, noch einen Film zu drehen — einen Lehrfilm für Fahrkartenkontrolleure der Prager Verkehrsbetriebe. Seinem hintersinnigen Humor und seiner satirischen Sicht auf die realsozialistische Bürokratie ließ er in seinen Tagebüchern freien Lauf. Mein Freund, General Šejna — Was ist denn das für ein Soldat? skizziert Lebenswege im Staatsapparat des realen Sozialismus.

Jacques Rupnik konstatiert eine Art Kontinentalverschiebung. Im Widerstand gegen Putins Bestreben, das russische Imperium zu rekonstruieren, wandeln sich mittelosteuropäische Staaten wie Polen und Tschechien zu östlichen Pfeilern des westlichen Bündnisses. Die polnisch-amerikanischen Beziehungen zum Beispiel waren nie intensiver. Wenn das politische Versagen Europas während der Balkankriege, der Zerstörung und Vernichtung in Srebrenica und Sarajevo seine „verfehlte Stunde“ darstellen, wurde der Ukraine-Krieg zur Stunde der Revitalisierung der transatlantischen Allianz. Zwar bleiben die strukturgebenden Institutionen Europas im Westen verankert, doch verschiebt das geopolitische Gravitationszentrum sich nach Osten. Frankreich ist dabei, seine russische Illusion aufzugeben, Deutschland wird sich der Dimensionen der „Zeitenwende“ bewußt. Und welche Rolle wird bei dieser Gewichtsverlagerung dem ehrgeizigen Polen zufallen?

SEITENSPRÜNGE

Er führt ein Doppelleben. Hat zwei Namen. Tagsüber ist er Professor David Sulzer, nachts Dave Soldier. Er ist Professor für Psychiatrie und Neurologie, aber auch Komponist und Violinist. Tagsüber fest etabliert, nachts mit einer Undergroundband voller revolutionärer Impulse unterwegs. Dann tritt Luk Kop in sein Leben, kurzzeitig Kinderstar in einem Disney-Film, und dieser Luk Kop wird zum Solo-Improvisationskünstler in Dave Soldiers Elefantenorchester. Abenteuer der Forschung beginnen. Sind Tiere musikalisch? Was hören sie? Haben sie ein Rhythmusgefühl? Können sie Melodien erlernen? Welche Funktion kommt ihren Stimmen zu? Haben Tiere musikalischen Geschmack? Welche Klangwelten erfahren sie? Und wie funktioniert und was bewirkt Musik im menschlichen Gehirn? Burkhard Bilger nimmt uns mit in die Wilde Welt der Musik. Er schildert bahnbrechende Experimente einer wissenschaftlich-künstlerischen Doppelbegabung zur Interaktion von neuronalen Schaltkreisen und Nervenerkrankungen, Gehirnströmen und Tonerzeugung, zu Musik, Mathematik und Geist. Wir erleben akribische Recherchen und phantastische Versuche auf völlig neuen Forschungsfeldern: was Elefanten, Vögel und Flamenco-Spieler einen komponierenden Neurowissenschaftler alles lehren können.

Den freien Raum der Atonalität erkundet Günter Baby Sommer in seinem Künstlerleben und im Gespräch mit Helmut Böttiger und Ulrich Rüdenauer. Er schildert seinen Weg vom Trommler der Radebeuler Tanzrhythmiker in der DDR zum überragenden Jazzschlagzeuger der Freien Musik. Er berichtet über die hartnäckige Suche nach Befreiung zwischen dem Free Jazz der USA und der avantgardistischen Jazzmusik im Osten, zwischen Einspielungen aus „teutschen Landen“, Bebop und Hard Bop, Neuer Musik und Improvised Music sowie über den schmerzlichen Verlust der Blue Note im akademisierten Jazz. „Nur wenn man etwas Schmutz bewahrt, kann man etwas in Gottes Koffer legen.“ Ein Jazzschlagzeuger zwischen Ost und West.

Der Kunsthistoriker John Roberts sieht in dem Film Tár eine brillante Diagnose unserer Zeit. Todd Fields Meisterwerk schildert Aufstieg und Fall einer begnadeten Dirigentin, die, von eisenhartem Erfolgswillen getragen, selbst an den Wolfsgesetzen einer von der späten progressiven neoliberalen Kultur neuformatierten Künstlerwelt zugrunde geht. Tár, Tarr und Tarr — Die Überfrau als Übermensch … und andere klebrige Dinge. In dieser Sphäre herrschen Neid und Eifersucht, Ressentiment und Rache sowie die Gnadenlosigkeit von Aufsteigern, die ihre Widersacher mit virtuosem Cyber-Mobbing verfolgen und denunzieren. Als weiblicher Künstlerstar verkörpert die Protagonistin keine überkommene Autorität, denn ihre Position beruht auf einer Assimilation lesbischer, schwuler, transgeschlechtlicher und dekolonialer Kulturkritik. Und so entfaltet der Film ein Spektrum queerer Identitätspolitik zwischen Anpassung und Rebellion, radikalem Künstlertum und skrupellosem Karrierismus. Dem Film wurde vorgeworfen, den bourgeoisen Kanon erneut zu zelebrieren, die Cancel Culture zu entwerten und den #MeToo-Aktivismus zu denunzieren. Doch Tár handelt als filmisches Sittenbild eher von der Selbstzerfleischung der europäischen Kultur und der Frage, ob und inwieweit die woke und queere Kultur die Voraussetzung einer neuen Freiheit darstellen können und als Kontrapunkt zur sicheren Tradition die Potentiale einer kreativen Monstrosität und einer transformativen Schönheit freizusetzen vermögen.

Das stoische Universum des Aki Kaurismäki durchquert Patricia Görg und genießt die träumerische Tristesse dieser finnischen Comédie humaine. In seinen Filmen wird viel geschwiegen, man liefert sich dem Unausweichlichen aus, tanzt Tango, um die Zeit zu vergessen. Traurige Helden bedienen alte Musikboxen, stehen neben abblätterndem Putz, erleben finanziellen Ruin, suchen ihr Heil in der Ferne. Seinen Menschen fehlt es an Geld, und sie versuchen, ihrem freudlosen Dasein mit gelebten Illusionen zu begegnen. Ein Hafenpoem voll alter Leuchtschriften, liebenswürdige Akkordeonmelodien und Gäste, die als Schattenrisse in den Fenstern nostalgischer Bars zu sehen sind, beschwören einen nicht mehr existenten Ort herauf: Utopia, und dies als Bollwerk der Menschlichkeit. Kaktus und Lockenwickler

Auch wenn es als Hollywoodkitsch hundertfach kolportiert wurde, bleibt es wahr: Eine Psychoanalyse ähnelt der Struktur des Kriminalromans. Und jene Vorbilder, auf die Freud für seine Theorie des Menschen zurückgriff, sind Prototypen des Krimis in der westlichen Kultur: Sophokles’ Ödipus und Shakespeares Hamlet. Auch Jacques Lacan verwendete mit Edgar Allan Poes Erzählung Der entwendete Brief Thriller-Helden als Modelle. Die Vorliebe für Detektive oder Mörder enthüllt metaphorisch das Wesen der Psychoanalyse als historische Untersuchung. Thriller und Psychoanalyse handeln von Ereignissen, die grundlegend sind und uns daher faszinieren: die Schöpfung des Lebens durch sexuellen Genuß und das Veranlassen des Todes. Die Psychoanalyse stellt jene Vorurteile bloß, die unser Verhältnis zum Sex und zum Tod prägen; diese Enthüllung hat tragischen Charakter, denn sie serviert als archäologische Ausgrabung etwas Unwiderrufliches. Tragisch ist das, was nur einmal passiert, was das erste, das eigentliche Mal geschieht, und was unwiderruflich den Fortgang der Geschichte bestimmt. Die Neurose des Subjekts beruht auf der Illusion, daß diese Ereignisse rückgängig und umkehrbar gemacht werden können: Geboren worden zu sein, männlich oder weiblich zu sein, diesen Vater oder jene Mutter, diesen Bruder oder jene Schwester gehabt zu haben — und eines Tages tot zu sein. Mit unumkehrbaren und also tragischen Zufällen des menschlichen Schicksals muß sich das Subjekt auseinandersetzen. Das ist die historische Konfrontation — ähnlich der halluzinatorischen Rekonstruktion eines Verbrechens — zu der die Psychoanalyse den Analysanden bewegt. Sergio Benvenuto über den Thriller Psychoanalyse.

Philippe Videlier ist eng vertraut mit dem Phantom. „Is it a plane, is it a bird? It’s Superman!!!“ Es war nicht Superman, nicht Bruce Wayne. Es war nicht Batman, nicht Clark Kent. Es stimmt: Dies waren Superhelden. Doch erst Kit Walker sorgte für Gerechtigkeit, brachte Banditen zur Strecke, ob in Afrika, Asien, an der nächsten Ecke oder unter fernen Völkern – er war der erste Superheld. Im Dschungel von Bengalen hieß er „Wandelnder Schatten“, er zeigte sich in New York, am 17. Februar 1936; in Australien trat er im Frauenmagazin Women’s Mirror auf: „Meet the Phantom“. In Mussolinis Italien war er berüchtigt: „L’Uomo Mascherato“; im Reich Atatürks hieß er „Kızılmaske“ – die rote Maske. Er küßte seine Geliebte auf den Mund, praktizierte schon den Zungenkuß, paradierte in Argentinien, erlebte Abenteuer in Brasilien, er war einfach überall. Weder Journalist noch Dandy hatte er ein Hobby: Gerechtigkeit. Das Phantom führte einen weltumspannenden Kampf gegen das Böse. Unterwegs mit dem Phantom. Eine Liebesgeschichte

ATMOSPHÄREN

Im Wald gibt es einen Wald. Dunkel, kalt, manche halten es dort nicht aus. Die physische Verfaßtheit ist, was die Situation gefährlich macht. Im Wald. Eine Hütte in den Karpaten, eine Figur im Türrahmen. Innen: eine Frau. In der Tür: ein Mann. Sie sehen sich kaum, erkennen sich nicht und kennen sich doch. Die Hände schwer auf dem Tisch. Rot, verwittert. Allein, allein im Miteinander. Krieg in der Ferne. Ein Augenblick des Schutzes. Eine Mahlzeit. Einsamkeit. Eine Frau. Sie sollte dort nicht sein. Niedergebrannt, die Dörfer. Verbrannt all ihre Bewohner. Unter freiem Himmel lauert immer Gefahr. Im Wald überlebt man nicht ohne eine Theorie des Waldes. Blutspuren im Schnee, Geräusch einer Axt. Immer dieselben Fragen. Die Zivilisation breitet sich aus und so die Barbarei. Glocken. Blut. Fußspuren. Über eine Wiederbegegnung im Versuch zu vergessen. Die mexikanische Autorin Cristina Rivera Garza über Die Frau aus den Karpaten.

Milan Kunderas Ideal von Europa war „ein Maximum an Vielfalt im Minimum einer einzigen Person“, und der legendäre portugiesische Dichter Fernando Pessoa war die Inkarnation dieses Ideals. Er erhob die Vielfalt zur Leitidee Europas und war — so Antonio Tabucchi — der europäischste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Lissabon war damals eine rückständige, provinzielle Stadt, Pessoa ein unscheinbarer, introvertierter Schriftsteller, der diese Stadt kaum je verlassen hat. Dennoch war dieses multiple Europa seine größte Leidenschaft. Sein Prinzip der Vielfalt verkörpert sich auch in jener Unzahl von Heteronymen, unter denen er publizierte, alle mit eigenen Lebensgeschichten, Beziehungen, Schicksalen. In seinem Nachlaß verbergen sich 136 literarische Persönlichkeiten und die wichtigsten davon mit eigener Biographie. Was im damaligen Europa tatsächlich geschah, war für Pessoa eine riesengroße „MERDA“. Die deutsche Kultur war ihm ein „durch das Öl des Christentums und den Essig der Nietzscheisierung verkommenes Sparta, blechernes Gewusel, der imperialoide Überschwang eines blindbeflissenen Servilismus“. Pessoas Idee Europas hingegen war eine völlig andere, ein Zusammenspiel von Vielfalt, Absorption und Synthese, geboren aus der Vielgeisterei des Menschen, die im Polytheismus vorgebildet ist: „Die Kraft, sich neue und eigene Augen zu schaffen, und immer wieder noch neuere und noch eigenere“ (Nietzsche), und er machte sich Heinrich Heine zu eigen: „Ich bin der inkarnierte Kosmopolitismus, und ich weiß, daß dieses am Ende die allgemeine Gesinnung wird in Europa“. Sein eigenes Leben war, wie er sagte, der Treffpunkt einer kleinen, nur ihm gehörenden Menschheit, und die wenigen Menschen, die zu seiner Beerdigung kamen, hatten auch nicht die geringste Vorstellung davon, daß sie einen der bedeutendsten Dichter zu Grabe trugen. Eine Hommage von Steffen Dix

Der spanische Romancier Javier Marías verlegte im Jahr 1986 seinen Lebensmittelpunkt in jenes gewaltige Museum, das Venedig heißt. Hauptziel der geographischen Träume der Menschheit, betrachten sich die Venezianer selbstverständlich als Mittelpunkt der Welt. Veritable Venezianer sieht man nicht so leicht, weil sie kaum aus dem Haus gehen, sie gestatten sich selten einmal eine Gondola über den Canale Grande, putzen sich elegant heraus, während die Touristen Vogelscheuchen gleichen. Stets scheinen sie unterwegs zu sein zu einer eleganten Feier, ihre Gesichter sind kantig gemeißelt, ihr Gang ist eilig, ihre harmonischen Beinmuskeln zeugen von zahllosen überquerten Brücken: Sie leben in einer Stadt aus Stein und Wasser. Venedig ist ohne Vororte, hier ist alles Bauwerk. Venedig ist ein Innenraum, hier gibt es kein Außen, es ist ein Raum, wo die Stimmen erklingen wie im Flur eines Hauses. Venedig genügt sich selbst, braucht nichts von außerhalb. Hier erlebt man die Dehnung des Engen, die Ferne des Nahen, die Unendlichkeit des Begrenzten, die Verschiedenheit des Identischen, das Verstreichen des Zeitlosen: Das wahre Venedig.

Der Triester Autor Claudio Magris ist verliebt ins buntgescheckte Flickenkleid des Harlekins und betört von der Vielfalt seiner Farben. Wie viele Farben gibt es überhaupt? Ein Atlas listet 999 Farbschattierungen auf, aber es gibt nicht einmal genug Wörter für all diese Nuancen. Die Netzhaut kann sie alle identifizieren, aber sie blitzen zumeist nur für Bruchteile beim Blinzeln der Augenlider auf. In welcher Weise existieren Farben? Die Farben sind nicht einfach objektiv da, sie verändern sich mit Licht und Schatten, doch man nimmt sie überall wahr. Weber, Drucker, Maler, Alchemisten, Chemiker, sie alle haben ihren eigenen Chromatismus. Was sagen Netzhautgelehrte und Farbhistoriker, was Maler dazu, und was die Schriftsteller? Eine Farbe kann in einem Roman zu Licht oder Musik werden, zu einer Figur, zu einem Bild vom Ende aller Dinge, zum Lebenselixier, zum Inbild giftiger Heimtücke oder zum Symbol politischer Bedeutung, wie das Grün der Ökologie oder das Grün islamischer Fahnen. Existieren die Farben?

NACHFORSCHUNGEN

Die argentinische Schriftstellerin Leila Guerriero hat über Jahre an den Exhumierungen der Opfer der argentinischen Militärdiktatur mitgearbeitet, um die Erinnerung an den Terror der Militärjunta wachzuhalten und neu zu beleben. In ihrer historischen Reportage Der vergessene Krieg widmet sie sich dem Verschwindenlassen der Vergangenheit durch Beschweigen: dem katastrophal endenden Falkland-Krieg der argentinischen Machthaber zur Eroberung der britisch kontrollierten Inseln gegen das überlegene Großbritannien, der absehbar im Desaster endete. Nicht die prestigesüchtigen Generäle büßten mit ihrem Leben, sondern einfache Soldaten, die aus Stolz und nationalem Ehrgefühl das schwache Argentinien gegen den westlichen Kolonialisten verteidigen wollten und sich opferten. Die Leichen der vernichteten argentinischen Soldaten ließ die Militärführung einfach liegen oder man verscharrte sie anonym in Massengräbern; und über Jahrzehnte widersetzte man sich den Forderungen nach ihrer Identifizierung. Die Angehörigen wurden hingehalten, vertröstet, abgewimmelt, zum Schweigen aufgefordert. Die Meisterjournalistin aus Buenos Aires schildert den Kampf der Hinterbliebenen gegen das offizielle Vergessen. Eine detektivische Spurensuche.

BRIEFE & KOMMENTARE

Berlin. Kantstraße. Die Paris Bar. Ein einzigartiger Ort. Ihr legendärer Gastgeber, Michel Würthle, Dandy, Artist, Lebenskünstler und Maître de Plaisir, inszenierte eine Welt aus Glamour, Savoir Vivre, Eleganz und Lässigkeit, Kunst, Gesellschaft und Politik, deren Ruf sogar auf internationaler Ebene fast jeder folgte, der dabeisein wollte. Aber: „Wer sich erinnern kann, ist nicht dabei gewesen.“ Eine allabendliche und allnächtliche Szenerie aus Kunst, Theater, Musik, Film, Trinkern und Trockenen, Introvertierten und Exhibitionisten, Darstellern und Zuschauern. Aber wer kannte ihn wirklich, diesen Österreicher im deutschen Exil, dessen Schmäh einen jeden unerwartet und zielsicher treffen konnte? Eine Hommage an eine gesellschaftliche Größe, die nur Eingeweihte und Wegbegleiter, wie Eckart Britsch, mit mehr als Halbwissen zu würdigen verstehen: Michel – Welcome to My World.

„Unser Leben“, so beginnt das Politische Testament Friedrichs des Großen, „ist nur ein rascher Übergang vom Augenblick unserer Geburt zu dem unseres Todes. Während dieses kurzen Zeitraums ist der Mensch dazu bestimmt, für das Wohl der Gesellschaft zu arbeiten, deren Teil er ist.“ Das Dokument trägt das Datum des 8. Januar 1769. Exakt drei Tage zuvor hat in London James Watt das Patent für seine verbesserte Dampfmaschine eingereicht. Im Abstand von drei Tagen treten so der Grundgedanke und das Grundgerät des Anthropozäns in die Geschichte. 15 Jahre später wiederholt sich das Ganze, als mit der Erfindung des Wattschen Kräfteparallelogramms, das die Dampfmaschine noch effizienter machte, der Veröffentlichung von Kants Was ist Aufklärung? und dem Ausbruch des isländischen Vulkans Laki gleich drei Schlüsselereignisse der Moderne kalendarisch zusammentreffen. Viel später, im Jahr 2000, werden Eugene Stoermer und Paul Crutzen das Jahr 1784, seitdem überdies der industrielle Anstieg anthropogener Treibhausgasemissionen nachweisbar ist, als das naturgeschichtliche Geburtsjahr des Anthropozäns bestimmen. Wenn wir nun als geistiges Geburtsjahr des Anthropozäns 1769 annehmen, so hat dies neben der Patentierung von Watts Dampfmaschine seinen Grund vor allem in dem obigen Zitat Friedrichs, zwei Sätzen, von denen jeder einen der beiden Grundtopoi der Moderne emblematisch formuliert. Der erste lautet: „Unser Leben ist nur ein rascher Übergang [un passage rapide] vom Augenblick unserer Geburt zu dem unseres Todes.“ Eine Plattitüde, wird man sagen, doch dieser schlichte Satz drückt – folgt man einer heute gängigen Geschichtsphilosophie – einen Paradigmenwechsel im Geschichts- und Weltbild des europäischen Menschen aus, dessen Tragweite bis heute reicht. Konstantin Sakkas über Lebenszeit und Weltzeit

Die Ökonomie neigt zur Despotie. Sie will ihre Effizienz aufs äußerste steigern und das offene Feld bis zum Grenzzaun erweitern. Hecken stören. Die Dornen reißen Löcher in die Kleider. Man kommt kaum durch. Den großen Maschinen stehen sie im Weg. Die intensivierte Bewirtschaftung ruft den Widerstand der Hecken hervor. Wenn sie niedergemacht werden, verschwinden auch die Pufferzonen. Die Nachbarn stehen sich am Zaun unmittelbar gegenüber. Ist es klug, bis an die Grenzen zu gehen? Wo genau sind sie? Unversehens hat man sie schon überschritten. Der Nachbar wird wütend ... Hannes Böhringer über Hecken und Felder

Konstantin Arnold kennt die Stadt gut, in der er lebt, und verspürt in ihr ihre einstige historische Funktion als Fluchtort Lissabon. Die große Flucht begann in den 1930er Jahren, als Europa stockfinster wurde: Mehr als hunderttausend wohl machten Lissabon zu ihrem Wartesaal. Intellektuelle, Schriftsteller und Juden, die Intellektuelle und Schriftsteller sind. Menschen, die durch Berufsverbote und Lebensgefahr zur Flucht gezwungen waren und hier auf Transitvisa warteten. Unter ihnen: Stefan Zweig, Friedrich Torberg, Franz Werfel mit Alma Mahler, Heinrich und Golo Mann, die Feuchtwangers, Kurt Wolf, Alfred Döblin, André Breton oder Antoine de Saint-Exupéry, Verfasser des Kleinen Prinzen. Eine Exilkultur wie in Paris konnte sich hier kaum entwickeln, dafür fehlte in Salazars „Filzpantoffeldiktatur“ ein geistiges Zentrum, das diese zusammenhalten konnte. Jeder war auf sich allein gestellt, doch erscheint Lissabon vielen nach ihren Qualen und Torturen wie das Paradies.

Mit der Veröffentlichung des Chatbots ChatGPT von OpenAI scheint Ray Kurzweils Prognose eingelöst, so Frank Beuth in Big Data aus dem Geist von Delphi, daß wir es noch vor 2030 mit Maschinen zu tun haben werden, denen mancher einen Satz wie „Ich denke, also bin ich“ locker abnimmt. Denn der Bot – ein künstliches neuronales Netz – ermöglicht auf nicht dagewesenem Niveau Interaktionen in natürlicher Sprache und generiert seinen Output überdies in nahezu jedem gewünschten Stil – von einfacher Sprache bis hin zu Shakespeares Versmaß. Sogar das alte Problem des Kontextes soll gelöst sein. Der Textkorpus, aus dem die Software schöpft, läßt sich als semantischer Raum verstehen, der Informationen über die Verbindungen (und deren Stärke) von Worten und Silben enthält. Das Wissen darum, daß das zugrundeliegende Sprachmodell darauf basiert, durch statistische Verfahren jeweils das wahrscheinlich nächste Wort gleichsam in Echtzeit zu erraten, tritt in den Hintergrund. Der stochastische Papagei erscheint uns als einfühlsamer Gesprächspartner.

KORRESPONDENZEN

Beiträge kommen von Herbert Maurer aus Wien über das Glück in den Städten; von Roman Kurzmeyer aus Basel über Brian O’Doherty, Künstler der ersten Konzeptkunst-Generation und Kritiker des White Cube; von Iain Sinclair aus London über den Krönungstag in Westminster; von Stephen Eric Bronner aus New York über die Chancen von The Donald, noch einmal Präsidentschaftskandidat der Republikaner zu werden.

KUNST & PHOTOGRAPHIE

Die künstlerische Intervention kommt von Christine Crozat mit ihren Mémoires de formes, die uns eine Welt leuchtender Schatten, zwischen Verschwinden und wachsender Intensität, Vergessen und Erinnern, aus Gesten, Schnitten, Schichtungen, Fragmenten und Formen zeigt, aus denen sich Gestalten schälen und Konfigurationen, Strukturen und Impulse, Stimmungen, atmosphärische Räume. „Wir koexistieren mit zahllosen noch vergrabenen Überresten, und so existiert ein großer Teil der Vergangenheit um uns herum weiter und offenbart sich in Bruchstücken oder verschwindet diskret.“ Übermalte Photographien aus Mexiko zeigt Yael Martínez mit Ein Traum von einem, der vor uns war.

Wir wünschen beschwingte und erholsame Sommertage bei inspirierender und spannender Lektüre! Bleiben Sie uns gewogen!

Mit den besten Grüßen,

Lettre International

Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.