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Lettre aktuell 4/2021

 



Lettre International 135 / Neue Ausgabe


Verehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser, liebe Freunde,

heute, am 9. Dezember 2021, erscheint die Winterausgabe von Lettre International 135 und liegt ab sofort im Buchhandel, am Kiosk, an Bahnhöfen und Flughäfen und ab Verlag für Sie bereit. Im Weiteren unser Newsletter zum Winterheft.



Staatspresse oder Pressefreiheit

Am Ende dieses Newsletters findet sich eine Dokumentation zur Geschichte und zu Hintergründen unserer Auseinandersetzung seit 2020 mit der und unseres juristischen Vorgehens gegen die Akademie der Künste und gegen die Bundesregierung in Form des Auswärtigen Amtes, gestützt auf ein Rechtsgutachten zur Verfassungswidrigkeit staatssubventionierter Kulturperiodika.



ANZEIGEN 2022 – TAKE FOUR!

An unsere geschätzten Anzeigenkunden:

Auch 2022 heißt unsere Devise TAKE FOUR! Sie buchen vier Anzeigen, bezahlen jedoch nur drei! Dieses Angebot gilt für alle Jahresschaltungen 2022, die bis zum 31. Januar 2022 gebucht werden. Übrigens: Anzeigen für 2022 können auch vorab, also noch 2021, bezahlt werden. Und vergessen Sie nicht: Jede Anzeige in Lettre wirkt immer wieder, 3 Monate, 90 Tage lang.


PRÄMIEN FÜR NEUE ABONNEMENTS

Reich gedeckt ist unser Gabentisch – für Leser & Freunde, Liebhaber & Weggefährten, Kollegen & Mitstreiter, für alle, die sich für ein neues DREI-Jahres-Abonnement entscheiden! Es erwarten Sie: Literarische Werke, Filmserien, Federhalter, Taschen, Globen, Schachbretter und eine Lettre-Sammelbox. Für Familienfreuden sorgen Katzen-Gurus und andere Spiele ... Drei auf einen Streich: Bescheren Sie sich, bescheren Sie Ihre Freunde und Ihre Familie, bescheren Sie uns. Hier geht’s zur Prämienseite: https://www.lettre.de/praemienreigen Greifen Sie zu!
Abonnements sind das finanzielle Rückgrat unserer Arbeit, unser Lebenselixier, und überlebenswichtig. Gerne beraten wir Sie zu Prämienwünschen unter Tel. +49 30 308 704 62.


UND DAS ERWARTET SIE IM NEUEN HEFT

Lettre International 135 bietet kristalline und erleuchtende Texte für die Wintertage des Lesens. Wir erwandern eine Stadt – C wie Chemnitz, vergleichen Künstler und Verbrecher bei Regelverletzungen und im Selbstdesign, erkunden Theater, Oper, Dichtung und Komposition, analysieren den Konnex von Kunst, Moral und Freiheit, begegnen Dichtern und Künstlern wie Fjodor Dostojewski, Gustave Flaubert, Christian Dietrich Grabbe und Jacques Tati, erleben die jüdisch-palästinensische Welt von Jaffa und beobachten Jugend, Erwachsene und Philosophie. Starke Stimmen erwarten Sie, darunter jene von Dževad Karahasan, Anne Applebaum, Slavenka Drakulić, Alexander Kluge, Helmut Lachenmann, Boris Groys, Frank M. Raddatz, Markus Quent, Michael Ostheimer, Suzanne Brøgger, Harry Lehmann, Zahiye Kundos, Alexander Ruoff, Georges Nivat, Alberto Moravia und vielen anderen.

EXISTENZKÄMPFE

Der Blick von innen nach außen, der Körper eingesperrt in eine Haut, die einem nicht mehr zu gehören scheint, die Intensivstation ein Ort der Sicherheit, der Routine, der Gewißheit, der Blick auf die Zeiger einer Uhr die einzige Bewegung in Raum und Zeit. Nichts ist mehr wie es war, der Körper eine Maschine, betreut von Mechanikern, die in Schutzkleidung als Menschen kaum zu erkennen sind. Und dann der lange Weg nach außen, vom Überleben des Körpers zur Belebung der Gedanken, von der Wiedergewinnung der Bewegung, der Fähigkeit, Nahrung aufzunehmen und den ersten Schritten zurück in die Wahrnehmung der Welt und das Erinnern an sich selbst. Slavenka Drakulić hat ihn zurückgelegt, den Weg zur Genesung von ihrer Corona-Erkrankung: Dünne Haut

Ein Bündnis von Jugend und Philosophie gegen die herrschende Erwachsenenwelt postuliert Marcus Quent in Elan und Resignation. Daß die Welt sich als eine Herrschaft der Erwachsenen konstituiert, ist nicht neu. Doch hat ihre Vorherrschaft heute eine qualitativ neue Stufe erreicht. Neu ist, daß es ihnen gelungen ist, die Koordinaten ihres eigenen Systems nahezu restlos auf Jugend und Philosophie auszweiten. Erkennbar ist dies daran, daß man es heute abseits der realitätsgerechten Erwachsenen allen voran mit erwachsenen „Jugendlichen“ und erwachsenen „Philosophen“ zu tun hat. Statt miteinander um den Elan zu ringen, stellen sie abgeklärtes Wissen und gelassene Souveränität unter Beweis. Statt vor dem Hintergrund der Resignation zu rivalisieren, verlieren sie ihre Zeit damit, den Kretinismus der Erwachsenen zu adressieren, zu kommentieren, kritisch zu begleiten. Es ginge darum, den Überschuß des Gedankens über das Seiende, die schwungvolle Begeisterung, die Körper und Geist über die Wirklichkeit hinausträgt, im Widerstand gegen Konformismus und Realität neu zu erobern.

KORREKTUREN

Durch die im angloamerikanischen Raum besonders drastisch um sich greifende Cancel culture sind inzwischen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit bedroht. Um die Instrumentalisierung dieses Begriffs durch Die neuen Puritaner des rechten wie auch des linken politischen Lagers weiß Anne Applebaum. Cancel culture ist ein geeignetes Mittel, um Feinde aus dem Weg zu räumen. Doch der Autorin geht es um etwas Profunderes: „Wie viel intellektuelles Leben wird heute unterdrückt aus Angst davor, wie eine unglücklich formulierte Äußerung verstanden werden könnte, wenn sie aus dem Zusammenhang gerissen und über Twitter verbreitet wird?“ In ihrer packenden Reportage begegnet Applebaum mehr als einem Dutzend durch Diskreditierung und Boykott Betroffenen. Dabei stößt sie auf kafkaeske Welten: Einmal in Verruf Geratenen drohen verborgene Ermittlungsverfahren, insgeheim durchgeführt von anonymen Kommissionen, soziale Isolierung und Existenzbedrohung sowie ein womöglich lebenslanges Stigma – ganz zu schweigen von wutschäumenden Urteilen einer digitalen Mobjustiz, die ohne jedes juristische Verfahren auskommt. Im derart angeheizten konformistischen Klima sind durchaus Ähnlichkeiten zur stalinistischen Sowjetunion und anderen autoritären Gesellschaften erkennbar. Um eine liberale Gesellschaft aufrechtzuerhalten, muß man sich daran erinnern, wie wichtig der Sinn für Mehrdeutigkeit, Nuancierung und Toleranz gegenüber Unterschieden für eine demokratische Öffentlichkeit sind. Algorithmen der Wut und die Verteidigung des Rechtsstaats

In seinem Essay Kunst, Freiheit, Moral sieht Harry Lehmann die Autonomie der Kunst durch ihre zunehmende Politisierung gefährdet. Bis 2015 litt die Kunstwelt an einem postmodernen Überdruß-Syndrom. Anything goes war die Devise. Die großen Tabubrüche der Moderne konnte man zitieren oder reinszenieren, aber nicht mehr überbieten. So griff man zu immer rabiateren Mitteln der Aufmerksamkeitsökonomie, wozu auch Jonathan Meeses Mannheimer Theateraufführung mit Hitlergruß und Hakenkreuz zählt, die 2013 für den gewünschten Eklat sorgte. Diese Performance steht für einen letzten Versuch, Aufmerksamkeit herzustellen in einer postmodernen Kunstwelt, in der sich für „Kunstfreiheit“ niemand mehr interessiert. Hier antizipierte ein Hofnarr der liberalen Demokratie die heutige Situation, in der Kunstfreiheit durch No Platforming, Cancel Culture und Diversity-Imperative in Frage gestellt wird. Die Fälle von Philip Guston, J. K. Rowling, Lisa Eckhart, Dana Schutz, Eugen Gomringer stehen für eine Entwicklung, die vor kurzem noch undenkbar erschien. Steht die Kunstfreiheit zur Disposition? Was bedeutet dies für eine liberale Demokratie? Wie es zu Autonomieverlusten in liberalen Demokratien kommt.

„Die menschliche Geschichte ist die Geschichte des begehrten Begehrens“, so der Philosoph Alexandre Kojève. Der Wunsch, geliebt, bewundert, Objekt der Begierde für andere zu werden, veranlaßt zum Selbstdesign. Wir produzieren ästhetisch relevante Objekte, umgeben uns mit Dingen, von denen wir annehmen, daß diese andere beindrucken und verführen, um von anderen bewundert zu werden. Dieses Interesse am Selbstdesign ist modern, säkular und ästhetisch. Solange Gott lebte, war das Design der Seele wichtiger. Das Subjekt wollte von Gott geliebt und anerkannt werden. Mit dem Tod Gottes verschwand der göttliche Betrachter der Seele. Gott wurde durch die Gesellschaft ersetzt – also wurde unsere Beziehung zur Gesellschaft erotisch. Wo Religion war, ist nun Design. Jeder will nun hier und jetzt geliebt werden. Allerdings zeigt uns die Geschichte, angefangen bei Sokrates und Jesus Christus, daß Menschen nur erinnert werden, wenn sie zu Lebzeiten abgelehnt und verachtet worden sind. Wie der Verbrecher, muß auch der Künstler etablierte Regeln und Gesetze übertreten, um im Gedächtnis anderer zu bleiben und im historischen Gedächtnis zu überleben. Boris Groys: Ein Kunstwerk werden

LEBENSRÄUME

Optionen für eine postkoloniale Wirklichkeit zwischen Blut und Verantwortung skizziert die arabische Literaturwissenschaftlerin Zahiye Kundos in ihrer Beschreibung des palästinensisch-israelischen Zusammenleben im israelischen Jaffa mit seiner multikulturellen Tradition. Sie erlaubt seltene, authentische Einblicke in einen uralten Ort der verschiedenen Kulturen, Sprachen, Religionen: Politische Kontroversen, Drogen und Kriminalität, Säkulare und Religiöse, konkurrierende Götter, die hybride Sprache des Ortes zwischen Arabisch und Hebräisch, eine immer wieder ausbrechende Gewalt, dies alles bildet das Kraftfeld Jaffa. „Während beide Lager jeweils das andere an der Gurgel festhalten, füllt sich die von der Nakba hinterlassene Leere mit dem Blut unserer Kinder, bis wir verstehen, daß es sich nicht um eine Tragödie, sondern um eine Komödie ohne Sinn, Ordnung und Verstand handelt.“

Chemnitz ist Kulturhauptstadt Europas 2025. Chemnitz ähnelt Nordkorea – in einer Hinsicht: Jeder kennt dazugehörige Klischees, aber kaum einer war dort. Sächsisches Manchester, Ruß-Chemnitz, die Stadt mit den drei „o“: Korl-Morx-Stodt. Wandelt der Besucher also durch Zeugnisse der Industriekultur und architektonischen Ost-Moderne, während ihn sächsischer Singsang einlullt? Das Stadtmarketing bewarb sich für die Kulturhauptstadt subtil: „C the Unseen“. Ihr Anfangsbuchstabe, englisch ausgesprochen, enthält die Aufforderung zum Hinschauen. Das Ungesehene solle gesehen werden – C wie Chemnitz. Eine literarische Stadterkundung der sächsischen Metropole unternimmt Michael Ostheimer: Rauh, aber apart

Ausgehend vom Diskurs rund um das Anthropozän und den Klimawandel, der eine kaum noch aufzuhaltende Zerstörung unserer Umwelt mit sich bringt, rückt Volker Demuth Landschaftsentfaltung ins Zentrum. Anhand des Dreiklangs von Körper, Wahrnehmung und Denken spürt er dem Erleben des Phänomens Landschaft über die Jahrhunderte hinweg nach: „Jede Landschaft ist ein Zeichenraum, versehen mit unterschiedlichen ästhetischen Bedeutungen und kulturellen Chiffren, mit historischen und alltäglichen Mythen.“ Demuth unternimmt einen Parforceritt über die ästhetischen Landschaften der Romantik und jene der Moderne bis in unsere spätkapitalistisch-digitale Gegenwart. Der so selbstverständliche und leichthin ausgesprochene Begriff der „Landschaft“ erweist sich als „ein synthetische[r] Begriff, [als] ein langkettiges semantisches Molekül“, das stetem historischen Wandel unterworfen ist. Nur durch ein genaues Verständnis dessen, was auf dem Spiel steht, läßt sich das Ruder vielleicht noch herumreißen und „eine sanfte Landschaftrevolution“ herbeiführen.

LIEBESERKLÄRUNGEN

„Ich liebe dich“, das sind nach dem World Book of Love die drei beliebtesten Worte der Welt. Helmut Klemm macht sich auf die Spuren dieser Zauberformel. Der magische Sprechakt „Ich liebe dich“ – das ist der Generalschlüssel einer intimen Kommunikation, die von Selbstzerstörung umwittert ist. Doch wer das Spiel der Liebe zu einfach spielt, bekommt sie vielleicht überhaupt nicht zu Gesicht. Liebe entzündet sich an der Individualität und zerbricht an deren Unüberwindlichkeit. Ein „Liebesabitur“ hilft da auch nicht weiter. Liebe ist vom Geheimnis umsponnen, sie ist ein System, in dem nicht alles gesagt werden darf und eben dieses Schweigen gilt als Zeichen der Liebe. Der Liebescode ist vom Gebot der Exklusivität bestimmt. „‘Ich liebe dich’, heißt ‘ich ergebe mich’“, doch Madame de Tourvel aus den Gefährlichen Liebschaften konstatiert: „Ich habe hundert Beweise ihrer Liebe, aber tausend ihres Widerstands.“ Es kann nicht alles gesagt werden ...

Warum verfaßte Dante Alighieri seine „Göttliche Komödie“ mit ihren philosophischen und theologischen Bezügen damals, als das gebildete mittelalterliche Westeuropa sich nur auf Lateinisch verständigte, in der italienischen Volkssprache, fragt Dževad Karahasan in seinem Essay Wunder der Sprache. Dante unterschied beide Sprachen: Das Latein repräsentiere „unveränderliche Einheitlichkeit der Sprache in verschiedenen Zeiten und Orten“. Die edlere sei „die Volkssprache (...), weil sie uns natürlich ist, während jene mehr als etwas Künstliches da ist.“ Karahasan folgt Dante und Platon in ihrer Liebe zum lebendigen Wort, in dem allein die sprachliche Vielschichtigkeit bewahrt werden könnte. „All unsere Gedanken, Gefühle und Erlebnisse, ja, unser ganzes Leben, übersetzen wir in Sprache, weil wir nur so unserem Aufenthalt auf der Erde einen vergänglichen, sterblichen Körper und Unvergänglichkeit zugleich geben können.“

Georges Nivat würdigt Fjodor Dostojewski aus Anlaß seines 200. Geburtstags. Dostojewski hat das Elend, die Verzweiflung, die Verbannung und die sibirischen Strafkolonien des Zarismus selbst als Häftling durchlitten. Seine fünf großen Romane offenbaren eine Empathie für die Extreme: für Gewalt, Radikalität, Nihilismus, den Bruch des Einzelnen mit der Gesellschaft einerseits, für Sympathie und Mitleid mit Verdammten und Verurteilten andererseits. Dostojewski hilft, das ungeheure Ausmaß der Fabrikation von Unmenschlichkeit in der Geschichte besser zu verstehen – vom wirklichen Leben und dem Sturz des Zarenreichs über die Lager des Nazismus und Stalinismus bis zum Massaker im Pariser Musikclub Bataclan und der jüngsten Katastrophe von Afghanistan. Dostojewskis Empathie

Caroline Commanville war die Nichte eines verehrten Onkels, den der Tod bei bester Gesundheit hinwegraffte: Er hatte sein Leben der Literatur gewidmet. Der Ästhetik, dem schönen Stil, bildgewaltiger Sprache galt seine Leidenschaft. Dieser geliebte Oheim war Verfasser der Madame Bovary oder der Erziehung der Gefühle, der Menschenbeobachter von Bouvard und Pécuchet, Wörterbuch der Gemeinplätze – Gustave Flaubert. Jahrzehntelang begleitete Commanville ihn, erlebte seine Lust am Komischen, seine Liebe zum Ideal, seine Lieblingsautoren, Freundschaften und Reisen, seine Melancholie. Nach seinem Tod beschloß sie, die Berührungen, Gespräche, Beobachtungen zu einem intimen Porträt dieser Schriftstellerexistenz zu verdichten. Innige Erinnerungen zu Flauberts 200. Geburtstag.

Eingeladen zu einer Abendgesellschaft der stadtbekannten Prinzessin zu H. kleidet sich der namenlose Erzähler einer Soirée im Stadtwald neu ein und begibt sich voller Erwartungen, allerdings unsicher, warum ihm diese Ehre zuteil wird, in Richtung des Stadtwalds, wo sich das Anwesen der Prinzessin befindet. Dort entspinnt sich angeregt durch eine Darbietung der „Goldberg Variationen“ einer jungen Piano-Virtuosin ein Gespräch über die musikhistorische Bedeutung Johann Sebastian Bachs, den der Erzähler eigentlich immer sehr gern mochte. Ein gewisser Herr Dahlmann bietet nun aber eine Perspektive auf das Schaffen des großen Komponisten, die seine Errungenschaften in ein zweifelhaftes Licht rückt: „Dahlmann nahm den Ball auf: ‘Nun denn, fangen wir mit den Goldberg-Variationen an. Hier zeigt sich nämlich im Kleinen das Problem Bachs. 32 Stücke, nicht wahr? Ziehen wir die Aria ab, die zu Anfang und am Ende gespielt wird, sind es dreißig Variationen, was der Anzahl der Tage im Monat im Schnitt entspricht. Jede dritte Variation ist ein Kanon, die beiden anderen sind freier, aber doch nicht ganz: Jedes der 32 Stücke hat 32 Takte, die in jeweils zwei Teile aufgeteilt sind, also 16 plus 16. Übrigens sind die 32 Stücke in sich selbst auch in zwei Teile aufgeteilt: Die ersten 16 Stücke bilden ebenso eine Einheit wie die zweiten. Ich sagte, jedes dritte Stück ist ein Kanon: Das macht insgesamt zehn, die heilige, die göttliche, die vollendete Zahl. Die Canones sind nach einem bestimmten Muster aufgebaut: Es beginnt mit einem Kanon auf der Prime, also unisono, dann Sekunde und so weiter, bis hin zur None. Die Canones sind die Darstellung des Göttlichen in der Vollkommenheit, also zumindest in der göttlichen Zahl. Sie können mir folgen?’ ‘Sicherlich’, erwiderte ich, ‘aber was wollen Sie uns damit sagen? Warum ist Bach gescheitert, wenn er so großartig, wie Sie gerade darlegen, seine Komposition strukturiert?’“ ... Matthias Zimmer erinnert sich an „den Abend, an dem mir die Musik von Johann Sebastian Bach verleidet wurde.“

MUSIK UND THEATER

Über Avantgarde in der Musik unterhalten sich der Komponist Helmut Lachenmann und Alexander Kluge in ihrem Gedankenaustausch über Monteverdi und die robuste Moderne. Der funkensprühende Dialog kreist um den Abschied von der Tonalität und um kompositorisches Neuland, um den Umgang mit dem musikalischen Material und die Idee einer „objektiven Musik“. Man spricht über die Entdeckung des Affekts, über Dissonanz, die Anatomie der Klänge und das alte Instrument Orchester, über die Emanzipation des Geräuschs, über den Versuch, die bürgerliche Musik abzuschaffen und über die Überlebensfähigkeit der musikalischen Tradition. Die Tour d’horizon berührt Werk und Leben von Claudio Monteverdi, Luigi Nono, Arnold Schönberg, Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez, Krzysztof Penderecki und György Ligeti und stellt auch die Frage: Wird ein C-Dur-Dreiklang in allen Kulturen gleichermaßen empfunden?

Die Skizzen und Geschichten von Alexander Kluge verstehen sich als erzählerische Zugabe zu jener „Zwischenmusik für große Gesangsmaschinen“, die Heiner Müller und Luigi Nono imaginierten und die sich näher mit dem Verhältnis der Stimme zum Orchester befaßte, mit der Parade der technischen Laute, mit Geräuschen des Körpers und der Atmung während des Singens, mit dem sensorischen Teil des Hörens sowie mit Klängen aus der Arbeitswelt. Es geht auch um die Stimmlosen der Geschichte, um den Brand des Wiener Ringtheaters und um John Cages Entwurf einer Suite für Cacophonie und Orchester aus Anlaß des Frankfurter Opernhausbrands 1987, welchen ein Zimmermädchen des Hotels als Abfall entsorgte. Fellinis Windmaschinen, Heisenbergs Unschärferelation, der Untergang der Titanic und eine Bibliothek der sanglichen Leistung sind ebenso mit von der Partie.

Der Historiker Philipp Blom entwickelt im Gespräch mit Frank M. Raddatz das Szenario einer geschichtlichen Situation, die auf einen gewaltigen Umbruch zusteuert. Die abrahamitische Konzeption der Erde als toter Materie muß – angesichts der sich anbahnenden ökologischen Katastrophen – neuen, rettenden Narrativen weichen. „Egal, ob sie stimmen oder nicht, wir brauchen die besseren Erzählungen. Denn es geht diesmal wirklich um etwas – kurzfristig um das Leben von Millionen, langfristig um das Leben von Hunderten von Millionen Menschen.“ In diesem Szenario kommt dem Theater eine kulturgeschichtliche Zukunftsfunktion zu: Ohne neue Phantasiehorizonte läßt sich die bevorstehende ökologische Transformation nicht bewältigen. „Ohne tiefgehende Emotion, wie sie nur die Bühne erzeugt, können sich die Einzelnen nicht verändern und einen neuen Kurs für ihr Lebensschiff setzen.“ Tod im Kirschgarten

Vor einigen Jahren gründete Bryan Doerries mit der New Yorker Kompagnie Theater of War eine neue Form von Theater. Weltbekannte Schauspieler wie Frances McDormand, Bill Murray, Marjolaine Goldsmith, Kathryn Erbe oder Jesse Eisenberg lesen in politischen und sozialen Brennpunkten und Brandherden wie Gefängnissen, Altenheimen, Krankenhäusern oder Militärbasen vor Heimbewohnern, Häftlingen, Versehrten, Soldaten und Kriegsheimkehrern antike Tragödien von Sophokles, Euripides oder Aischylos. In den Lesungen werden die sozialen Differenzen zwischen berühmten Akteuren oder Wissenschaftlern hin zu Ambulanzfahrern, obdachlosen Veteranen oder Pflegern überbrückt und alle an einen Tisch geholt. Mitunter treten sogar Nobelpreisträger Poesie rezitierend hervor. Diskussionen mit Zuschauern komplettieren die Inszenierungen. Über das Medium ZOOM kann ein Publikum in über 80 Ländern live am Geschehen teilhaben. Was motiviert die Truppe dazu, mit antiken Tragödien auf Probleme der globalen Welt zu reagieren? Chorgesang im Parkett. Ein Gespräch mit Frank M. Raddatz über Trauma und Tragödien – vom Heilraum zum digitalen Amphitheater

Ein Dramatikerleben in Scherenschnitten – präsentiert Rolf Schönlau. „‘Untergehen mit Begeisterung’, das haben mir fast alle attestiert“, sagte Christian Dietrich Grabbe „Ein Schwein von Talent“, meinte der Gerichtsrat und Theaterdirektor Karl Leberecht Immermann über ihn: „Einer der wenigen in der Gegenwart, die dichten, weil sie es nicht lassen können.“ Nur was hat das dem Dichter eingebracht? „‘N Platz, ‘n paar Straßen, ‘n paar Büsten, ‘ne Schule,‘n Archiv und ‘n Preis. Göttinger Akademie-Ausgabe, sechsbändig, historisch-kritisch, dazu drei, vier Reclam-Heftchen. Auf daß man mich in der Schule liest, wenn schon nicht spielt!“ Der schönste Nachruf stammt auch von Immermann. „Wenn der in den Himmel kommt“, soll er erzählt haben, „darf sich der liebe Gott nie von seinem Thron erheben.“ „Und warum nicht?“, fragte jemand. „Dann setzt sich Grabbe drauf!“ Ein Dramolett: Ich Grabbe

KAMERAFAHRTEN

Hein Gorny sah die Dinge neu im 20. Jahrhundert. Die Photographie war sein Medium zur Erkundung von Ausprägungen der Moderne. Zu den Photokünstlern und bildversessenen Pionieren jener Zeit gehörten auch Alexander Rodtschenko, Man Ray, Brassaï, Erich Salomon, Walker Evans oder László Moholy-Nagy, die eigene Bildsprachen für ihre spezifischen Konstruktionen entwickelten. Hannover wurde in den zwanziger Jahren zu einem Zentrum innovativer Photographie. Unternehmerpersönlichkeiten aus Firmen wie Pelikan oder Bahlsen sicherten durch lukrative Werbeaufträge die Lebensgrundlagen zahlreicher Künstler wie El Lissitzky, Kurt Schwitters und Albert Renger-Patzsch. Hein Gorny hob bei seinem Auftragsarbeiten zu einer künstlerischen Flugbahn ab, die in Sachen Klarheit, Radikalität und Prägnanz alles in den Schatten stellte. Klaus Honnef porträtiert einen Erneuerer der Photographie.

Dem Werk des französischen Filmautors und Komikers Jacques Tati gilt Axel Ruoffs Hommage. Tatis traumwandlerische Inszenierungen in Filmen wie Die Ferien des Monsieur Hulot, Playtime, Trafic oder Parade gleichen ethnologischen Expeditionen und Bildungsreisen im hermetischen Gehäuse unserer Zivilisation. Die Wege und Irrwege seines staunenden Helden durch Paris, für ihn Inbegriff der romantischen Liebe, das aber nur noch als Trugbild auf spiegelnden Glasscheiben existiert und einer futuristischen Stadt aus Stahl und Glas gewichen ist, eröffnen eine immer fremdere Welt, in der die Unerbittlichkeit technischer Zivilisation den Menschen entmündigt und zum Erfüllungsgehilfen degradiert. Hygiene, Ordnung, Kontrolle und Rationalisierung herrschen, hier markieren die Dinge die Menschen, drücken ihnen ihren Stempel auf, der dem Brandzeichen einer Herde gleicht. Fast lebt man schon in einer Schattenwelt. Die Gesellschaft scheint bereits ein zeitloses Totenreich geworden zu sein. Unser Zivilisationsdetektiv verfällt angesichts des Erlebten der Melancholie: Unterm Glassturz. Gibt es Chancen auf eine Auferstehung aus dem Jenseitsreich?

KORRESPONDENZEN, BRIEFE & KOMMENTARE

Der italienische Schriftsteller Alberto Moravia erinnert sich an eine winterliche Nacht 1941 in der „Neuen Welt“ von New York. Berauscht von bunten Menschenströmen und perplex vor der Eiseskälte dieser Stadtmaschine begegnet er in der Spielwarenabteilung eines Kaufhauses voller Marionetten, Hampelmännern, Pferden und elektrischen Eisenbahnen einem Automatenliebhaber. Dieser lädt ihn zu sich ein, um dem Besucher seine erlesene Sammlung animierter Puppen vorzuführen. Unheimliche Stunden folgen, mit sprachbegabten Mensch-Maschinen, verselbständigten Aufziehpuppen mit Apparaten im Kopf oder Uhrwerken im Bauch. Der Gastgeber eröffnet dem staunenden Gast, mit diesen Inkarnationen von Berechenbarkeit und Gleichförmigkeit nehme er jenes Ideal unablässiger Wiederholung vorweg, von dessen Realisierung die Menschheit sich ihr höchstes Glück erwarte.

Wie ergeht es kritischen Stimmen derzeit in der Öffentlichkeit? Die Zirkulation zahlreicher Verschwörungsnarrative und alternativer Fakten vor allem im Internet bringen die mediale Berichterstattung zusehends aus dem Gleichgewicht. Die Corona-Politik sachkundig zu hinterfragen und auf etwaige Schwachstellen, auch bei der Impfkampagne, hinzudeuten, scheint in diesen Verwirrung und Verzweiflung stiftenden Zeiten kaum noch möglich, ohne in die rechte Ecke gestellt zu werden. So sieht es Rüdiger Görner und bezieht polemisch Stellung Wider den Kritikverfall. Auf der Suche nach mit unserer Gegenwart vergleichbaren Situationen schlägt der Gelehrte sich durchs Dickicht der Weltliteratur und erhält Auskünfte von Sophokles’ Ödipus, Goethes Faust, Hölderlins Lyrik, von Friedrich Dürrenmatt und Ilse Aichinger. Von ihr kann man lernen, ein derzeit umstrittenes, ungeliebtes Wörtchen nicht einfach kampflos aufzugeben. „Fortschritt steht zur Zukunft quer“, wußte auch schon Heiner Müller.

Wie reagiert die Theaterszene London – einflußreichster Theaterort der Welt mit einem vielfältigen Angebot an Inszenierungen, Stilen und Häusern – auf die Pandemie? Und welche Konsequenzen ergeben sich aus der Katastrophe für das grundsätzliche Selbstverständnis des Theaters? Sylvie Bressler, intime Kennerin der Szene, hält die jüngsten Entwicklungen der dramatischen Kunst an der Themse fest. Ob Innovationen im Bereich des digitalen Theaters oder institutionelle Bestrebungen für die Wahrung der Diversität sowohl der erzählten Geschichten als auch des Publikums – in London reagiert man kreativ auf den tragischen Einschnitt durch die Krise.

Die dänische Schriftstellerin Suzanne Brøgger konstatiert aus Anlaß des siebenhundertsten Todesjahrs von Dante Alighieri: Seine geliebte Beatrice ist weltbekannt, aber wer war die Ehefrau, die ihm vier Kinder geboren hat? Wir wissen es nicht. Erkundigungen zu jener mysteriösen Gemma Donati: Dantes Frauen

Gegen den neuerdings virulenten Drang zu Mitgefühl mit allem und jedem, das uns umgibt, polemisiert auf amüsante Art und Weise Hannes Böhringer. Respekt, Empathie, Einfühlung und Korrektheit – so ubiquitär sie auch erscheinen mögen, so fehlen sie an entscheidender Stelle. Nicht zuletzt deshalb sieht es derzeit schlecht aus um unsere Umwelt. Großer Fehler, sicherlich, aber grundsätzlich gilt: „Wir ziehen in jedem Fall das Gute vor. Gut soll alles sein. Was will man mehr?“ Aber wie kommen wir dorthin, zum Guten? Nun ja, Sachte schubsen ...

In einer irrwitzigen Tour d’Horizon führt Herbert Maurer durch Triest – Wien – Berlin und läßt dabei keine Gelegenheit aus, den österreichischen „plappernden Operetten-Aristos an der Macht“, die inzwischen teilweise bereits den Hut nahmen, auf Wienerisch die Leviten zu lesen. Als Gegengewicht zu Schallenberg und Co gibt es ja glücklicherweise noch Goffredo de Banfield, alias der „Adler von Triest“, der einst bereits den deutschen „Roten Baron“ Manfred von Richthofen mit seinen Abschüssen übertrumpfte und dessen Urteil auch im Greisenalter noch gestochen scharf die vermeintlichen Überflieger vom Himmel holt.

Die jüngst von statten gegangene Hetzjagd auf die britische Philosophin Kathleen Stock nimmt sich Hans Günter Holl zum Anlaß, um die aktuellen Debatten bezüglich LGBTQ-Themen vor dem historischen Hintergrund der Aufklärung zu sezieren. Mit scharfer Zunge wird die „militante Gender-Bewegung“ angegriffen, um das Kritische, Kreative und Fruchtbare der Gesellschaft vor dem prinzipiellen Katechismus des Woken zu retten. Um das Doktrinäre und Sterile, das sich unter Wortführung der „Gender-Amazone“ Judith Butler breitmache, noch aufzuhalten, brauche es eine Rückbesinnung auf Aufklärung und Tradition.

Der französische Künstler Jaybo Monk begleitet das Heft mit Metamorphosen aus Mensch und Tier, Assemblagen aus Körperfragmenten, Dingen, Landschaften, Prothesen, aus Kultur, Evolution und Technik, durchzogen von Zitaten der Kunstgeschichte. Die Antlitze seiner Figuren sind versehrt, verstümmelt und werden neu konstruiert in wilder, brutaler Intensität. Augen blicken hier keinen Anderen mehr an, wir sehen Masken Verloschener, Gesichter transhumanistisch repariert. L'entredeux – Kunst der Begegnung

Wir wünschen Ihnen anregende, unterhaltsame und spannende Lektüre, eine schöne Weihnachtszeit und einen schwungvollen Rutsch in ein gutes und vor allem gesundes 2022!

Bleiben Sie uns gewogen!

Mit den besten Grüßen,

Lettre International

 

Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.