Lettre aktuell 4/2022
Lettre International 139 / Neue Ausgabe
Verehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser, liebe Freunde,
heute, am 8. Dezember 2022, erscheint mit der Nr. 139 die Winterausgabe von Lettre International und liegt ab sofort im Buchhandel, am Kiosk, an Bahnhöfen und Flughäfen und ab Verlag für Sie bereit. Brisante Themen und profunde Texte erwarten Sie, begleitet vom malerischen Figurentheater Anna Boghiguians, deren historische Protagonisten uns durchs Heft navigieren. „Time of change“ ist der Titel ihrer zeichnerischen Serie, und den Veränderungen unserer Zeit sind auch zahlreiche Textbeiträge des Heftes gewidmet. Der verheerende Krieg Rußlands gegen die Ukraine ist ein uns alle zutiefst beschäftigendes Thema, ein höchst gefährliches und uns alle existentiell betreffendes Ereignis. Wie schon im Sommerheft Lettre 137 versuchen einige anspruchsvolle Texte, Hintergründe und Ursachen des Geschehens zu interpretieren. Wir wünschen fesselnde und bereichernde Lektüre!
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UND DAS ERWARTET SIE / UNSER KURZMENÜ
+++ ABSCHIED Einer seiner letzten Texte Jean-Luc Nancy: Des Atems beraubt, begleitet von einer kurzen Einführung von Emmanuel Alloa: Zu Jean-Luc Nancys „Être soufflé“ +++ KRIEG UND FRIEDEN Georg Witte: Das Verhör +++ Oksana Timofejewa: Butscha ist ein Spiegel +++ Ksenia Golubovitch: Wanderer sein ... Tolstoi und die Erfahrung der Gewalt in der russischen Geschichte +++ Philippe Videlier: Stelldichein in Kiew +++ KLASSIK UND AVANTGARDE Alfred Brendel: Goethe und Beethoven +++ FM Einheit: Maschinenmusik +++ Peter Brötzmann: Mister Machine Gun +++ Jean Frémon: Geburt, mit drei Zeichnungen von Louise Bourgeois +++ Sergio Benvenuto: Jean-Luc Godard +++ ERKUNDUNGEN Anne-Felicitas Görtz: Kairos Katzen +++ Jean Malaurie: Neugeboren. Mit dem Hundeschlitten allein durch die nächtliche Arktis +++ Jan Borm: Malauries Weg +++ Suzanne Césaire: Tropen – Große Maskerade +++ Michael Ostheimer: Die Stimme des Styx +++ WEGBEREITER Rüdiger Görner: Der Fülle ein Horn +++ Suzanne Brøgger: Henry Miller – Rosafarbene Kreuzigung +++ Nedim Gürsel: Sait Faik in Istanbul+++ FASCHISMUS Pedro Barceló im Gespräch mit Alexander Kluge: Spanischer Bürgerkrieg +++ Alexander Kluge: Der spanische Posten und Dr. Cervix +++ BRIEFE & KOMMENTARE & KORRESPONDENZEN Johannes Balve: Benjamins Moskauer Tagebuch +++ Carl von Siemens: Liebe machen in Erdöbénye +++ Ulysses Belz: Kleine Diktatoren-Revue +++ Herbert Maurer: Quantensprunggymnastik +++ Piero Salabè: Poesie und Dritte Landschaft +++ KUNST & PHOTOGRAPHIE Anna Boghiguian: Time of Change und Martin Bogren: Passenger.
DES ATEMS BERAUBT
In seinem berührenden Text konfrontiert uns der Philosoph Jean-Luc Nancy mit einer düsteren Diagnose unserer welthistorischen Situation. „Wir sind des Atems beraubt, und diese Atemlosigkeit findet nichts anderes zu sagen als dies: Man wird Lehren ziehen müssen aus dem, was also geschehen hatte können. Doch dieser Imperativ, der uns immer und überall eingehämmert wird, verbirgt die Tatsache, daß wir in bezug auf die Zukunft völlig unwissend sind. Dieses Nichtwissen ist neu für uns und läßt uns erstaunt zurück: Wir waren derart daran gewöhnt, Zukünfte zu projizieren, daß wir seit drei oder vier Jahrhunderten im Vertrauen auf einen Fortschritt lebten. Einen nicht nur technischen, sondern auch sozialen, moralischen oder, alles in allem, zivilisatorischen Fortschritt. Heute erscheint uns unsere Vergangenheit jedoch wie aufgeblasen: aufgebläht von illusorischen Befriedigungen. ‘Morgen wird alles bessergehen’, diese Parole des Modernismus erlaubt nichts anderes mehr zu erwarten als immer schlimmere Morgen. Unsere genetische Ausstattung ändert sich. (...)
Es fehlt uns an Luft, das heißt an Denken, an jenem Denken, mit dessen Hilfe der Geist das Undurchdringliche erkennt. Atemlos staunend verharren wir vor dem, was uns übersteigt ... Was bleibt? Vielleicht nichts. Oder vielleicht die Spur eines Hauchs: ‘Du hast deinen Wohlgeruch verströmt, ich habe den Hauch eingesogen und seufze atemlos nach dir.’“
Emmanuel Alloa, Freund Nancys, schildert die Vorgeschichte dieser traurig-testamentarischen öffentlichen Intervention des großen Philosophen.
KRIEG UND FRIEDEN
Dem Umgang mancher deutscher Intellektueller mit dem Ukrainekrieg widmet sich der Dichter und Slawist Georg Witte. In offenen Briefen, Waffenstillstandsappellen, in Interviews, Artikeln, Talkshows, Radiopodcasts versucht man vielfach, die Ukrainer im Gestus aufklärerischer Argumente zur Kapitulation zu bewegen. „Wiederholt wurde von deren Verfassern betont, es gehe nicht um eine Delegitimierung des ukrainischen Widerstands, sondern nur um einen Appell an westliche Entscheidungsträger, sich für Verhandlungen einzusetzen. Die Implikation war, daß wir, in Deutschland, uns nicht einem, zwar irgendwie ‘verständlichen’, aber nationalistisch beschränkten, das Schicksal der Welt mißachtenden Kampfeswillen der Ukrainer andienen dürfen. Das Kernproblem dieses Kriegs ist für diesen Diskurs nicht der russische Terror, sondern der übertriebene Widerstand. Die Ukrainer erscheinen wie ein Volk der Lemminge, das sich, unbeeindruckt durch ethische Universalien wie dem Schutz des individuellen Menschenlebens, haßtrunken in einen kollektiven Selbstmord stürzt – und die ganze Welt gleich mit hineinreißt. (...) Die Blindheit gegenüber den terroristischen Exzessen russischer Militärstrategie ist dabei erschreckend. Ein Journalist führt im Oktober 2022 in einem Literaturhaus ein längeres Gespräch mit einer ukrainischen Schriftstellerin. Es wird live im Radio übertragen. Die Dechiffrierung des minutiös protokollierten Dialogs ergibt: Angesichts des realen Terrors und unter methodischer Ausblendung dieses Terrors wird die Rede der Opfer des Terrors angegriffen, mit Untertönen der Arroganz der Klugen gegenüber den Naiven. Und eine paradoxe Form des Zynikers tritt in Erscheinung – des Zynikers im Gewand des Moralapostels. Das Verhör. Ein hochspannendes Protokoll
Oksana Timofejewa interpretiert die Gewaltexzesse der russischen Armee in Butscha als Zeichen der Agonie eines Imperiums, das verzweifelt gegen seinen Untergang kämpft. Freud identifizierte den Todestrieb als Ursprung des Krieges und der Faschismus funktioniert in Übereinstimmung damit: Eine spezifische Konfiguration aus Macht und Eigentumsverhältnissen, die sich als Nation ausgibt, versucht sich zu behaupten, indem sie ein anderes Objekt als Ziel ihrer (auto-)destruktiven Triebe auswählt. Rußlands Krieg macht seinen Nachbarn zum Objekt von Aggression und Zerstörung. „Man könnte in Anlehnung von Freuds Theorie sagen, dass das ehemalige Imperium versucht, sich selbst zu erhalten, indem es seinen Todestrieb in eine militärische Aggression gegen sein Nachbarland Ukraine transformiert. Zu diesem Zweck ist der Despot bereit, die gesamte Bevölkerung in den Tod zu schicken.“ Butscha ist ein Spiegel. Die apokalyptischen Träume des Imperiums im Bluttheater des Krieges
Um die Konvulsionen der Gewalt zu verstehen, die vom heutigen Rußland ausgehen, muß man sich, so die russische Philosophin Ksenia Golubovitch, seine Geschichte der Gewalt vor Augen führen, von der Oktoberrevolution bis zum Trauma des Verlusts der Sowjetunion und der Wiederkehr des starken Staates mit den Kriegen gegen Tschetschenien und Georgien, über die Eroberung der Krim und dem Angriff auf die Ukraine. Die Autorin spannt den Bogen auf zwischen Leo Tolstois Diagnose der Gewalt und Swetlana Alexijewitschs Befund vom Ende des Roten Menschen. Gewalt hat den neuen Sowjetmenschen im Griff, umgibt ihn ununterbrochen und überall, Gewalt als eine Art Spiralstruktur, die die Person einhüllt. Vom Soldaten zum General, vom Informanten zum Henker reguliert Gewalt das Handeln als Erfordernis der Zeit, als Notwendigkeit und Ordnung. Bereits bei Tolstoi ist Gewalt überall zu finden, er sah sie als wesentliches Element der Gesellschaftskonstruktion, aber es ist noch weitgehend eine persönliche Gewalt: Und mit dem Verschwinden von Aristokratie und Klerus, mit dem Versinken der alten Welt, erklimmt die Gewalt des Staates die Bühnenmitte. In eine Zeit nach dem verbrecherischen Massenterror konnte die Sowjetunion nie vollständig gelangen. Man kultivierte das Schweigen über die Vergangenheit, um der Scham zu entgehen. In der postsowjetischen Gesellschaft wurde Gewalt nicht verarbeitet, sondern zum Trauma der Existenz, wie bei den aus dem Gulag entlassenen Gefangenen: eine Form des Alptraums, der nie zu Ende geht. Wanderer sein ... Leo Tolstoi und die Erfahrung der Gewalt in der russischen Geschichte
Der Historiker Philippe Videlier führt in einer archäologischen Szenenfolge durch die Geschichte Kiews und der Ukraine. Kiew galt als „Rom des Nordens“, gar als Rivalin Konstantinopels, die Stadt strotzte vor christlichen Heiligen und legendären Ereignissen. Kiew war ein Brennpunkt ideologischer Schlachten und Lebenszentrum von Protagonisten der Revolutionsbewegung. Leo Trotzki, Alexandra Kollontai, Nestor Machno traten auf diesem Schauplatz in Erscheinung. Es begann mit dem Generalstreik vom 8. März 1917, es folgte die Abdankung des Zaren. Ein revolutionärer Zentralrat übernahm die Macht, im Dezember 1917 erklärte Lenin die Anerkennung einer unabhängigen Republik Ukraine. Die Truppen des deutschen Kaisers intervenierten und setzten als Statthalter den adligen General Pawlo Skoropadsky ein. Im Gegenzug erwartete Deutschland Weizen, Zucker, Speck und Gemüse. Die ukrainischen Bauern revoltierten, die Bolschewiken eroberten Kiew, die rote Revolution strahlte aus auf Europa, die Welt schielte auf das aufgewühlte Kiew. Französische und britische Interventionen folgten. Das Land erlebte 14 Machtwechsel. Alle Hoffnungen zerstoben im Bürgerkrieg zwischen den Roten und den Weißen und im Stalinismus der Moskauer Prozesse: Stelldichein in Kiew – Revolutionsversuche in der Ukraine nach dem Ende der Belle Époque
KLASSIK UND AVANTGARDE
Der Pianist und Musikessayist Alfred Brendel entwirft ein faszinierendes Doppelporträt: Goethe und Beethoven. Er widmet sich den Gemeinsamkeiten und Widersprüchen der beiden Genies an der Grenze von Klassik und Romantik. Gemeinsam war ihnen der Ruhm zu Lebzeiten, die Weite ihres Ausdrucksvermögens, die Breite ihrer Interessen. Goethe huldigte dem Ideal einer Universalpoesie, schwärmte für die Kunst der Antike, verehrte Mozart und postulierte die Unantastbarkeit der Natur, deren Inbegriff in der Literatur ihm Shakespeares Geschöpfe waren. Beethovens Musik stellt seine liebende Anteilnahme an der Natur mit Wärme vor uns hin, doch als Leitvorstellung seines Lebens hat ihn die Freiheit viel stärker beschäftigt. „Goethe ergreift im Streit zwischen ‘Natur- und Freiheitsmännern’ Partei für die ersteren.“ Goethe geht es eher um die Freiheit des einzelnen, Beethoven um die der zukünftigen, der utopischen Menschheit. Die Singularität beider beruht auf einer kaum begreiflichen Vielfalt. „Beide lebten sie in einer Zeit historischer und künstlerischer Umwälzung. Goethe, aber auch der um eine Generation jüngere Beethoven, verehrte Napoleon, dem Goethe Dämonie zuschrieb. Napoleon hatte Goethes Werther nach seiner eigenen Auskunft siebenmal gelesen. Während Beethoven seine Widmung der Dritten Symphonie an Napoleon zerriß, als dieser sich zum Kaiser ausrief, bewunderte Goethe ihn auch weiterhin. (...) Die patriotische Begeisterung, die Napoleon in Deutschland auslöste, hat Goethe nie geteilt.“
FM Einheit, einst Mitglied der Avantgarde-Kultband Einstürzende Neubauten um Sänger Blixa Bargeld, hat in dreißig Jahren über 150 Theatermusiken komponiert. 1987 wandten sich die Neubauten dem Theater zu und standen bei Peter Zadek auf der Bühne, kooperierten mit Heiner Müller und dem Rundfunk der DDR. Für das Düsseldorfer Schauspielhaus entwirft FM Einheit Soundlandschaften. Als Bildhauer der Klänge verfügt er über ein opulentes Archiv der Geräusche, das es ihm erlaubt, Bühnenszenarien mit Klangwelten der Großstadt zu verweben. Sequenzen unseres akustischen Alltags zerlegt er in kleinste Bestandteile, montiert sie zu Collagen, die das darin gebundene Potential akribisch freilegen. Der Musiker erläutert im Gespräch mit Frank M. Raddatz, wie sein Œuvre aus Tonspuren eine Silhouette der Gegenwart entwirft und verborgene Zukunftsräume akustisch auslotet: Musikmaschinen. Die Montage der Bühnensounds und die Archäologie der Klänge
Peter Brötzmann ist die Symbolfigur des deutschen Free Jazz. Der 1941 geborene Musiker löste in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik einen Schock aus. Sein entfesseltes Saxophon, sein Trio mit dem Pianisten Fred van Hove und dem Schlagzeuger Han Bennink schrieb Jazzgeschichte. Im Gespräch mit Helmut Böttiger und Ulrich Rüdenauer schildert er seinen Aufbruch aus einem Deutschland voller Adenauer-Staub und Büroleichen in die explosive Welt des Jazz, geprägt von amerikanischen Musikern wie John Coltrane, Charlie Mingus, Miles Davis oder Thelonious Monk. Es waren wilde Zeiten, auch in der Politik, es gab Vietnam, es gab die politischen Morde in den Staaten. Er hatte Cage gelesen, verehrte Charles Ives. Brötzmann war rebellisch, wollte weg von Museumskult und Ausstellungskram und suchte eine freiere Art des Ausdrucks. Seine Platte Machine Gun war der Höhepunkt dessen, was später „die Kaputtspielphase“ genannt wurde, man versuchte, alle Parameter, die bis dahin Gültigkeit gehabt hatten, zu vermeiden und zertrümmerte sie dabei. Brötzmann steht für eine Problematik der späten sechziger Jahre, die noch heute aktuell ist: Politische und ästhetische Befreiungsbewegungen drifteten auseinander. Seine Radikalität ließ Brötzmann zum bekanntesten Avantgardisten des deutschen Free Jazz werden: Mister Machine Gun. Helmut Böttiger bringt die innovatorischen Energien des Künstlers zur Sprache.
Ein Maler wird von einem Domherrn beauftragt, ein Bild Jesu, eine Geburt Christi, anzufertigen, auf einer einzigen Tafel, denn Bilder seien eindrücklicher als Schrift. Der Domherr betonte: die Freude der Fleischwerdung. Christus und Geschlecht scheinen einander auszuschließen. Das Wort „Sünde“ hält sie voneinander fern. Das erste ist frei davon, das zweite davon durchdrungen. Darum wäre ihre Koinzidenz in einem Bild ein starkes Zeichen, um zu überraschen und die Sinne zu berühren. Jean Frémon über die Hintergründe eines nackten Jesus in der Malereigeschichte: Geburt. Begleitet von drei eindrucksvollen Zeichnungen von Louise Bourgeois.
Der Psychoanalytiker Sergio Benvenuto liebt und verehrt Jean-Luc Godard. Was faszinierte die Baby-Boomer-Generation so über alle Maßen an Godard? Was ließ diesen unzugänglichen Eigenbrötler zur künstlerischen Ikone einer ganzen Generation werden? Seine filmischen Errungenschaften und Stilmittel – Brechtsche Verfremdung, Verstöße gegen die filmische Grammatik, eine Parodie des Populären, ein Cinema povero und die Schönheit der Schauspielerinnen, die Klarheit, die Schimpftiraden, der Primat des Signifikanten –, bewirken sie noch einen kreativen Widerhall im heutigen Kino? Und welche jüngeren Filmregisseure kommen Godard am nächsten? „Charme und Grenze von Godards Kino liegen darin, daß er die Welt verändern wollte, während er über sie lachte. So legte er jenes Scheitern bloß, das in uns den Genuß erzeugt: Die Kunst der Moderne ist die köstliche Ergebung in ihre Zwecklosigkeit.“
ERKUNDUNGEN
Kairo: 22 Millionen Einwohner und ein ungebrochenes rasantes Wachstum. Tauben und Katzen sind Ureinwohner der ägyptischen Hauptstadt, und Anne-Felicitas Görtz folgt ihnen auf ihren Streifzügen am Nil durch Gassen, Gärten, Bazare und andere Reviere. Sie streunen durch den Souk, belagern Gärten und Villen, leben unter Brücken, am Nil, auf Friedhöfen, in Gassen und Häuserschluchten. Kairo birgt tausend Welten. Die 5000 Jahre alten Steine, die Mauern und Türme der Fatimiden-, Mameluken-, Khedivenzeit, die Pariser Haussmann-Alleen von 1863, die Bauhausentwürfe und sozialistischen Monumentalbauten, die monotonen Wohntürme der funktionalen Moderne, die über die alten Viertel hinausragen, und die gigantischen Planungen für immer neue Stadtviertel am Rande der Stadt, gekrönt von den hybriden Bauten einer völlig neuen Regierungsstadt vor den Toren der alten ... Was gehen diese Wechsel der Verhältnisse die Katzen an? Nichts. Doch kennen sie die Stadt wie niemand sonst. Ihnen folgend entdecken wir das wahre Kairo und seine gigantischen Veränderungen: Kairos Katzen. Streifzüge am Nil durch Gassen, Gärten, Bazare und andere Reviere
Am 12. Dezember 2022 feiert der große Arktisforscher Jean Malaurie seinen hundertsten Geburtstag. In seiner autobiographischen Reportage erinnert sich der Ethnologe der Inuit-Kultur an seine Initiationsreise ins tiefe Grönland und eine dramatische, einsame Hundeschlittenfahrt durch die eisige arktische Nacht. Letzte Vorbereitungen werden getroffen, die Schmetterlingspuppe will sich befreien, das Ich und sein Doppelgänger entschließen sich zu einem unwiderruflichen Wagnis in schwarzer Nacht. Der junge Arktisforscher setzt alles auf eine Karte. Schlägt alle Warnungen in den Wind. Die erfahrensten Mitglieder der Inuit-Gemeinschaft geben sich ungerührt angesichts des extrem gefährlichen Unterfangens und unkalkulierbaren Risikos für den Neuling aus Frankreich, der seine Bestimmung sucht. Es geht los. 16 Hunde sind eingespannt. Leithund Paapa wird zum einzigen Vertrauten durch Schnee, Eis und Finsternis. Schneewände, Wolkenschwärme, Gletscherwände – überall droht Lebensgefahr. Das Schicksal des tollkühnen Novizen liegt in der Erfahrung und Entscheidungskraft seiner Hunde. Über den Beginn eines Forscherlebens: Neugeboren. Mit dem Hundeschlitten allein durch die nächtliche Arktis. Überlegungen von Jan Borm zu Jean Malauries Lebensweg begleiten den Text.
Eine stürmische Liebeserklärung an die Tropen verfaßt Suzanne Césaire, die sich dem Glühen des tropischen Überschwangs von Martinique ergibt. „Hierzulande entzündet sich das Leben an einer lodernden Vegetation, hier, auf diesen warmen Böden, wo sich die geologischen Arten erhalten haben, wo die Pflanzen Leidenschaft und Blut in ihrer primitiven Struktur verankerten, kommen alarmierende Signale aus den turbulenten Hüften der Tänzerinnen. Hier nehmen gefährlich schwankende Lianen verführerische, luftige Posen ein, um die Abgründe zu becircen; mit zitternden Fingerspitzen klammern sie sich an dem keinen Halt bietenden, kosmischen Beben fest, das aus den von Trommelwirbeln erfüllten Nächten emporsteigt.“ Große Maskerade
Michael Ostheimer reist durch Griechenland, wie magisch angezogen von einem mythischen Ziel. In Hermann Pückler-Muskaus Südöstlichem Bildersaal liest er von einer „Winterreise im Gebirge des Peloponnes“ und einer Begegnung des Autors mit seinem Objekt des Begehrens: den Wassern des Styx. Oft war er dem Unterweltsfluß bei Lektüren begegnet, nun läßt ihn der Gedanke nicht mehr los, selbst ins Chelmos-Gebirge zu reisen, um sich den grausigen Wassern zu stellen: „Du mußt dich um dein Totsein kümmern!“ Seine Entscheidung führt ins Gebirge nach Kalavryta, dem Ort einer Massenerschießung als Sühnemaßnahme gegen Partisanen, Schauplatz des größten einzelnen Massakers der Deutschen Wehrmacht in Griechenland und zugleich einer Gedenkstätte für das Niederbrennen des Ortes. Die dunklen Wasser des Styx verweigern sich ihm zuletzt, doch eine Reise zur Kykladeninsel Paros befreit ihn von der Erdenschwere. Ein Museum des vordigitalen Zeitalters, der Parische Marmor, eine Büste des Archilochos, die Überreste einer Tempelanlage, der Zauber des Meeres, einer Landschaft und heiliger Stätten versöhnen sich in einer kathartischen Hochzeit aus Kultur und Natur. „Jetzt könnte ich fliegen!“
Die Anfänge des schwedischen Photographen Martin Bogren finden sich in der Reportagephotographie. Als er in den 1990er Jahren die Band The Cardigans bei Auftritten begleitete, entwickelte sich seine persönliche poetische Handschrift, die seinen ungeduldigen Wunsch offenbart, der Langeweile zu entfliehen und ein Woanders zu entdecken. Als stummer Zeuge nähert er sich seinen Sujets als subtiler, wohlwollender Beobachter und verbindet einen dokumentarischen Ansatz mit visionären Projektionen. Wir zeigen Passenger – ein Photoportfolio aus Kalkutta.
KÜNSTLERISCHE WEGBEREITER
Rüdiger Görner entziffert im Rückblick auf 1922 Facetten unseres heutigen Kulturbewußtseins: Der Krieg war vorbei, die Nachhut der Vorkriegsavantgarde machte mobil. Albert Einstein wurde 1922 der Nobelpreis verliehen, Alban Berg hatte die Komposition seiner Oper Wozzeck abgeschlossen, Oswald Spengler veröffentlichte seine Welthistorischen Perspektiven als zweiten Band von Der Untergang des Abendlandes. 1922 begrüßte T. S. Eliots und Rilkes Jahrhundertdichtungen, sah Virginia Woolfs Durchbruch zum perspektivierten Porträtroman Jacob’s Room und die mythenträchtige Analyse eines Tages im Leben des Dubliners Leopold Bloom: James Joyces Ulysses. 1922 war auf Zukunft bedacht. Doch Walther Rathenau war bereits ermordet worden und Mandelstam hörte schon die „Flügel der anbrechenden Nacht“ rauschen, ahnte das Aufkommen des Totalitären: Der Fülle ein Horn, Sternstunden literarischer Befindlichkeiten – Erinnerungen an 1922
„Hier wohnt ein alter Mann. Das Beste, was du tun kannst, ist, weiterzugehen und ihn in Ruhe zu lassen.“ Dies stand neben der Klingel, als die dänische Schriftstellerin Suzanne Brøgger in Pacific Palisades, Los Angeles, den damals vierundachtzigjährigen Schriftsteller Henry Miller besucht. „Nach einer Weile kam ein kleiner kahlköpfiger Mann in einem rosa Pyjama hinter einem Rollator angetaumelt, der auf die alten Tage den Mut aufzubringen schien, wie ein Kind zu sein. ‘Wir sind Seelenverwandte, findest du nicht?’, sagte er.“ Es kommt zu einem Gespräch über Literatur und Leben zwischen der Feministin und dem Mann, der die Frauen liebte, vor allem über Millers skandalöse Romantrilogie Sexus, Plexus und Nexus. „Der Dichter Rimbaud, eines von Millers Vorbildern, betrachtete seinen Wahnsinn als heilig, weil dieser seine Fähigkeit als inspirierter Beobachter kanalisierte. Miller war besessen von Systematik, von der Vorstellung eines allwissenden Überblicks. Zugleich sind seine Bücher – alle autobiographisch – ein unübersichtlicher, ungleichmäßiger stream of unconsciousness, als wären sie von einem Hirn geschrieben, das mit einem Hammer zerschmettert wurde wie ein Diamant. Das ist Millers Beschreibung von Nietzsches Hirn! Und doch stößt man in seinem Werk auf steinharte, leuchtende Passagen. Er ist ein Dichter des Herzens, aber wenn er am klarsten ist, schreibt er kühl.“ Für Miller darf es zwischen ihm als Dichter und als Mensch keinen Gegensatz geben, obwohl die Übereinstimmung zwischen Fiktion und Wirklichkeit eine an Wahn grenzende Obsession ist. Für Miller war entscheidend, daß Geist und Blut miteinander verbunden waren. Für ihn war ein Buch ein Strom aus Worten, der mit der Wirklichkeit verbunden war. Das Porträt eines Freigeists der Literatur: Rosafarbene Kreuzigung, Komödie und Tragödie des Lebens – Besuch bei Henry Miller 1976
Der Schriftsteller Nedim Gürsel erinnert an Fait Saik, einen legendären Einzelgänger der türkischen Literatur aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Saik grollt der Masse, die er „Trambahnstraßenmenschen“ nennt, er ist schüchtern und reizbar, emotional zerrieben zwischen homosexuellem Begehren und den Restriktionen seiner Zeit, er versucht, seine Angst vor Istanbul zu besiegen, für ihn die Hauptstadt der Einsamkeit und des Schmerzes. Mehr noch als Walter Benjamins Flaneur gleicht er dem „Untergrundmenschen“ bei Dostojewski, der sich in seinem Schneckenhaus verkriecht. Er versucht, dem Impuls zur Selbstaufgabe zu widerstehen. Seinen späten literarischen Ruhm konnte er nicht mehr genießen: Sait Faik in Istanbul. Das Leben eines Außenseiters, den die Einsamkeit zum Dichter machte
FASCHISMUS
Über Lektionen des Spanischen Bürgerkriegs unterhält sich Alexander Kluge mit dem spanischen Historiker Pedro Barceló. Dieser Spanische Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 bestärkte den Aufstieg des Faschismus in Europa. Alle Mächte, die sich daran beteiligten, haben ihn als Experimentierfeld in unterschiedlichsten Brechungen benutzt, er ist zum Kristallisationspunkt für die europäische Politik in der ersten Phase des 20. Jahrhunderts geworden; die demokratischen Staaten, die am meisten Grund gehabt hätten, die noch junge, zerbrechliche, bedrohte Republik und ihre Regierung zu unterstützen, haben es, vielleicht aus Angst vor Hitler und seinem schon mächtigen Deutschen Reich, nicht getan. Das wurde für die Republik verhängnisvoll, es wurde eine Katastrophe in einem Laboratorium für den großen europäischen Bürgerkrieg, den Zweiten Weltkrieg. Ein Blick zurück und eine Warnung vor gewissen Wiederholungen. Das Porträt einer erfolgreichen faschistischen Revolte: Spanischer Bürgerkrieg. Ein Schlüsselkonflikt des 20. Jahrhunderts neu bedacht.
Und dazu erinnern zwei kleine Geschichten von Alexander Kluge an den transitorischen Charakter so mancher politischer Ambitionen: Der spanische Posten und Vizeadmiral Dr. Cervix.
BRIEFE & KOMMENTARE & KORRESPONDENZEN
Das berühmte Moskauer Tagebuch Walter Benjamins und die Motive seines Verfassers erkundet Johannes Balve, er rekonstruiert die raumzeitlichen Bedingungen seiner Entstehung 1926, in der Übergangsphase der bolschewistischen Revolution zum Stalinismus. Benjamin verstand sich als Marxist, ließ sich jedoch nicht vom Revolutionsenthusiasmus vieler deutscher Intellektueller wie Ernst Toller und Egon Erwin Kisch hinreißen. Seine vielen Gespräche und Beobachtungen sind Momentaufnahmen an einem historischen Wendepunkt. Und es gelingt Benjamin durch seine Souveränität einer mehrdimensionalen Wirklichkeitserfassung, ein komplexes Panorama zu skizzieren: Benjamins Moskauer Tagebuch
„Der Vermieter des Hexenhäuschens hatte uns mit Fahrrädern ausgestattet, auf denen wir Erdöbénye erkundeten. Noch immer war keine Menschenseele auf der steilen Hauptstraße zu sehen, während die mächtigen Kastanien begonnen hatten, in der Trockenheit ihre Blätter abzustoßen. Ein Windstoß wirbelte das Laub auf und teilte die Wolken, so daß die beiden Kirchtürme wie in einer Schneekugel aufleuchteten. Mittendrin raste Eszter vor mir die Straße wie auf einer Skischanze herunter, richtete sich in voller Fahrt auf ihren Pedalen auf, so als ob sie ein Zirkuspferd reiten würde, und nahm mit zur Seite gedrehtem Kopf einen theatralischen Zug an ihrer selbstgedrehten Zigarette.“ Dieses Traumbild bleibt zurück von einer romantischen sommerlichen Reise ins ungarische Debrecen. Die vielen Störche auf den Dächern mit ihrem guten Omen waren zuletzt kein gutes Zeichen. Von den Schwierigkeiten interkultureller Begegnungen und die Erinnerungen an eine Liebesgeschichte im Ungarn von heute. Carl von Siemens, Liebe machen in Erdöbénye
Aus Palma de Mallorca berichtet unser Korrespondent Ulysses Belz von einem überraschenden Theaterereignis: Robert Wilson wurde für eine Neuinterpretation von König Ubu gewonnen. Mit Ubu roi schuf der Poet mit der Pistole und Verächter der Bourgeoisie, Alfred Jarry, 1895 eine zeitlose Gußform für Menschenschinder, in der jede Epoche auf Anhieb die aktiven Exemplare erkennt. „Der sich bereichernde despotische Popanz ist ein Phänotyp der Macht, dessen Bestimmung auf der Welt einzig darin zu bestehen scheint, Vernunft und Recht zu verhöhnen und zur Durchsetzung der eigenen Person alle Menschlichkeit in den Staub zu treten.“ Der Autor schildert, ob und wie Bob Wilson den Stoff und die Sprachkunst des Stücks bewältigt hat: Kleine Diktatoren-Revue
Das Leben ist einfach, der Kosmos auch. Die Frage nach dem Sinn der Ordnung sollte in der Schule beantwortet oder zumindest richtig gestellt werden. Am Puls der Zeit, am Puls des Denkens? Mit dem richtigen Lehrer ist das einfacher – unser Wiener Korrespondent Herbert Maurer und der den Nobelpreis für Physik 2022 in Empfang nehmende Quantenphysiker Anton Zeilinger, der Stockholm überdies noch eine Vortragsreise ins „Quantenwunderland“ verspricht, hatten zeitversetzt denselben Professor Lederer als Physiklehrer in ihrem gemeinsamen Gymnasium „Fichtnergasse“ in Hietzing. Erinnerungen an eine humanistische Lehranstalt und eine höchst charmante Art im Umgang mit Wissen und Lernen: Quantensprunggymnastik.
Durch das römische Viertel EUR, erbaut im Zeichen von Modernität und Rationalität 1942 von Mussolini und in den fünfziger Jahren architektonisch amerikanisiert, schlendert unser Autor Piero Salabè, dem dieses Viertel als sterile Landschaft düsterer Gleichförmigkeit erscheint. Diese anthropogene Landschaft lebt von einer extremen Funktionalisierung des Raums, der zur Verringerung der Vielfalt führt. Welcher Raum bleibt in einer geplanten, überwachten, kartographierten Welt für jene Freiheit und Vielfalt, die der Poesie und Liebe eigen sind, fragt sich der Spaziergänger und erinnert sich an Gilles Cléments Idee einer Dritten Landschaft, die von Leben wimmelt, wenn man den eigenen Blick um Millimeter verschiebt: „Die Welt ist eine Wüste und endlos die Beeren“: Poesie und Dritte Landschaft
KUNST
„Der Sinn der Kunst ist es, zu heilen. Es geht um den Heilungsprozeß des Lebens. Eine positive Haltung vorausgesetzt, sind Kultur und Kunst – das ist eins – Phänomene, welche die Welt heilen. Und ohne Kultur und Kunst riskiert die Welt, recht krank zu werden.“ Die in Kairo geborene ägyptisch-kanadische Künstlerin Anna Boghiguian malt politische Protestbewegungen. Es geht dabei um Knechtschaft und Aufstand, Tyrannei und Freiheitsdrang, Befreiungsversuche. Die unruhigen Szenen akzentuieren den Kontrast von politischen Führern und den einfachen Menschen. Die philosophisch inspirierte Erzählerin thematisiert Politik und Gesellschaft, Geschichte und Literatur, Vergangenheit und Gegenwart. Es geht um die revolutionären Umwälzungen des 18. Jahrhunderts in Frankreich und den Vereinigten Staaten, um die Geschichte Rußlands und der Sowjetunion, um Ereignisse in Haiti, Österreich, Nazideutschland und Ägypten. Time of Change
Wir wünschen Ihnen anregende und aufregende Lektüre und ein gutes und gesundes Neues Jahr 2023! Bleiben Sie uns gewogen!
Mit den besten Grüßen,
Lettre International