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Cover Lettre International, Achim Freyer
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LI 114, Herbst 2016

Kinder des Paradieses

Auch wir hatten unseren „kleinen Kern“, wie im Haus der unternehmungslustigen Heldin von Proust: einen engen Kreis von Dichtern, in einer heruntergekommenen Bürgervilla, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Als hätte mit einem Mal eine Pause eintreten müssen, machte der Strom unseres Lebens, wer weiß warum, halt, und an dieser Stelle, ähnlich einem Komma oder Knotenpunkt, entstand eine kleine Dichte, und dann tauchte wie aus dem Nichts eine geschlossene Gemeinschaft, ein Freundeskreis, eine Kameradschaft auf. Da war reiner Zufall mit im Spiel, vielleicht aber auch nicht. Eine Art Magnet zog unsere menschlichen Späne an, wenn diese auch aus ganz unterschiedlichem Metall waren; das ist unsere Enzyklopädie der Disparatheit. So ein Grüppchen kann, wie die Verdurins, stocksteif sein von den Konventionen, an die sich einige Leute halten, möglich ist allerdings auch eine solche Gemeinschaft von Individuen, die durch den Zeitpunkt und dann auch durch ihr Alter verbunden sind. Wir sind zwanzig, unser Hunger ist unendlich, der geistige und der wirkliche, hervorgerufen durch die allgemeine Armut. Die Tapeten des alten Hauses zeigen es, sie ringeln sich und fallen ab, das ist das Laub unseres literarischen Herbstes 1952.

Das Haus hat jedenfalls ungeachtet seiner Baufälligkeit noch weitere Räume, links und rechts von dem, in dem wir uns aufhalten, aber dieser genügt uns, und wir denken nicht darüber nach, was dort ist, auf der Seite. Etwas verwirrend ist die Aufteilung des ganzen Gebäudes, wohin führen die einzelnen Zimmer und wie sind sie verbunden? Das, in dem wir uns versammeln, kommt uns trotz seiner Breite gar nicht wie ein „Zimmer“ vor, sondern wie ein Vorzimmer. Wie jede Jugend ein Vorzimmer ist, von dem aus man weitergehen muß, manchmal auch nicht. Von dort, von der Seite dringen bisweilen Stimmen, schwächere oder stärkere Geräusche zu uns, aber das scheint uns nichts anzugehen. All das weist auf unsere Zusammengedrängtheit hin, mancher würde es Kohäsion nennen, aber das ist überhaupt nicht sicher. Auch ich schreite manchmal auf die gegenüberliegende Wand zu, durch die ein unverständliches Gespräch dringt, dann nehme ich davon Abstand, denn das für uns Wichtigste befindet sich in „unserem“ Zimmer, und das reicht uns.

Wir kamen überhaupt nicht auf die Idee, daß wir uns gegenseitig überprüfen müßten. Zu der Zeit lagen die Dinge offen, ein großer Schnitt der Geschichte hat den Körper des Lebens, wie in einer Prosektur, zerschnitten, der Jona unseres Schicksals ist ans Tageslicht gekommen. Das Mädchen, das hier wohnt, ist die Tochter eines geflohenen Quislingministers, ihre Mutter, eine anziehende „Strohwitwe“, betrachtet uns mit Argwohn, ihr scheint, wir sind der neue Menschenschlag, der ihr Leben zerstört hat. Ihre Tochter ist allerdings eins mit uns, als hätte sie vergessen, wer ihr Vater ist. So köchelt dieser Eintopf der jungen Belgrader Literatur jener Zeit, der Petraschewski-Zirkel meiner Generation, im Nest einer zerschlagenen Klasse, im Haus eines verhaßten hohen Kollaborateurs. 

Gleichzeitig verkehren da stramme Linke und wir anderen, unterschiedlichen. Wir anderen sind eher für Lautréamont, für Rimbaud, unsere Bücher sind Die Verliese des Vatikan, Melanctha, Der Fremde. Ein Linker trägt einen Ring mit schwarzem Stein am Finger, wie ihn Tischler und Schuster haben. Er ist ganz arm, ein proletarischer Dichter, auch wenn er über den leisen Herbstregen schreibt, der um uns herum rieselt. (Aber worüber sollte ein armer Poet, ehrenhaft sich selbst gegenüber, auch anderes schreiben als von der Feuchte, die in diesem Moment uns alle durchdringt?) Ich weiß nicht, warum arme Leute oft so einen Ring tragen, wahrscheinlich zum Schutz vor dem Rest der Welt. Ansonsten sind wir mehrheitlich unberingt, aber unsere Schuhe sind meist abgetragen und mancher Ellbogen wird bald hervorsehen. Was ist das, fragt unser Proletarier, ein vernickeltes Stück Etwas, ähnlich einem Glas, in der Hand haltend. Das Ding hat auf einem Tischchen in der Ecke gestanden, doch nun befindet es sich in der Hand des Dichters, der einen Ring mit einem gravierten schwarzen Stein trägt, in einer Hand, die seine Unsicherheit ausdrückt. Das ist ein Bierwärmer, sagt unsere Freundin dann, er hat dem Onkel gehört, der jetzt im Gefängnis sitzt. Den benutzt keiner mehr, sagt sie, heutzutage mögen alle das Bier ganz kalt. Dann stellt der mit dem Fingerring das vernickelte Sächelchen dorthin, wo er es gefunden hat, schaut aber weiterhin in diese Richtung.

Es gibt viele Unsicherheiten dort, nicht nur angesichts eines Gegenstandes, den wir bis dahin nie gesehen haben. Wo wir hingeraten sind, scheint es gar nichts zu geben, an dem wir uns festhalten könnten, als handelte es sich um einen völlig leeren Raum, das traurige Volumen der Jugend. Aber das ist nicht unbedingt ganz so. Jedes geschlossene Milieu, besonders das im Zimmer, ist voll von allem übrigen, man muß es nur bemerken. Heute denke ich, an diesem Ort gab es, virtuell, auch alles andere, ferne Städte, Berge, Meer. Manche von uns haben das Meer nie gesehen, nicht einmal einen höheren Berg, außer eben so, wie Berge und das Meeresblau in den Vorstellungen existieren, im Zimmer. Womöglich handelt es sich auch um eine Lähmung, die bei jungen Wesen sehr häufig auftritt. Es sieht ganz so aus, als würde der junge Mensch vor Bewegung explodieren, beinahe als wäre er ein kinetisches Spielzeug, aber man vernachlässigt hunderte Gegenbeispiele, wie den Stillstand im Lebenskreislauf der jungen Leute, wenn du, irgendwo in einer Ecke sitzend, nur in eine Richtung starrst und fast vergißt, daß du lebst. Dann können alle Inhalte, geboren in einem solchen verriegelten und abgetrennten Raum, auch Phantasmen sein, Phantasmagorien, bloße Fata Morganen, eine Illusion, entstanden unter dem Zwang der Kameradschaft. Denn diese ist ein Zeichen von Erkrankung, das kollektive Leben, das in der Familie und besonders das von Freunden, riecht gefährlich nach etwas Morbidem, Brüderlichkeit ist eine Krankheit. Der einzelne Mensch ist gesund, ganz gleich mit welcher Krankengeschichte er erblich vorbelastet ist, seine Erkrankung entsteht erst mit dem Eintreten in die Kollektivität, welcher Art auch immer.

(…)

Bei allem kann ich, nachdem ich mich von diesem lang zurückliegenden Verrat überzeugt habe, den bitteren Geschmack im Mund nicht loswerden; wie war ein gescheites, begabtes und fröhliches Wesen imstande, von Tag zu Tag und von Nacht zu Nacht seine Gedanken und sein Verhalten vor seinen engsten Freunden zu verbergen!? Tat ihr das in dem Augenblick weh, spürte sie einen Stich in irgendeinem Körperteil, ach, und die Medizin, der es nach jahrtausendelangen Anstrengungen nicht gelingt festzustellen, ob es in unserem Körper ein Zentrum gibt, eins für Verrat! Und wenn es eins gibt, reflektiert dieses die eigenen Warnsignale dort, im Zentralkomitee des Kopfes? Es sieht so aus, als wäre sie während unserer Freundschaft im Geheimdienst ihrer eigenen Konspiration, ihres eigenen Stasi-Büros tätig gewesen. Ich kann ja verstehen, wenn einer, wer weiß warum, in einen obskuren Dienst tritt, ihm bis zum Tod treu ergeben ist usw., aber mir fällt es schwer zu begreifen, daß sich jemand in sich selbst gegen sich selbst verschwört, als spionierte er sich selbst aus und schickte, wiederum an die eigene Adresse, vertrauliche Berichte darüber. Genau das hat dieses Mädchen damals getan, nur daß ihre Bekenntnisse erst jetzt, nach ihrem Tod, ans Tageslicht gekommen sind. Dort steht: Ja, während „unserer Zeit“ korrespondierte ich ständig mit Vater, den man der Kriegsverbrechen verdächtigte, und später reiste ich auch heimlich dorthin, in den Westen, um ihn zu sehen. Ja, ich nahm von der neuen Gesellschaft alles, was sie mir bot, doch in meinem Innern und für mich trennte ich immer wir und sie, unsere und ihre. So entlud sich schließlich dieses Soliloquium der Frau Hyde, das nachträgliche. Sie hatte ihr Jekyllsches Leben mit dem Ansehen und der Würde einer Doktorin der Literatur, eines geachteten Akademiemitglieds, einer Redakteurin, einer Laureatin staatlicher Preise usw. gelebt, aber als die Nacht hereinbrach, die endgültige Nacht unseres Schicksals, begann sich die gepflegte Hand auf einmal unangenehm zu deformieren, verzerrte sich plötzlich die Handschrift.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.