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Cover Lettre International, Etel Adnan
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LI 116, Frühjahr 2017

Pygmalionscher Essay

EINE meiner offensichtlich schlechten Eigenschaften ist mein Alter. Ich gestehe das genauso, ohne zu überlegen, weil ich glaube, daß das meiste Schlechte in der Geschichte der Menschen von alten Leuten ausgegangen ist. Die schon seit der Antike daran gewöhnt waren, mit ihren besonderen Fähigkeiten, die keine sind, all die jungen Leute zu führen. Ist nicht der ganze Wirrwarr auf der Welt überwiegend von diesen hinfälligen Vorsitzenden, Heerführern und Generaldirektoren ausgegangen? Das spüre ich jetzt selbst, da ich meinem Leben vorsitze und das lange Bataillon meiner Jahre kommandiere. Das ich viele Male hätte wegtreten lassen und nicht auf einen Gewaltmarsch unter der glühenden Sonne der eigenen Ambitionen treiben sollen. Wie bin ich mit der Disziplin, die, wie ich dachte, nur den alten Barden mit Perücken eigen ist, überhaupt an all meine karnevalesken Szenen und an meine surrealistische Poetik gekommen? Weshalb war ich nicht wenigstens ein bißchen verantwortungslos, eigensinnig, rebellisch gegen die allgemeine, generalstabsmäßige Ordnung meines eigenen Lebens? So viel Lockerung in einzelnen Augenblicken, so viel notwendige Verantwortungslosigkeit gegenüber meiner schriftstellerischen Verstocktheit habe ich versäumt. Warum vermochte ich die leere Zeit nicht zu genießen, die vielleicht die wahre Zeit des menschlichen Lebens ist, dieses unübersichtliche Volumen, aus dem was nicht alles hervorgehen kann!? Die Menschen, nicht nur ich, der ich das einsehe, leben leider meist in einer zusammengepreßten Zeit, in der sie sich, weil sie sie so gemacht haben, wie in einer engen Wohnung nicht umdrehen können. Ich hatte wenigstens die Möglichkeit, diese leere Zeit zu nutzen, weil ich mir ihrer von Anfang an bewußt war, nur habe ich mich vor ihr in ein irres Beschäftigtsein geflüchtet, man weiß schon womit. Aber wieviel behaglicher wäre das Leben, gäbe es dieses verrückte Beschäftigtsein mit irgendwas nicht! Der unbeschäftigte Mensch, das wäre ein ideales Modell, sogar für einen Maler des sozialistischen Realismus, falls er unbedingt auf seiner trivialen Buchstäblichkeit beharrt. Der Maler bemüht sich allerdings, ihn so ideal zu malen, mit einer Schaufel in der Hand oder zumindest einem Buch. Könnte wenigstens auch das Hantieren mit einem Buch ohne jenes Beschäftigtsein vonstatten gehen, wie wenn man eine Schaufel ergreift! Mein großer Mitbruder Thomas Bernhard scheint das, was er in Auslöschung sagt, an mich zu richten: „Du ... wirkst, als wärst du bei dir selbst angestellt!“ Denn so ist mein Leben auch vergangen, im Büro meines Lebens und nicht in dem, was nach der Arbeitszeit kommt. „Der Geistesmensch“, sagte ebendieser Schriftsteller, „ist … am allertätigsten, wenn er sozusagen nichts tut.“ Muß der Schriftsteller arbeiten, auch wenn er träumt, wie jener surrealistische Dichter, ohne Pause, selbst ohne Unterbrechung für eine Zwischenmahlzeit, auf die auch der letzte Beamte ein Recht hat! Auch jetzt, während ich dies bekenne, komme ich mir wie in einer Arztpraxis oder auf einem Polizeirevier vor, anstatt dieses Mädchen etwas genauer zu betrachten, an dem und in dem es, als es von seinem Fahrrad stieg, was zum Sehen gab!

DAS Betrachten einer schönen weiblichen Inkarnation gehört zu den besten Eigenarten der menschlichen Natur nur, wenn man nicht auch diese angenehme Handlung zur Verformung prosaischer oder poetischer Art nutzt. Habe ich meiner langjährigen Partnerin, nachdem ich in einem Manuskript vieles aus ihrer Geschichte genutzt hatte, etwa nicht ganz schonungslos erklärt, wir könnten nun unser übliches Leben fortsetzen!

AN dieser Stelle spüre ich, daß ich einen kleinen Augenblick bräuchte, um mich von allem, was ich sage, auszuruhen, aber Ruhe als Nullfläche in der Zeit habe ich mich genauso zu vermeiden bemüht, wenn es irgend möglich war. Schon jener Immoralist von André Gide sagt: „Ich habe Angst vor der Ruhe.“ Weil der Mensch in diesem Moment Zeit hätte, über sich selbst und seine Eigenschaften nachzudenken, aber davor flieht er meistens. Und wieviel Ruhe braucht ohnehin jeder, schon weil er sich von seinem Menschsein ausruhen sollte! Denn dieses ist überwiegend mit seiner Erglühtheit beschäftigt, als bedeutete es, ein Mensch zu sein, in ständiger Hetze zu leben, damit seine Rolle, die ihm weiß wer aufgedrängt hat, ausgefüllt wird. Ach, von diesem Gedanken, der das menschliche Wesen auf ein Rennpferd reduziert, braucht es Ruhe, sei es, um ruhig in seinen Stall zurückzukehren, oder um das Gras seiner Existenz auf einer freien Wiese zu knabbern. Das ist es, was ich in meinem falschen Leben ebenfalls versäumt habe, daß ich mich von mir selbst ausruhe, nur daß ich bis in dieses hohe Alter keinerlei Müdigkeit verspürt habe. In der Meinung, mich auszuruhen würde mich zu Tode ermüden!

EINER meiner Fehler ist meine Genauigkeit, aber ich weiß, daß sich die Welt mit ihrer Ungenauigkeit, ihren Verstößen und ihrer Unregelmäßigkeit behauptet hat. Was wäre aus ihr geworden, wenn alles nach unsinnigen Plänen und dämlichen Programmen abgelaufen und sie in ein Lager der Vorhersehbarkeit und in einen Paradiesgarten verwandelt worden wäre, den paradigmatischen Ort der Langeweile. Alles, was ich je geschrieben habe, ging aus dieser Prosodie des Unregelmäßigen und Unerwarteten hervor, und trotzdem kam ich persönlich mein ganzes Leben lang zu jedem beliebigen Treffen auf die Minute pünktlich, zitternd, wenn der oder die andere es nicht ebenfalls tat. Mein Lebensminus liegt ebenso in der Ordentlichkeit. Aber ich weiß gut, daß das eine Eigenschaft, eine eigentlich unsympathische, der germanischen Rasse und, noch schlimmer, des Nazismus ist. Der alles einschnüren wollte, außer daß er davor in den jüdischen Geschäften und in ihren armen Leben ein Tohuwabohu angerichtet hat. Hätte ich in den Zimmern meines Seins wenigstens ein wenig Unordnung und Ungeordnetheit hinterlassen, aber ich habe alles in Reih und Glied gebracht, als wäre ich ein grober Oberführer aus der Hitlerzeit. Ich hoffe aufrichtig, diese philosophische Blumenfrau hat nach ihrem Besuch bei mir wenigstens ein bißchen Unordnung im Haus hinterlassen, wo sie sich schon mit so viel Lebhaftigkeit bewegt und alles, worauf sie stößt, in Schwung bringt. Man kann doch nicht so frei und fast angenehm frech mit Professor Higgins umgehen, wenn alles in der Wohnung, im Leben, das sie soeben verlassen hat, geblieben ist wie in einer Apotheke. Der verstockte Phonetiker beabsichtigte, nicht nur ihren Akzent zu verbessern, sondern auch ihre Kleidung, ihre Umgangsformen, ihren Geist. Was dennoch in wertvoller Weise verzerrt wurde, ihr Geist drehte sein ganzes Leben um, obwohl er das, dank der Vorsicht seines Autors, nicht zugeben wollte. Braucht es denn einen unvorhergesehenen Bergfall des Lebens, um die festgelegten Konturen der menschlichen Existenz zu verschieben?!

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.