LI 136, Frühjahr 2022
Russisches Brevier
Elementardaten
Genre: Essay, Literarische Betrachtung, Porträt
Übersetzung: Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Grießhaber
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Textauszug
(…)
Die Westfront hielten die Deutschen und Österreicher ohne den großen Wunsch, sie zu verschieben, eher wollten sie sehen, was gegenüber, auf der anderen Seite des Grabens geschah. Wo Russen Ukrainer umbrachten, diese Türken, die Türken Kurden. Es schien, als führte jedes Dorf gegen jedes Dorf Krieg, die einen brannten die Häuser der anderen in der Nähe nieder und umgekehrt. Ebenso verhielt es sich mit Mord, Plünderung und Vergewaltigung. Die Frauen schmierten sich mit Kot ein, um der Gewalt zu entgehen, aber die Soldaten wischten sie mit Handtüchern ab und benutzten sie dann doch. Kinder gab es überall, oft tote. So stolperte auch Schklowski eines Morgens über eine kleine Leiche, als er aus dem Haus ging. Man sagte zu den Juden: „Sag: kukurusa.“ Der Jude sagte manchmal: kukurusha. Man tötete ihn. Um die Toten kümmerte sich niemand groß, außer manchmal. Als sie versuchten, aus zerstückelten Offizieren halbwegs annehmbare Tote zusammenzusetzen, aber es kam vor, daß alle Teile fehlten. So fügte man einen Verstorbenen mit einem großen Körper, aber einem kleinen Kopf und zwei linken Beinen zusammen. Wenn sie jemandem den Kopf abschlugen, gaben sie ihn Kindern zum Kicken, diese benutzten ihn mehrere Tage. Viele Versammlungen wurden abgehalten, in den Komitees, den Stäben, den Sowjets. Nie gab es gemeinsame Beschlüsse. So setzt sich mein Schriftsteller in dieses oder jenes Fahrzeug, fährt in die Nachbarstadt, man ruft ihn zu irgendeiner Versammlung, oder er muß irgendwelches Material dorthin bringen, was für welches, für wen und wozu? Steht er im Dienst der „Revolution“ oder ist er nur Ausbilder für die Reparatur von Panzerwagen oder ein neugieriger Literat, der an Ort und Stelle erfahren will, was geschieht.
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Das Leben in dieser Zeit nannte man Revolution, obwohl sich vieles vor der Eroberung des Winterpalais im Oktober, nach dem alten Kalender, abgespielt hatte. Lenin war noch in Finnland, Trotzki wer weiß wo, General Kornilow betrachteten sie als einen von ihnen, man weiß nicht warum. Mit Kerenski waren sie weniger warm. Ich hatte schon an die hundert Seiten Schklowski gelesen, aber nichts verstanden, als hätte ich Begebenheiten in einem Irrenhaus verfolgt. Vielleicht war ja auch ich, als ich es las, verrückt, aber vielleicht war nur mein Bekannter aus jenem Park, Viktor Borissowitsch, verrückt. Nicht von ungefähr hatte er bei unserer Begegnung so bitter gelacht. Rußland führte einmal zusammen mit Rußland Krieg gegen Rußland, so kam es mir vor. Etwas derartiges habe ich bisher allerdings in noch keinem Buch über die russische Revolution gefunden. Wo trotz des häufig destruktiven Talents des Erzählers alles meist irgendwie an seinem Platz war: Die Bolschewisten raubten Banken aus, eroberten die Post- und Telegraphenämter, ermordeten die Zarenfamilie und wurden halbwegs mit den westlichen Kanonenbooten fertig. Danach gingen sie zum Terror über, Fehlen von Salat auf den Märkten und allgemeiner Hunger. Diese allen verständliche Reihenfolge wurde jedoch durch eine allgemeine Neurasthenie durcheinandergebracht, die man von früher geerbt hatte und die in feinen bürgerlichen Familien anzutreffen war, nur daß diese manchenorts zu einer zerebralen Paralyse fortschritt. Bei Tschechow verharrte noch vor Lenins Hirnschäden alles in stiller Melancholie, mit Dscherschinski ging man über zur Paranoia. Schklowski ist also nicht nur der berühmte Autor, der die Verwandlung des literarischen Sujets in die Form aufzeigt, sondern auch ein Romancier, der den Übergang des normalen Individuums in ein unnormales beschreibt. Aus dem leeren, schwarzen Rußland wehte ein schwarzer Luftzug herüber, der Luftzug des Wahns. Man erzählte, die Franzosen seien bereits in Odessa gelandet und hätten einen Teil der Stadt mit Stühlen abgetrennt, ... hätten einen violetten Lichtstrahl, mit dem sie alle Bolschewiki blenden könnten ... Man erzählte, die Engländer – und die Leute, die das erzählten, waren bei gesundem Verstand –, die Engländer also hätten in Baku bereits Affenrudel an Land gebracht, die das komplette Exerzierreglement beherrschten. Man erzählte, diese Affen seien immun gegen Propaganda, sie seien furchtlos im Angriff und würden die Bolschewiki besiegen ... Ein furchtbares Land. Nicht erst seit den Bolschewiki. Diese brachten nur neue Formen des Wahnwitzes, bis dahin unbekannte. Als hätten sie versucht, die Grundelemente voneinander zu scheiden, das Licht vom Tag, die Wärme von den Dingen. Sie hatten Milch, aber Schüsseln gab es nicht, und so schütteten sie die Milch auf die Erde. Das ist der Moment, wo der Schriftsteller es wagt, von seinem Land zu sagen, es sei furchtbar.
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Beim Lesen von Schklowski kommt es mir bisweilen so vor, als beschriebe er seine Träume, keineswegs den Wachzustand. Das kommt ihm vielleicht selbst so vor. Ein Mensch schläft und hört es an der Haustür läuten. Er weiß, daß er aufstehen sollte, aber er will nicht. Also erfindet er einen Traum und fügt das Läuten in ihn ein, indem er es anders motiviert – er kann zum Beispiel von einer Frühmesse träumen. Rußland hat die Bolschewiki erfunden wie einen Traum, als Motivierung für Flucht und Plünderung; die Bolschewiki selbst können nichts dafür, daß sie im Traum erschienen sind ... Sie tauchten ab in den „Bolschewismus“, wie ein Mensch sich vor dem Leben in irgendeine Psychose flüchtet. Offensichtlich denkt der Autor hier an die Flucht vor der Wirklichkeit, an die Unterschlagung der Realität. Denn ohne diese Absicht wäre nicht geschehen, was geschehen ist, immer am Rand der Traumgesichte. Ich bin kein Sozialist, ich bin Freudianer. Aber das bin ich auch. Und so versuche ich festzustellen, was mit Rußland im Jahr 1917 und danach geschehen ist. Weswegen ich es auf die Couch lege, ähnlich der in der Berggasse 19. Das ist nicht unbedingt leicht. Nicht umsonst sperrte sich auch die rigide sowjetische Psychiatrie lange gegen die Lehre Sigmund Freuds. So sperrt sich auch Rußland gegen meine Analyse und schlägt aus wie ein gezügeltes Pferdchen. Viele Länder ähneln manchmal irgendwelchen Tierchen, das ist auf dieser oder jener Karikatur zu sehen. Wo ein Staat als Katze, ein anderer als Affe, ein dritter als Esel dargestellt wird. Jedenfalls liegt Rußland auf meiner Ottomane, ohne mich anzuschauen, aber ich, unterwiesen vom alten Professor, schaue ihm aufs Haupt. So erfahre ich vieles, weil man nur aufmerksam zuhören muß, was der Patient sagt. So ist auch Schklowski vorgegangen, der große Autor des russischen Formalismus, aber nebenbei auch Analytiker einer gewaltigen Erscheinung, einer nur sehr verworrenen, Rußlands. Die plötzlich vieles im eigenen Geist umgekrempelt hat, ebenso wie im Leben, dem Alltagsleben. Der Theoretiker der neuen Literatur erkannte ein wichtiges Merkmal des Bolschewismus, seine Buchstäblichkeit. In Petersburg hingen während der NÖP viele Schilder in den Schaufenstern. Es sind zum Beispiel Äpfel ausgestellt, und auf einem Schild darüber steht „Äpfel“, über dem Zucker steht „Zucker“. Sie wollten alles organisieren, die Sonne sollte nach Plan aufgehen und das Wetter sollte in einem Amtszimmer gemacht werden. Die Anarchie des Lebens, seine unbewußten Seiten ... – all das war ihnen fremd. Die Projektion der Welt auf ein Stück Papier war kein zufälliger Fehler der Bolschewiki. (Er war unvermeidlich.) Die Stadt war nicht auf die neuen Lebensformen eingerichtet. Erst heizte man die alten Öfen mit Möbeln, dann heizte man sie gar nicht mehr. Alle zogen in die Küchen um. Die Dinge wurden in zwei Kategorien eingeteilt: brennbare und nicht brennbare. In der Zeit zwischen 1920 und 1922 hatte sich der neue Typ von Behausung bereits herausgebildet. Diese Behausung besteht aus einem kleinen Zimmer, in dem ein Kanonenofen ... mit eisernem Rohr steht. Auf dem Kanonenofen wird gekocht. Man schlief im Mantel und deckte sich mit Teppichen zu. So gut wie niemand zog zu Hause den Mantel aus, damit sie wärmer hielten, band man die Mäntel mit einer Schnur zusammen.
Doch was ist im Jahr 1917 in Rußland genau geschehen? Der einzige Wegweiser sind meine Kindheitserinnerungen aus der Zeit um 1944, kurz nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und der Durchfahrt der russischen Panzer durch unsere Stadt. Waren wir dazu verurteilt, eine ganze Geschichte, eine fremde, zu wiederholen, anstatt die eigene zu machen? Als wir uns genauso in einem kleinen Mädchenzimmer zusammendrängten, weil wir dem Dienstmädchen vorher gekündigt hatten. Und unsere Hände ebenfalls an einem kleinen Ofen wärmten, während ein Verwandter, ein Partisanenoffizier, sagte, daß wir, wenn wir Glück hätten, eine russische Republik werden würden. Erst danach gelang es uns, uns auf den Rest der Wohnung auszudehnen und die Fenster zu anderen Teilen der Welt zu öffnen. Und wenn du denkst, dieser Schriftsteller dokumentiere getreu die Ereignisse, an denen er mitwirkte, gleicht alles plötzlich der transmentalen Prosa von Charms ... denn die Matrosen, die mich begleiten sollten, hatten sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut – die meisten waren nach Jamburg verschwunden, des Schweinefleischs wegen. Einige hatten auch Typhus. Wenn wir Rußland richtig kennenlernen würden, würden wir auch das Leben der anderen, der Nichtrussen, verstehen. Aber das erwies sich als unmöglich. Schon Serbien ist ein großes Geheimnis, sagte unsere Dichterin, aber erst das große Rußland?! Selbst lange nach der Revolution konnte Viktor Borissowitsch, durch Finnland wandelnd, nicht vergessen, daß er noch immer ein Russe war, der sich erinnerte, wie Russen mit Russen und mit den anderen umgegangen waren. Und hier brachten sie einander um im Bürgerkrieg. Alle kämpften. Während des Kampfes erschlugen die Ehemänner ihre Frauen, die Liebhaber die Ehemänner. Hatte man sie umgebracht, legte man sie auf den Hof der Schußlinie entlang so, wie die Kugeln flogen. Die Weißen erschlugen die Roten und rissen ihnen die Zunge aus dem Hals. Die Roten töteten bloß.
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Im Jahre neunzehnhundertsechsunddreißig ermordete Ivan Ponomarjov, Kapellmeister, in nervlicher Zerrüttung vier Mitglieder seiner Kapelle, und dann erhängte er sich. Im selben Jahr konstruierte Jaša Sevicki, ein arbeitsloser Ingenieur, einen Ofen, der mit unnützen, unnötigen Dingen beziehungsweise Scheiße geheizt wurde. Der russische Kosakengeneral Pavličenko floh völlig besiegt vor den Sowjets zu uns, auf einem Pferd, und hielt einen Vortrag über all das, das Pferd verreckte hinterher. Die russische Sprache war unserer schon immer ähnlich, nur hatte sie irgendwelche Fortsätze. Die Russen sprachen wie jeder von uns, nur betrunken. Die Mama von Lonja Bondarenko brachte damals meinem Onkel bei, wie man den alten russischen Buchstaben „jer“ schreibt, mit Häkchen. Sie gestand ihm: „Jetzt gibt es den nicht mehr!“ Papa behauptete: „Ich hab’ gehört, jeder Russe säuft sich an wie ein Schwein, und danach weint er wie ein Kind!“ Mama sagte: „Sie werden wohl einen Grund haben!“ Opa sagte: „Alle wollen sie das eine wie das andere, und darüber vergeht ihr Leben!“ Auch mir fiel auf, daß die Russen irgend etwas machten und danach bereuten, daß sie es getan hatten.
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