LI 115, Winter 2016
Verlorene Illusionen
Kurzer Lehrgang über zerbrochenen Optimismus und hamletsche ReifeElementardaten
Übersetzung: Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Grießhaber
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Textauszug
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ZUFALL ODER nicht, aber unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Welle des Optimismus uns schon gut bespritzt hatte, vermehrten sie die Illusionisten in der Öffentlichkeit, auf den Märkten, den Straßen. Um diese Meister der Täuschung, die es auch schon früher gegeben hatte, schien es eine Zeitlang ruhig geworden zu sein, doch nun, da die allgemeinen Volksveranstaltungen zu einer alltäglichen Erscheinung wurden, hielten die Künstler im Herbeizaubern von Hasen aus Hüten ihre Zeit wieder für gekommen. So wurden in zwei Hälften gesägte Mädchen durch ihr Können wieder ganz, und aus einem winzigen Glasgefäß sprang kraft dieser Kunst ein riesiges weißes Pferd. Alles war eigentlich wie früher, nur daß das zersägte Mädchen in seiner heilen Variante in die Staatsflagge gehüllt war, und der Hase, der aus dem Hut sprang, hatte ebenfalls den roten fünfzackigen Stern auf dem Rücken. Das bewies, daß der Illusionismus als positiver Impuls und als von der Volksführung akzeptierte Praxis verstanden wurde, wahrscheinlich unter dem Einfluß Rußlands; dort war der Zirkus auch in der Zeit des gröbsten Stalinschen Terrors eine allgemeine Volksbelustigung, etwas verbreiteter als das Theater und das Kino. Fast könnte man sagen, es habe eine einträchtige Kooperation zwischen den Straßengauklern und den Genossen aus der Agitpropabteilung der Partei gegeben, die Illusion wurde zur geistigen Nahrung des Proletariats, das an eine blühende Zukunft glaubte. Was in den Enzyklopädien zu Illusion steht, Beurteilung der Wirklichkeit aufgrund einer fehlerhaften Integration von realen Daten, bedeutete für unsere Propagandisten keinerlei Fehler, Fehler sind im totalitären Denken eine Sache der Notwendigkeit und des Imperativs.
DIES SCHLOSS jeden Zweifel aus, wir werden das neue Leben schaffen oder es wird uns nicht geben! Einige Menschen unter uns gab es allerdings schon nicht mehr. Ich hatte die verschiedensten Verwandten, nicht jeder von ihnen kam ins Haus und nahm den Revolver aus dem Gurt, einer verschwand aus unbekannten Gründen in einem geheimnisvollen Lager auf einer öden Adriainsel, so wie ein Medium, eingesperrt in den Kasten eines Zauberers, auf die Berührung seines Stabes verschwindet, als hätte es nie existiert.
ES WAR nicht leicht, die Illusionen zu zerstören, die die Straßenmagier und die kommunistischen Agitatoren gemeinsam schufen, in ihnen steckte wie gewöhnlich viel Bildliches, für das Auge Attraktives. Nicht wenig Zeit verwendete ich darauf herauszufinden, weshalb den Leuten, nach all den realen Qualen, so viel am Einfluß des Theaters auf unser Leben lag, unsere Veranstaltungen waren einer der wichtigsten Inhalte dieser Hungerjahre, entscheidend in der Straße meines Heranwachsens war, wie wir unsere Klaviere reparieren würden. Für den neuen Menschen der Tito-Epoche wurden die Illusionen als Art und Stil der Existenz bestimmt, ihr Verlust kam nicht in Betracht.
OB DIESE Candidesche Sicht auf die beste aller Welten den Betrachtern das Leben auch annehmlich machte, blieb unklar. Weil man bei der ganzen Zauberei pausenlos von besseren Verhältnissen und von blühenden Perspektiven sprach, während alles im Dreck des spröden Kommunismus steckenblieb, des rumänischen, albanischen und gewissermaßen auch jugoslawischen. Aber steht dem Menschen als unerklärlichem kosmischem Phänomen irgendeine Annehmlichkeit zu, oder ist das eine zweifelhafte Erfindung ebendieser unklaren Wesen? So vieles wurde auf den illusionistischen Optimismus verschwendet, mit dem man den Weg des Menschen in die Hölle hätte erleichtern sollen, doch dies hat, meine ich, lediglich die Bitterkeit des menschlichen Schicksals vergrößert. Erst in der russischen Seele und in der grandiosen Dichtung dieses Landes, im 19. Jahrhundert, dem vielleicht analytischsten, entschied man schließlich: Der Mensch braucht überhaupt nicht glücklich zu sein, wo steht denn, daß er das muß!?
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