LI 99, Winter 2012
Der Islamismus lebt auf
Die Umbrüche im arabischen Raum haben mit Revolution wenig zu tunElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Englischen von Bernhard Schmid
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Textauszug
Finsternis senkt sich über die arabische Welt. Verschwendung, Tod und Zerstörung begleiten einen Kampf um ein besseres Leben. Außenseiter konkurrieren um Einfluß, alte Rechnungen werden beglichen. Der Schleier des Vergessens legt sich über die friedlichen Massenproteste und die hehren Werte dahinter, mit denen das alles begann. Wahlen sind großartige Anlässe, bei denen politische Visionen eine nachgeordnete Rolle spielen. Das einzige konsequente Programm ist religiöser Art und an der Vergangenheit orientiert. Es ist ein Gerangel um die Macht entbrannt, ohne klare Regeln und Werte, ohne absehbares Ende; weder die Ablösung eines Regimes noch dessen Überleben werden einen Schlußstrich darunter ziehen. Die Geschichte bewegt sich nicht vorwärts; sie rutscht seitwärts weg.
Es kommt zu Spielen innerhalb von Spielen: Aufstände gegen Autokraten, der konfessionelle Zusammenstoß von Sunniten und Schiiten, regionales Machtgerangel, ein kalter Krieg unter neuen Vorzeichen. Nationen zerbrechen, Minderheiten erwachen, wittern eine Chance, sich restriktiver staatlicher Fesseln zu entledigen. Das Bild ist verschwommen. Es sind dies flüchtige Fragmente eines Landstrichs, der erst noch zu sich selbst finden muß; nur einzelne Bruchstücke geben Hinweise auf ein endgültiges Ziel. Wir müssen damit rechnen, daß wir Veränderungen, die wir im Augenblick für wesentlich halten, künftig als bloße Anekdoten einer längeren Reise abtun.
Neue oder mit neuem Leben erfüllte Akteure treten auf den Plan: Die nur unzureichend definierte „arabische Straße“, rasch mobilisiert, nicht weniger rasch wieder aufgelöst; die jungen Demonstranten – mit anderen Worten: die zentralen Aktivisten während des Aufstands – sind auf der Strecke geblieben. Die Muslimbrüder, noch gestern vom Westen als gefährliche Extremisten verworfen, sehen sich heute als vernünftige, nüchterne Pragmatiker gefeiert und allenthalben begrüßt. Die eher traditionellen Salafisten, ehedem allergisch gegen jede Politik, können es heute kaum erwarten, sich den Wählern zu stellen. Darüber hinaus finden sich undurchsichtige bewaffnete Gruppierungen und Milizen von zweifelhafter Loyalität und Provenienz ebenso wie Kriminelle, Straßenräuber, Kidnapper und Gangs.
(…)
Inmitten von Chaos und Ungewißheit haben allein die Islamisten eine vertraute, authentische Vision für die Zukunft zu bieten. Sie mögen ins Schwanken geraten oder gar scheitern – aber wer wird übernehmen? Liberale Kräfte haben keine Tradition und wenig Rückhalt bei der Öffentlichkeit; mit der organisatorischen Aufgabe wären sie überfordert. Die Reste des alten Regimes haben zwar Erfahrung mit Macht, scheinen aber ausgelaugt und erschöpft. Falls die Instabilität sich ausbreitet, falls die wirtschaftliche Not zunehmen sollte, könnten sie von einer Welle der Nostalgie profitieren. Da sie jedoch nur ein Argument haben, wonach früher alles weniger schlimm war als heute, haben sie kaum eine Chance.
Sollten die Muslimbrüder die nationalistischen Gefühle der Bürger nicht ernst genug nehmen, ihre Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit ignorieren oder an der Regierung scheitern, es könnte sich eine Lücke auftun. Dann könnte das nationalistischere progressive Weltbild doch noch ein Comeback erfahren.
Ein Video macht die Runde: Nasser erzählt darin der Menge von seiner Begegnung mit dem damaligen Oberhaupt der Muslimbrüder, das ihn bittet, die Frauen zum Tragen des Schleiers zu bringen. Der ägyptische Führer entgegnet: „Trägt Ihre Tochter einen Schleier?“ – „Nein.“ – „Wenn Sie ihre Tochter nicht im Griff haben, wie erwarten Sie dann von mir, Millionen ägyptischer Frauen zu sagen, was sie tun sollen?“ Er lacht, und die Menge lacht mit ihm. Das war Anfang der fünfziger Jahre, vor über einem halben Jahrhundert also. Heute spürt man eine Sehnsucht nach dieser Art von Bravour, nach dieser Art von Humor. Die Geschichte bewegt sich nicht nach vorn.
War das letzte Jahrhundert ein Irrtum für die arabische Welt, eine Abweichung vom vorgegebenen islamischen Weg? Ist das augenblickliche Wiederaufleben des Islamismus eine Anomalie, ein vorübergehender Rückfall in eine längst überholte Vergangenheit? Welches ist der Umweg, welches ist der natürliche Weg?