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Cover Lettre International 136
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LI 136, Frühjahr 2022

Aljoscha

Eine Erzählung

Von Donezk bis Moskau quälte sich Aljoscha mit dem Bus durch. An den Checkpoints ließen ihn die Freiheitskämpfer, zu denen er gestern noch selbst gehörte, aussteigen, filzten ihn bis auf die Unterwäsche, kippten den Inhalt seines Rucksacks aus auf der Suche nach Waffen, nahmen ihm das ganze Geld ab. „Alles Gaunerpack“, flüsterte Aljoschas Weggefährtin, die sein Päckchen bei sich versteckte, nicht ahnend, daß sich darin außer Geld und persönlichen Sachen eine in einen Lappen eingewickelte Eierhandgranate befand. Von Moskau bis zur Kola-Halbinsel fuhr Aljoscha mit dem Zug, ganze dreißig Stunden auf der oberen Pritsche schlafend, während hinterm Fenster halbleere Dörfer vorüberhuschten, schief wie mit Gicht geschlagene alte Weiber. „Wo bist du denn gewesen?“ fragte ihn der Fahrer, der ihn in Murmansk mitgenommen hatte bis zum „Kreuz“, weil es auf dem Weg lag, aber Aljoscha, heimlich mit dem Finger über die Ummantelung der Handgranate fahrend, winkte bloß ab: „Drüben …“ Und der Fahrer wußte sofort, wo dieses „Drüben“ lag.

(…)

Aljoscha preßte das Gesicht erst an das eine Fenster, dann ans andere, versuchte, jemanden von der Verwandtschaft auszumachen, klopfte erst leise, dann lauter. Als erste wurde Mutter wach und schrie auf, als sie eine an der Fensterscheibe plattgedrückte Nase erblickte, doch dann, als sie ihn erkannte, rief sie: „Aljoscha ist zurück!“ Bereits eine Minute darauf rumorte, schrie und klapperte es im Haus, und Mutter sperrte die Tür auf und warf sich ihm um den Hals.

Aljoscha stieß sie ganz leicht von sich:
– „Was ist denn, Mama? Laß das.“

Mutter machte rasch was zu essen, schnitt dicke Scheiben Brot und gesalzene Seeforelle auf, warf den Fischschwanz dem Hofkater hin, und Vater brachte eine Flasche.

– „Ich trink’ nicht, Vater“, sagte Aljoscha, als dieser ihm ein Glas Wodka hingeschoben hatte.

Vater leerte sein Glas, dann Aljoschas, hauchte geräuschvoll aus, steckte sich ein Stück Fisch in den Mund und leckte sich die Finger ab. Er wollte den Sohn nur kurz umarmen, doch Aljoscha zuckte zusammen und griff dorthin, wo er früher seine Waffe trug.

– „He, sachte, sachte, bleib ruhig, was ist los mit dir?“ Vater hob die Hände hoch.
– „Verzeih, Vater, bin noch nicht soweit.“

Der Reiserucksack lag gleich daneben, so als sei Aljoscha nur für fünf Minuten vorbeigekommen und würde sich nach dem kurzen Imbiß erneut auf den Weg machen. In seiner Hosentasche hielt er die vom Schweiß an seiner Handfläche nasse und glitschige Granate in der Hand. Manchmal, wenn keiner hinsah, holte er sie unter dem Tisch heraus, legte sie aus der einen Hand in die andere und schmunzelte.

Zur Hochzeit sind die Nachbarn und die Mitschüler, die noch in der Siedlung geblieben waren, gekommen und haben hausgemachte Salate, Salzkartoffeln, Fisch und Kuchen in tiefen Schüsseln mitgebracht. Man trug die Tische auf den Hof hinaus, rückte sie aneinander und stellte Stühle und Hocker drum herum auf. Ljalja stand abseits im langen geliehenen Brautkleid und hielt verlegen die Hand vor das tiefe Dekolleté.

– „Trink mit uns, Aljoscha“, schrien die Gäste.
– „Ich trink’ nicht.“
– „Er trinkt nicht. Soll er doch“, winkte Vater ab. „Trinken wir ohne ihn.“

Aljoscha war in der Siedlung sehr beliebt, immerzu scherzte und lachte er, nie war es langweilig mit ihm, jetzt aber lächelte er kaum noch und schwieg die ganze Zeit.

– „Ljoscha, erzähl mal was Lustiges“, wurde er gebeten. „Das kannst du doch, mach mal. Damit wir was zum Lachen haben.“
– „Einem Kameraden von mir wurden die Finger abgeschossen“, fing Aljoscha an. „Da haben wir sie ins Eis gesteckt und nach Donezk gebracht. Der Arzt hat sie ihm dann angenäht.“
– „Du spinnst!“ rief man ungläubig.
– „Der aber war besoffen und hat sie durcheinandergebracht. Aber es ging auch, sind angewachsen. War aber etwas unbequem, zum Schießen mußte er nun anstelle des Zeigefingers den Kleinen nehmen.“

Die Gäste grölten, Aljoscha aber starrte sie eine Zeitlang unverwandt an, ohne den Schatten eines Schmunzelns, bis er es nicht mehr aushielt und eine Art Lächeln aus sich herausquetschte.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.