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LI 148, Frühjahr 2025

Foreign Affairs

Himmelsreisen, Wortspiele, Orakelsprüche, Lesungen im Nachtasyl

(…)

LEKKI BEACH II

Ich weiß, daß die europäische Idee von Freizeit vielen Afrikanern unheimlich, obszön und gespenstisch erscheint.

Aber immerhin ist es ja Samuels Vorschlag gewesen.

Jetzt sitzt er auf einem viel zu kleinen Badetuch wie auf glühenden Kohlen.

Die Kinder spielen in unserer Nähe.

Es ist gefährlich, sagt Samuel, und hüllt sich in düsteres Schweigen.

Gefährlich wo?

Hier, sagt Samuel, und ich sehe, noch während er spricht, wie eins der Kinder ein Kondom aus dem Sand fischt und gerade anfangen will, es aufzublasen.

Ein benutztes Kondom!

Ich laufe los, und es gelingt mir im letzten Moment, dem Kind den vermeintlichen Luftballon aus der Hand zu reißen.

Siehst du die Kerzen, fragt Samuel, und ich sehe, daß tatsächlich überall Kerzen liegen, sie sind sandfarben, und manche sind halb, manche kaum abgebrannt, die meisten sind mit Fäden umwickelt.

Sie treffen sich hier Nacht für Nacht und machen ihre teuflischen Rituale.

Dein co-director ist auch dabei, sagt Samuel und springt auf, um seiner Tochter eine Kerze wegzunehmen.

Siehst du die da mit dem schwarzen Faden?

Wer sie anfaßt, stirbt.

Sie beten über ihnen und schicken sie aufs Meer.

In Orangenschalen.

Glaubst du daran?

Es haften Flüche an ihnen.

Bad spells.

Wieder haben die Kinder ein Kondom gefunden, und ich springe auf.

Samuel läßt das seltsam kalt.

Das mit den Kondomen scheint ihn nicht zu kümmern.

Diese Leute.

Manche machen schwarze Magie und nennen sich Zauberer.

Oder sie nennen sich Heiler.

Die Krankheit wird um die Kerze gewickelt.

Oder ein Wunsch.

Oder der Tod.

Und dann schicken sie das ihren Feinden.

Samuel ist Fahrer und kommt, wie fast alle Fahrer, Wächter und Hausangestellten, aus Ghana.

Das ist hier üblich, eine Vorsichtsmaßnahme, um zu verhindern, daß einheimische Ganoven und Banden oder eifersüchtige, kriminelle Familienangehörige in den Besitz von Schlüsseln gelangen.

Außerdem genießen Ghanaer den Ruf, ehrliche Christen zu sein.

Ich mag Samuel sehr.

Er ist ein guter Fahrer.

Um das tägliche Chaos aus Blech, Rost, Staub, Stau, Rauch, Gehupe und Feuer zu durchdringen, braucht es neben Gottvertrauen, Mut, Entschlossenheit, Schnelligkeit und Mitgefühl auch alle anderen Sekundärtugenden.

Samuel hat alle 17, und er ist ein Fremder unter Fremden, genau wie ich.

Glaub mir.

Hier passieren schreckliche Dinge, sagt er.

Ich bin überrascht, schaue ihm ungläubig ins Gesicht, aber Samuel fährt unbeirrt fort: Vor drei Monaten ist eine ganze Schulklasse verschwunden.

Es war ein Ausflug.

Die Kinder gingen in Zweierreihen am Wasser entlang.

Hand in Hand,

Ganz friedlich.

Vorne ging die Lehrerin.

Plötzlich tauchte ein Mann auf aus dem Nichts.

Er zog Dollarnoten aus der Tasche und warf sie vor den Kindern in den Sand, und die Kinder bückten sich natürlich nach den Scheinen.

Die Lehrerin hat noch versucht, sie zu warnen, aber es war schon zu spät.

Kaum hatte ein Kind einen Schein berührt, ist es ein Hund geworden.

Innerhalb weniger Sekunden hat sich die ganze Schulklasse verwandelt.

In ein Hunderudel?

Ja.

Und dann?

Dann haben sie sich in alle Winde verstreut.

Und jetzt?

Ein paar streunen immer noch hier herum.

Es hat in allen Zeitungen gestanden.

Man hat versucht, sie zurückzuholen.

Aber keine Chance.

Samuel springt wieder auf und reißt den Kindern eine Kerze aus der Hand.

Hinter mir im Gebüsch kauern ein paar räudige, abgemagerte Hunde und starren mich aus roten Augen an.

Der Himmel ist graublau und wolkenlos, irgendwie dräuend.

Ich nehme die Kinder und wir gehen runter zum Meer.

Wir waten in der Brandung und bücken uns nach Muscheln und Steinen.

Das Wasser ist angenehm kühl.

Ich entspanne mich, strecke mich und schaue in die Weite, suche nach dem Horizont, sehe aber nur eine graue Wand, und ich staune und denke, wie war es wohl möglich, diese Mauer mitten ins Meer zu bauen und wozu, bis ich begreife.

Ich packe die Kinder, nehme sie unter die Arme, eins rechts und eins links und laufe los.

Meine Füße versinken im Sand.

Samuel kommt mir auf halber Strecke entgegen und wir rennen mit der Welle um die Wette.

Die Welle kommt gleichzeitig mit uns an, ist gleichzeitig da und hat sogar hier oben noch Kraft genug, unsere Taschen und Handtücher ins Gebüsch zu schleudern, zusammen mit ihrer Gischt.

(…)

Samuel hatte den Peugeot-Bus am Straßenrand geparkt und mich gebeten, im Auto zu warten, er wolle Reifen kaufen und sei gleich wieder da.

I’ll be back in a second, hatte Samuel gesagt, und ich wußte, daß es länger dauern würde, sicher 15 Minuten oder mehr, aber es störte mich nicht, im Gegenteil, so hatte ich Gelegenheit, einen Teil von Lagos kennenzulernen, den ich sonst nie zu Gesicht bekommen hätte, und von meinem leicht erhöhten Sitzplatz aus bot sich mir ein interessantes Bild.

Die Straße war voller Autoreifen.

Sie türmten sich an den Straßenrändern rechts und links zu hohen Bergen auf, so hoch, daß sie sogar die Häuser verdeckten.

Ihr Schwarz tauchte die ganze Gegend in ein düsteres Licht, und mir fiel ein, daß ich einmal auf einem Hinterhof gewohnt hatte, wo es einen florierenden Handel mit gebrauchten Autoreifen gab. Die Kundschaft bestand hauptsächlich aus Westafrikanern, und dort war es auch, wo mir das Wort „Shakara“ zum ersten Mal zu denken gab.

Jemand hatte es dort in die Nacht gerufen, immer und immer wieder, und je öfter diese Stimme Na shakara! (das ist Shakara!) gerufen hatte, desto rätselhafter war mir die Bedeutung des Wortes geworden.

Jetzt war ich also im Herz der Finsternis oder auch im Zentrum des Handels mit abgefahrenen europäischen Reifen gelandet. Total abgefahrenen Reifen, dachte ich gerade, da war plötzlich Lärm in der Luft.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 149 erscheint Mitte Juni 2025.