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Cover Lettre International 93, Jan Fabre
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Inhaltsverzeichnis

LI 93, Sommer 2011

Brasiliens Emanzipation

Lulas Politik - Fortschritt ohne Konflikt, Verteilung ohne Umverteilung

Einem bekannten englischen Diktum zufolge – das von Stoizismus zeugt, aber auch voller Selbstrechtfertigung steckt – endet jedes politische Leben mit einem Scheitern. Das trifft nicht immer zu. Was das Nachkriegseuropa angeht, so genügt es, an Adenauer zu denken oder an De Gasperi; ein noch eindrucksvolleres Beispiel wäre vielleicht Franco. Doch kommt es unter demokratischen Bedingungen selten vor, daß jemand am Ende einer langen Amtszeit beliebter ist als am Anfang. Noch seltener ist es, daß diese Beliebtheit nicht das Resultat einer fortschreitenden Mäßigung des Politikers ist, sondern das seiner zunehmenden Radikalisierung. Es gibt heute nur einen Staatsmann auf der Welt, der diese Leistung für sich in Anspruch nehmen kann: jenen ehemaligen Arbeiter, der im Januar 2011 als Präsident Brasiliens abdankte und sich am Ende seiner Tätigkeit der Zustimmung von achtzig Prozent seiner Landsleute erfreuen konnte. Luiz Inácio da Silva ist, welchen Maßstab man auch anlegen mag, der erfolgreichste Politiker seiner Zeit. Dieser Erfolg verdankt vieles einer außergewöhnlichen Begabung, einer Mischung aus sozial sensibler Wärme und kühlem politischen Kalkül – oder, wie seine Nachfolgerin Dilma Rousseff es formulierte, rationaler Einschätzung und emotionaler Intelligenz (von aufgeräumtem Humor und persönlichem Charme nicht zu reden). Doch hing das Gelingen anfangs auch untrennbar mit einer bedeutenden sozialen Bewegung zusammen. Lulas Aufstieg vom Fabrikarbeiter zum Führer seines Landes war niemals nur ein individueller Triumph: Ermöglicht wurde er durch den beachtlichsten Aufschwung einer Gewerkschaftsbewegung, die das letzte Jahrhundertdrittel erlebt hat, einen Aufschwung, bei dem Brasiliens erste – und immer noch einzige – moderne Partei entstand; diese wurde zum Vehikel von Lulas Aufstieg. Erfolgreich war die Kombination einer charismatischen Persönlichkeit mit einer national flächendeckenden Massenorganisation.

Es war keineswegs ausgemacht, daß sich dieser Erfolg Lulas einstellen würde. Nachdem er 2002 gewählt worden war, begann seine Amtszeit sehr ungünstig und führte bald an den Rand einer Katastrophe. Das erste Jahr, überschattet vom wirtschaftlichen Erbe des Vorgängers, machte buchstäblich alle Hoffnungen zunichte, auf die sich die Arbeiterpartei
gründete. Unter Fernando Henrique Cardoso hatte sich die Verschuldung des Staates – fast zur Hälfte in Dollars – verdoppelt, das laufende Budgetdefizit war zweimal so hoch wie im lateinamerikanischen Durchschnitt, die Zinsen lagen über zwanzig Prozent, und der Real, die nationale Währung, hatte noch während des Wahlkampfs seinen halben Wert verloren. Argentinien hatte soeben den größten Staatsbankrott der Geschichte erklärt, und die internationalen Finanzmärkte sahen Brasilien am Rande desselben Abgrunds stehen. Um das Vertrauen der Investoren zurückzugewinnen, setzte Lula in der Zentralbank und im Finanzministerium eine unerschütterlich orthodoxe Mannschaft ein, welche die Zinssätze noch erhöhte und die öffentlichen Ausgaben zusammenstrich, um auf diese Weise Mehreinnahmen zu erzielen, die sogar noch über der vom IWF geforderten Marke lagen. Für die Bürger stiegen die Preise und die Arbeitslosigkeit, während die Wachstumsrate sich halbierte. Doch was für die Parteiaktivisten eine bittere Medizin war, war Nektar für die Aktionäre: Das Gespenst des Staatsbankrotts war verscheucht. Das Wachstum stieg erneut im Jahre 2004, als die Exporte sich erholten. Selbst unter diesen Umständen jedoch wuchs die Staatsverschuldung, und wieder wurden die Zinsen angehoben. Anhänger des vorhergegangenen Regimes, die unter Lulas scharfer Kritik an Cardoso zu leiden gehabt hatten, wiesen triumphierend auf diese Kontinuität zwischen beiden Regierungen hin. Der Partido dos Trabalhadores hatte wenig Anlaß, sich seiner Erfolge zu rühmen.

Dies war deprimierend genug, doch sollte es noch schlimmer kommen. Im Frühjahr 2005 geriet der Führer einer der kleineren Parteien im Parlament (von denen es mehr als ein Dutzend gab) unter Druck, weil einer seiner Leute beim Entgegennehmen einer Bestechungssumme gefilmt worden war. Er schlug zurück mit der Enthüllung, die Regierung habe systematisch Abgeordnetenstimmen gekauft (für jeweils 7 000 Dollar), um Mehrheiten im Parlament zu sichern. Verantwortlich für diese Operation war Lulas Kabinettschef José Dirceu, der das Geld diversen illegalen Fonds entnahm, welche der PT kontrollierte und über seinen Schatzmeister Delúbio Soares verteilte. Wenige Wochen nach diesem Donnerschlag wurde der Bruder des Parteivorsitzenden José Genoino beim Einsteigen ins Flugzeug verhaftet, 200 000 Real im Koffer und 100 000 Dollar in der Unterhose. Einen Monat später gestand der Leiter von Lulas Wahlkampfbüro Duda Mendonça (eine prominent zwielichtige Figur der Public-Relations-Branche), die Kampagne sei den Gesetzen zuwider durch geheime Mittel finanziert worden, die man interessierten Banken und Unternehmen abgepreßt habe, und er selbst sei für seine guten Dienste mit illegalen Zahlungen auf ein Konto auf den Bahamas belohnt worden. Als nächster geriet einer der engsten politischen Vertrauten Lulas in die Schußlinie, der ehemalige Gewerkschaftsführer Luiz Gushiken, der als Kommunikationsminister zurücktreten mußte, weil er Mittel der Rentenkasse zur Finanzierung politischer Operationen umgeleitet hatte. In noch schwärzerem Dunkel lag der unaufgeklärte Mord zu Beginn des Jahres 2002, dem Celso Daniel zum Opfer fiel, der Bürgermeister der PT-Hochburg Santo André; man glaubte allgemein, es sei dies ein Auftragsmord gewesen, der mit den von lokalen Busunternehmern erpreßten Geldern zusammenhing.

Mehrheitsbeschaffung
Diese Aufdeckung eines verzweigten Hinterlandes der Korruption, das hinter Lulas Eroberung der Macht auftauchte, wirkte auf einen weiten Teil der Parteibasis als schockhafte Enttäuschung, konnte jedoch auch – worauf loyale Parteifunktionäre sogleich hinwiesen – in historischer Perspektive gesehen werden: Die illegale Finanzierung von Wahlkämpfen durch verborgene Spendengeber, die sich ihrerseits einen politischen Gefallen erwarteten, war in der brasilianischen Politik weit verbreitet. Der Präsident der wichtigsten Oppositionspartei (Cardosos Sozialdemokraten, der PSDB) wurde bei demselben Delikt ertappt und mußte zurücktreten. Ein Stimmenkauf im Parlament war nichts Neues. Es war wohlbekannt, daß Cardoso Abgeordnete der Provinz Amazonas geschmiert hatte, um jene Verfassungsänderung durchzusetzen, die es ihm gestattete, sich um eine zweite Amtszeit zu bewerben. Das brasilianische Parlament war schon lange ein Sumpf der Bestechlichkeit und des Opportunismus gewesen. Am Ende von Lulas erster Amtszeit hatten zwischen einem Drittel und zwei Fünfteln der Abgeordneten des Parlaments die Partei gewechselt; am Ende der zweiten standen mehr als ein Viertel des Parlaments und des Senats unter Anklage, oder es war Anzeige gegen sie erhoben worden. Im Dezember erhöhten die Abgeordneten ihre eigenen Bezüge um 62 Prozent. 2002 war Lula mit 61 Prozent der Stimmen gewählt worden, doch der PT hatte weniger als ein Fünftel der Sitze im Parlament erobert, wonach nun Verbündete gefunden werden mußten, damit die Regierung bei der Gesetzgebung über eine Mehrheit verfügte. Dirceu hatte eine Übereinkunft mit der größten Partei der Mitte, dem PMDB, gesucht, doch das hätte bedeutet, daß man dieser wichtige Ministerien hätte überlassen müssen. Lula zog es vor, einen Flickenteppich aus kleinen Parteien zusammenzustoppeln, deren Verhandlungspositionen schwächer waren. Doch erwarteten auch diese naturgemäß ihren Anteil an der Kriegsbeute, wenn auch einen geringeren, und so richtete man eben den mensalão ein, das monatliche Schmiergeld.

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