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Bericht eines Mädchens

„Heute atme ich meinen tiefsitzenden Zorn mit dem Eisen aus.“

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Die modernistische Underground-Energie Charkiws gefiel mir ungemein, die Stadt befand sich in unaufhörlicher Bewegung, sie experimentierte, ging in die Irre und verzieh. Schon als Kind war ich mutig und sensibel, neugierig und stur zugleich. Bei den Jungs schätzte man diese Eigenschaft im allgemeinen, von Mädchen meines Schlages hieß es, „sie hat einen schwierigen Charakter“. Viele Jahre habe ich wirklich geglaubt, ich hätte diesen geheimnisvollen „schwierigen Charakter“. Erst der Krieg ließ mich verstehen, daß es nicht um den schwierigen Charakter geht, sondern darum, daß man überhaupt einen hat. So wie alle in unserer Generation habe ich von meiner Urgroßmutter ein generationsübergreifendes Gewalttrauma geerbt, das von dem pathologisch verdrehten Begriff der „Tradition“ verhüllt wurde. Von der Großmutter haben meine Mutter und ich das generationsübergreifende Trauma des Krieges, der Kollektivierung und der drei Holodomore mitbekommen, von denen wir nur über den zweiten sprechen. Die Generation meiner Mutter ist zu einer Generation des Vermeidens geworden, des einsamen Trauma-Durchlebens. Einer Generation des Schweigens.
     Vor einem Jahrzehnt war ich 27 Jahre alt. Damals sickerten die Werte der transfeministischen Revolution und die neue Kommunikationsethik, Emanzipation, Hoffnung auf Gerechtigkeit und Sichtbarkeit erst langsam in die Realität meiner Generation ein. Und vor einem Jahrzehnt, als ich 27 war, überfielen die Russen uns. In meinem Land begann der Krieg. Doch das ist so lange her, daß ich mich kaum noch erinnere, woran ich vor dem Krieg glaubte und welch unbequemes generationsübergreifendes Erbe ich anzutreten im Begriff war.

 

Feuerzeug

Ich weiß noch genau, wie rasant sich der Daten- und Ereigniskalender nach dem 21. November 2013 verdichtete. Man begriff sehr rasch, daß das Land, das du nicht kennst, nicht so aussieht, wie du willst, und lernte unter den extremen Umständen schnell zu unterscheiden, wer wer war. Der 30. November – ein Anstieg der Hormone im Blut, der dir den Schlaf raubte; die Züge ins Zentrum, die kalten Nächte an denselben Orten wie 2004, bei der Orangen Revolution. Dann der Februar 2014, der 18. und 19. – ein abruptes Reifen. Mit jeder Stadt und jedem Dorf, das in diesen Jahren von der Steppe ausradiert wurde, schrumpfte der Raum für die Erinnerung, der Körper aber erinnert sich. Er spürt, wie ein Phantom, das Reiben der Daumenkuppe auf dem kaputten Feuerzeug.
     Die Erinnerung an abgefrorene, verstümmelte, wettergegerbte Hände, der Geruch von Sterilverbänden, Wachs und Gaze ist fast vollständig amputiert. Nach den ersten Flecken fremden Blutes auf der Jacke, nach dem ersten (damals noch sehr oberflächlichen) Aufblitzen des Bewußtseins, daß wir Zeugen massenhafter Tode wurden, trugen die Menschen Blumen und Kerzen her, später in der Nacht – Photographien und Andenken. Das Unbewußte sträubte sich mit Händen und Füßen gegen die Verzweiflung: Sortieren, Anzünden erloschener Kerzen, Umschichten der Blumen, Errichten von Obelisken aus Pflastersteinen, Sortieren, erneutes Anzünden der erloschenen Kerzen. Es war nicht so, daß man nicht aufhören konnte, eher die Frage, wozu, was weiter und wozu überhaupt ein „Weiter“.

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Am Morgen des 20. Februar begann der Krieg. Die Streitkräfte der Russischen Föderation überquerten zum ersten Mal illegal die ukrainische Staatsgrenze auf der Krim.

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Wenn ich versuche, unsere Verluste in einem Satz zu fassen, für mich selbst zu beschreiben, was mir persönlich die Russen in diesen zehn Jahren weggenommen haben, dann ist es, glaube ich, der Raum für Zärtlichkeit. Die Zärtlichkeit selbst ist geblieben. Sie sucht sich unaufhörlich neue Erscheinungsformen, von der Wut zur Trauer, dann wieder die Zärtlichkeit und wieder die Wut, immer im Kreis. Nur Raum für sie gibt es nicht mehr. Ja, tiefer, ausgewogener Zorn ist eine Gabe der Freien, geeignet, das Schuldgefühl, den Schmerz des Verlustes und die Wut in tätige Verantwortung zu transformieren. Doch der Geruch toter Körper in Gehölzen ohne einen einzigen heil gebliebenen Baum und der Feinstaub der Betonruinen in den zerbombten Städten setzt sich allzu klebrig in die Lungen. Und Raum für Zärtlichkeit bleibt nicht. Irgendwann in meiner Jugend hatte ich wohl das Privileg, Pazifistin zu sein. Heute bemühe ich mich, das Gewicht meines AR-15-Sturmgewehrs zu tragen und das Ziel zu treffen. Das ist nicht leicht, aber ich muß es lernen.
     In jenem schwülen Sommer 2018, als die Verhöre begannen und ich noch Reste von Selbstbewußtsein und Dreistigkeit besaß, sagte ich: „Kämpft mit Soldaten, nicht mit solchen Mädchen wie mir.“ Unerträglich lange Stunden des Drucks und der Erniedrigung folgten. Ich versuchte herauszubekommen, weshalb ich überhaupt festgehalten wurde: für meine Tätigkeit als Aktivistin oder für die Unterstützung von Gefangenen. „Was wollen sie?“ fragte ich mich immer wieder. „Warum ich? Wie soll ich damit zurechtkommen? Wenn sie mich vergewaltigen, schaffe ich das nicht, das überlebe ich nicht.“ Irgendwann schlug mich einer von ihnen zu heftig, ein anderer schritt ein, fing an, mich anzufassen, und sagte: „Solche Mädchen soll man nicht schlagen, solche Mädchen muß man umerziehen. Solche Mädchen sind schlimmer als eine ganze Armee. Solche Mädchen muß man brechen.“

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Heute atme ich meinen tiefsitzenden Zorn mit dem Eisen aus, Schulter an Schulter mit anderen, wir gehen in die gleiche Richtung, um uns den geraubten Raum für die Zärtlichkeit zurückzuholen. 

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint am 6. Dezember 2024