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Lettre International 135, Jaybo Monk
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Inhaltsverzeichnis

LI 135, Winter 2021

Die neuen Puritaner

Die Algorithmen der Wut und die Verteidigung des Rechtsstaats

(…)

Soziale Isolierung
Das erste, was passiert, wenn man eines sozialen Regelverstoßes beschuldigt wird und plötzlich im Zentrum eines Sturms in den sozialen Medien steht, weil man etwas Problematisches gesagt oder angeblich gesagt hat, ist folgendes: Das Telefon hört auf zu klingeln. Die Leute reden nicht mehr mit einem. Man wird toxisch. „Ich habe in meiner Abteilung Dutzende Kollegen – ich habe, glaube ich, im letzten Jahr mit keinem von ihnen gesprochen“, sagte mir ein Wissenschaftler. „Einer meiner Kollegen, mit dem ich mehr als zehn Jahre lang mindestens einmal die Woche zu Mittag gegessen habe, hat sich schlicht geweigert, weiter mit mir zu sprechen, ohne daß er überhaupt Fragen gestellt hat.“ Ein anderer sagte, von den rund zwanzig Leuten in seiner Abteilung würden „nur noch zwei mit mir sprechen, von denen der eine keine Macht hat und der andere kurz vor der Pensionierung steht“.
    Ein Journalist erzählte mir, nachdem er fristlos entlassen worden war, hätten sich seine Bekannten in drei Gruppen aufgeteilt. Die kleinste Gruppe waren die „Helden“, die „auf einem ordentlichen Verfahren bestehen, bevor sie das Leben eines anderen Menschen zerstören, und die zu ihren Freunden halten“. Die zweite Kategorie waren die „Schurken“, die der Meinung sind, daß man „unverzüglich seine Existenzgrundlage verlieren sollte, wenn die Anschuldigung erhoben wird“. Einige alte Freunde oder Leute, die er für alte Freunde hielt, beteiligten sich sogar an dem öffentlichen Angriff. Doch die meisten gehörten zu einer dritten Kategorie: „Gut, aber nutzlos. Sie denken nicht unbedingt das Schlimmste von dir, und sie würden sich wünschen, daß du ein ordentliches Gerichtsverfahren bekommst, aber sie haben nicht nachgeforscht. Sie haben vielleicht Gründe, wohlwollend über dich zu denken, aber sie sind viel zu beschäftigt, um dir zu helfen. Oder sie haben zuviel zu verlieren.“ Eine Freundin sagte zu ihm, sie würde liebend gern eine Verteidigung für ihn schreiben, hätte aber ein Buchprojekt in Arbeit. „Ich sagte: ‘Danke für deine Offenheit.’"
    Die meisten ziehen sich zurück, weil das Leben weitergeht. Andere tun es, weil sie Angst haben, daß hinter diesen unbewiesenen Anschuldigungen etwas viel Schlimmeres stecken könnte. Ein Professor, dem kein körperlicher Kontakt mit irgend jemandem vorgeworfen wurde, stellte mit Erstaunen fest, daß einige seiner Kollegen annahmen, er müsse ein Vergewaltiger sein, wenn seine Universität ihn diszipliniere. Ein anderer, der von seinen Dienstpflichten entbunden wurde, drückte es so aus: „Jemand, der mich kennt, aber nicht mein Innerstes oder meinen Charakter, sagt sich vielleicht, es sei klüger, auf Abstand zu gehen, um nicht zum Kollateralschaden zu werden.“
    Und dies ist das zweite, was passiert, und es hängt eng mit dem ersten zusammen: Selbst wenn man nicht suspendiert, bestraft oder einer Sache für schuldig befunden wurde, kann man seinen Beruf nicht uneingeschränkt ausüben. Wenn du Professor bist, will dich niemand als Lehrer oder Mentor haben („Die Doktoranden haben mir zu verstehen gegeben, daß ich eine Unperson bin und unmöglich toleriert werden kann“). Du kannst nicht in Fachzeitschriften veröffentlichen. Du kannst nicht kündigen, weil niemand dich einstellen will. Wenn du Journalist bist, kannst du womöglich überhaupt nichts mehr veröffentlichen. Nachdem Ian Buruma im Zusammenhang mit einem umstrittenen Beitrag zur MeToo-Debatte seinen Posten als Chefredakteur der New York Review of Books verloren hatte – er wurde nicht der sexuellen Belästigung beschuldigt, sondern lediglich der Veröffentlichung eines Artikels von jemandem, dem dies vorgeworfen wurde –, stellte er fest, daß mehrere der Zeitschriften, in denen er seit dreißig Jahren schrieb, nichts mehr von ihm veröffentlichen wollten. Ein Redakteur sagte etwas über „jüngeres Personal“ in seiner Zeitschrift. Obwohl mehr als hundert Autoren der New York Review of Books – darunter Joyce Carol Oates, Ian McEwan, Ariel Dorfman, Caryl Phillips, Alfred Brendel (und ich) – einen offenen Brief zu Burumas Verteidigung unterzeichnet hatten, fürchtete dieser Redakteur seine Kollegen offenbar mehr als Joyce Carol Oates.

 

Existenzbedrohung
Für viele ist das intellektuelle und berufliche Leben zum Stillstand gekommen. „Ich habe die beste Arbeit meines Lebens geleistet, als ich von dieser Untersuchung erfuhr“, sagte mir ein Wissenschaftler. „Alles hörte auf. Seither habe ich kein weiteres Paper mehr geschrieben.“ Peter Ludlow, Philosophieprofessor an der Northwestern University (und Protagonist des Buches von Laura Kipnis), verlor zwei Buchverträge, nachdem die Universität ihn wegen zwei angeblicher Fälle von sexueller Belästigung, die er bestreitet, aus seinem Job gedrängt hatte. Andere Philosophen wollten nicht, daß ihre Artikel in demselben Band wie seine erscheinen. Nachdem Daniel Elder, ein preisgekrönter Komponist (und politischer Liberaler), auf Instagram den Brandanschlag in seiner Heimatstadt Nashville verurteilt hatte, wo Black-Lives-Matter-Demonstranten nach der Ermordung von George Floyd das Gerichtsgebäude angezündet hatten, mußte er feststellen, daß sein Verlag seine Musik nicht mehr drucken und Chöre sie nicht mehr singen wollten. Nachdem der Dichter Joseph Massey von Frauen, mit denen er eine Liebesbeziehung hatte, der „Belästigung und Manipulation“ beschuldigt worden war, entfernte die Academy of American Poets alle seine Gedichte von ihrer Homepage, und seine Verlage entfernten seine Bücher von ihren Websites. Der Journalist und Kritiker Stephen Elliott, dem auf der anonymen Shitty-Media-Men-Liste, die auf dem Höhepunkt der MeToo-Debatte im Netz kursierte, Vergewaltigung vorgeworfen wurde – er verklagt jetzt die Initiatorin der Liste wegen Verleumdung –, schrieb, daß in der Folge eine bereits veröffentlichte Sammlung seiner Essays spurlos verschwunden sei: Rezensionen wurden gelöscht, die Paris Review ließ ein geplantes Interview mit ihm platzen, und er wurde von Podiumsdiskussionen, Lesungen und anderen Veranstaltungen ausgeladen.
    Für manche führt dies zu einem katastrophalen Erwerbsausfall. Ludlow zog nach Mexiko, weil er dort billiger leben konnte. Andere wurden in eine Identitätskrise gestürzt. Nachdem einer der von mir befragten Wissenschaftler die verschiedenen Jobs beschrieben hatte, die er in den Monaten nach der Suspendierung von seiner Lehrtätigkeit ausgeübt hatte, war er den Tränen nahe. „Ich kann nur eines wirklich gut“, sagte er und zeigte auf mathematische Formeln an einer Tafel hinter sich: „Das hier.“
    Manchmal behaupten die Verfechter der neuen Mobjustiz, es handle sich um geringfügige Strafen; der Verlust des Arbeitsplatzes sei nichts Gravierendes; die Leute sollten in der Lage sein, ihre Situation zu akzeptieren und weiterzumachen. Aber Isolation plus public shaming plus Erwerbsausfall sind für Erwachsene harte Sanktionen mit langfristigen persönlichen und psychologischen Folgen – vor allem deshalb, weil die „Strafen“ in diesen Fällen von unbestimmter Dauer sind. Elliott dachte an Selbstmord und schrieb, daß „jeder Bericht aus erster Hand, den ich über public shaming gelesen habe – und ich habe jede Menge gelesen –, Selbstmordgedanken enthält“. Auch Massey dachte daran, sich umzubringen: „Ich hatte einen Plan und die Mittel, ihn auszuführen; dann bekam ich eine Panikattacke und fuhr mit dem Taxi in die Notaufnahme.“ David Bucci, ehemaliger Leiter des Fachbereichs Neurowissenschaften in Dartmouth, der in einem Prozeß gegen die Hochschule namentlich genannt wurde, obwohl man ihm kein sexuelles Fehlverhalten vorwarf, nahm sich das Leben, als ihm klarwurde, daß es ihm womöglich nie gelingen würde, seinen Ruf wiederherzustellen.

(…)

Auch Kipnis, die des sexuellen Fehlverhaltens beschuldigt wurde, weil sie über sexuelle Belästigung schrieb, durfte anfangs nicht wissen, wer ihre Ankläger waren, und niemand wollte ihr sagen, nach welchen Regeln ihr Fall untersucht wurde. Aber nicht einmal denjenigen, die sie anwandten, waren die Regeln klar, denn, wie sie in Unwanted Advances schrieb, „gibt es keine etablierten oder landesweit einheitlichen Verfahrensweisen“. Obendrein sollte Kipnis die ganze Sache vertraulich behandeln: „Ich war in eine unterirdische Welt geheimer Tribunale und unberechenbarer mittelalterlicher Regeln gestürzt worden, und ich sollte niemandem davon erzählen“, schrieb sie. Dies deckt sich mit der Geschichte eines anderen Wissenschaftlers, der mir sagte, seine Universität habe „nicht einmal mit mir gesprochen, bevor sie beschloß, mich zu bestrafen. Sie haben die Berichte der Ermittler gelesen, aber sie haben mich nie einbestellt, sie haben mich nie angerufen, damit ich meine Version der Geschichte darlegen konnte. Und sie sagten mir ganz offen, daß ich aufgrund von Behauptungen bestraft würde. Nur weil sie keine Beweise dafür gefunden haben, sagten sie, bedeutet das nicht, daß es nicht passiert ist.“
    Geheime Verfahren außerhalb von Recht und Gesetz, die den Beschuldigten das Gefühl geben, hilflos und isoliert zu sein, waren in autoritären Regimen über Jahrhunderte hinweg ein Instrument der Kontrolle, von der argentinischen Junta bis zu Francos Spanien. Stalin schuf „Troikas“ – außergerichtliche Kommissionen, die an einem Tag Dutzende von Fällen aburteilten. Während der chinesischen Kulturrevolution ermächtigte Mao Studenten, revolutionäre Komitees zu gründen, um Professoren anzugreifen und schnell zu beseitigen. In beiden Fällen wurden diese ungeregelten Formen der „Justiz“ genutzt, um persönlichem Groll Ausdruck zu verschaffen oder berufliche Vorteile zu gewinnen. In The Whisperers (Die Flüsterer. Leben in Stalins Rußland), seinem Buch über die stalinistische Kultur, führt der Historiker Orlando Figes zahlreiche solcher Fälle an, darunter Nikolai Sacharow, der im Gefängnis landete, weil ein anderer für seine Frau Feuer fing und ihn als „Volksfeind“ denunzierte; Iwan Malygin, der von jemandem denunziert wurde, der ihm seinen Erfolg neidete, und Lipa Kaplan, die für zehn Jahre in ein Arbeitslager geschickt wurde, nachdem sie die Zudringlichkeiten ihres Chefs abgewehrt hatte. Der Soziologe Andrew Walder hat aufgezeigt, daß die Kulturrevolution in Peking von den Machtkämpfen zwischen rivalisierenden Studentenführern geprägt war.
    Dieses Muster wiederholt sich heute in den Vereinigten Staaten. Viele derjenigen, mit denen ich sprach, erzählten komplizierte Geschichten darüber, wie anonyme Verfahren von Leuten angezettelt wurden, die sie nicht mochten, sie als Konkurrenten betrachteten oder aus persönlichen oder beruflichen Gründen einen Groll gegen sie hegten. Einer erzählte von einer intellektuellen Rivalität mit einem Mitarbeiter der Universitätsverwaltung, die bis in seine Studienzeit zurückreichte – er war es auch, der bei seiner Suspendierung eine Rolle gespielt hatte. Ein anderer machte für seine Probleme einen ehemaligen Studenten verantwortlich, der jetzt sein Kollege ist und ihn seit langem als Rivalen betrachtet. Ein Dritter war überzeugt, daß einer seiner Kollegen es ihm übelnahm, mit ihm arbeiten zu müssen, und lieber einen anderen Job gehabt hätte. Ein Vierter vermutete, er habe die beruflichen Frustrationen jüngerer Kollegen unterschätzt, die sich von den Hierarchien in seinem Unternehmen eingeengt fühlten. Sie alle sind der Meinung, daß persönlicher Groll eine Erklärung dafür ist, warum sie herausgegriffen wurden.

(…)

 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.