LI 119, Winter 2017
Die Platte und die Lücke
Horch & Guck in Soll & Bruch. Zum Planen und Bauen in der DDRElementardaten
Genre: Essay, Recherche, Reflexion, Reportage, Stadtporträt
Textauszug: 8.987 von 52.000 Zeichen
Textauszug
(…)
3.
In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts errichtete Apartmentblocks haben in ostdeutschen Städten seltsame Leerstellen verursacht. Von einem Haus zum nächsten klaffen (un-)ansehnliche Lücken, besonders häufig zwischen gründerzeitlichen und realsozialistischen Gebäuden. Entstanden sind die Einkerbungen, die ich Sollbruchstellen nenne, da sich die aus Betonteilen vorgefertigten Plattenbauten selten nahtlos in die Straßen und Gassen der innerstädtischen Bezirke einfügen konnten.
4.
Die Ostberliner Sollbruchstellen sind als geplatzte Architektur-Schecks aus der Konkursmasse der DDR übriggeblieben. Schon vor dem Fall der Mauer wurden die Lücken stillschweigend hingenommen, bald danach, in der zunächst unübersichtlichen Wendezeit, ebenso klammheimlich vergessen. Ihre Anwesenheit ist uns, eigenartigerweise, auch jetzt noch kaum bewußt.
5.
Manchmal scheint es mir, als hätten wir uns alle verabredet, einen Teil unserer Umgebung nicht wahrzunehmen. Als handelte es sich bei den Sollbruchstellen um eine Fata Morgana, über die man, um nicht als meschugge zu gelten, lieber schweigt. Als sähen wir nicht hinter die Fassaden. In diesem Fall: zwischen die Fassaden.
(…)
8.
Die Kulissen der DDR sind nicht abgeräumt, sondern nur notdürftig verhüllt.
9.
Breite und Tiefe der Auslassungen hängen vom Grundstückszuschnitt ab. Keine Lücke gleicht der nächsten. Sozialistische Sollbruchstellen sind, ein Witz der Baugeschichte, kapitale Eigenbrötler. Ein schmaler, kaum erkennbarer Kratzer an der Straßenfront kann sich, auf der Hofseite, als erhebliche Wunde herausstellen und vice versa.
10.
Wäre Ostberlin ein Gebiß, ich spräche von leichtfertig in Kauf genommenen Zahnlücken. Vielleicht erscheint der Vergleich zwischen dem Organischen (Schmelz, Bein, Mark, Zement beim Zahn) und Anorganischen (Spannbeton, Stahl, Glas beim Plattenbau) etwas bemüht. Unabhängig von dem Aperçu, daß die Wurzel bis zum Zahnhals von Zahnzement und Wurzelhaut umschlossen wird, Zement neben Kies und Sand der Grundstoff des Betons, also durchaus eine Rolle im Mund spielt, trifft die Zahnlückenmetapher die Sollbruchstellen-Sache grundsätzlich gut. Schließlich ist der Mund, betrachten wir ihn ohne falsche Gefühlsduselei, nicht mehr als eine in den Kopfleib geschlagene Spalte. Eine Öffnung, durch die wir zunächst Nahrung aufnehmen, atmen und irgendwann vielleicht vernünftig reden können.
11.
Nicht die schiere Ausdehnung des architektonischen Körpers bestimmt das Sein. Die Güte der Nischen, der sorgfältig gestalteten Ein- und Auslässe, entscheidet über Verwendbarkeit und, häufig genug, Zuneigung.
12.
In einem Lied Oswald von Wolkensteins – der im ausgehenden 14. Jahrhundert geborene Südtiroler gehörte in seiner Epoche zu der aussterbenden Gattung der Minnesänger –, in einem Lied Wolkensteins, das ich nicht allein deshalb schätze, weil es das wunderbare Wort „pöschelocht“, sprich: blühend, enthält, findet sich folgende Zeile: „ain so wolgezierte, rote, enge spalt“. Als spalt beschreibt der Minnesänger den Mund seiner pflichtschuldig aus der Ferne angebeteten Herrin. Er beschreibt die spalt so eindrücklich, daß die vöslochte (füllige), röslochte (rosige) Doppeldeutigkeit der wohlgeformten Enge selbst hartgesottene Germanisten – eingeschworen auf die enthaltsame Natur der Minne – ob der freimütigen Erotik noch heute schamvoll erröten läßt. (Lieder, Oswald von Wolkenstein)
13.
Sollbruchstellen sind, jedenfalls für mich, eine pöschelochte Leidenschaft, da sie einen unscheinbaren, vernachlässigten, nahezu ausradierten Ort des Wissenwollens, des historischen Gespaltenseins verkörpern. Und Architektur zeugt nun einmal von Geschichte. Ob sie es will oder nicht, spielt keine Rolle. Über den Gebrauch der Bauten – und damit die Erzählung – entscheiden eher die Anwender als die Konstrukteure, deren Wille, glücklicherweise, nicht absolut zur Geltung kommt.
14.
Die für Ostberlin typischen Sollbruchstellen werden gerade vor unseren Augen beseitigt. In aller Regel: ohne Aussprache. Meistens im Eiltempo. Aus Dummheit und Profitgier. Ohne Protest oder Widerstand. Auch wegen der unterschwelligen Angst vor der Leere, die viele Menschen in sich tragen, macht man den Sollbruchstellen den Garaus. Mit Fördermitteln gepolsterte Kapitalanleger lassen Plattenbauten, jedenfalls in den teuren Lagen, abreißen oder überformen sie. Bis zur Unkenntlichkeit.
Aristoteles führt in der Physik aus, daß das reine Nichts, seines Erachtens, nicht existiert: „Da auch über den Raum Bestimmungen gegeben sind; so muß nun auch das Leere, wenn es ist, ein Raum sein ohne Körper.“ Die metaphysische Sucht, das Seiende zu bejahen und damit das Nichtseiende zu leugnen, gipfelt bei Aristoteles in der Abscheu des Vakuums. Ein heftiger Widerwille, der sich, bis heute, als Horror vacui in unseren Köpfen festgesetzt hat. Die Welt, so Aristoteles, sei angefüllt mit Materie, die Atomisten, welche das Gegenteil behaupten, hätten Unrecht.
Er beruft sich in seinem Beweis auf physikalische Gegebenheiten, erwähnt das Beharrungsvermögen von Materie, argumentiert mit dem Ort, der unbeweglich und umfassend sei. Daß Aristoteles am Ende seiner Erläuterungen zusätzlich auf die – doppelt gemeinte – Sinnlichkeit als Raum-Beweis verweist, zeigt, wie tief die Furcht vor der Leere bei den Plenisten doch ist, zeigt, daß selbst der scharfe Auffassungsverstand, in dieser Frage vom Sein oder Nichtsein, glaubt, der Emotionen zu bedürfen: „Denn mit dem Gefühl wird unterschieden das Fühlbare.“
Ob es, wenigstens anfangs, diese reflexhafte, intuitive, mich beschämende Scheu vor der Leere war, die mich veranlaßt hat, die Sollbruchstellen zu bemerken? Eine Scheu, die ich bis dato immer entschieden geleugnet, als ästhetisches Armutszeugnis belächelt habe?
(…)
17.
Die thanatosen Sollbruchstellen, die scheu-aufdringlichen leftovers des „realen Sozialismus“, sind Zeugen einer (un-)heiligen Zeit.
18.
Eine Stadt, die für ihren antifaschistischen Schutzwall – das Abschließen und Zumachen, den Killerinstinkt der gedrillten Grenzer – berühmt und berüchtigt war, ließ zur Zeit der Mauer, 1961 bis 1989, in ihrem Zentrum unbestimmte Abstände zwischen den Häusern zu. Als hätten die ostdeutschen Architekten psychedelische Drogen genommen und bekifft dem Kult der Lücke gefrönt.
19.
Sollbruchstellen finden sich gehäuft im Areal zwischen Spandauer Vorstadt samt Scheunenviertel, Rosenthaler und Oranienburger Vorstadt und der weitläufigen Gegend rund um Alexanderplatz und Alt-Berlin, einschließlich Nikolaiviertel.
20.
Von 1958 bis 1990 wurden rund 2,2 Millionen Wohnungen in Ostdeutschland in industrieller Bauweise errichtet.
21.
Mit 65 000 Ost-Mark brutto pro Wohneinheit im Großplattenbau, inklusive aller Erschließungsausgaben, bei einer Durchschnittsgröße von 58 Quadratmetern, schlug in den achtziger Jahren ein, wie es spöttisch hieß, Arbeiterschließfach zu Buche. Der Zeitaufwand je Wohnung betrug etwa 600 Stunden. Ein Potsdamer Kombinat kam, angeblich, sogar einmal auf rekordverdächtige 252 Stunden.
22.
Einerlei, wie rasant gebaut wurde: Der Erlös für den Staat war zuverlässig null. Dank der bezuschußten Mieten, die DDR hatte den von Hitler-Deutschland eingeführten Mietstopp fortgesetzt, und dank der geringen Einnahmen von 1,25 Ost-Mark pro Quadratmeter im Jahr 1981 – in den anspruchsvolleren Neubausiedlungen bis zu 1,87 Ost-Mark – zahlten die Mieter im Lauf der Zeit höchstens ein Drittel des ausgegebenen Geldes zurück.
(…)
74.
Die Sollbruchstelle Haus No.4, in der ich mich befand, gehörte als Teil des Ministeriums für Staatssicherheit ebenso zu den Heterotopien. Ein (Nicht-)Ort der Abweichung, ein Widerlager. Das MfS folgte eigenen Regeln, war, wie jede Geheimdienstzentrale, in der verhört, gefoltert, über das Sein oder Nichtsein anderer Menschen entschieden wird, ein privilegierter und verbotener Ort. Ein gesetzloser und doch genauestens regulierter Ort. Ein Ort voller Order. Voller Orden. Voller Unordnung, die es zu korrigieren galt. Voller Ausnahmen. Voller Geheimwissen. Voller Gewalt. Voller Allmachtsphantasien. Jemand dünkt sich überlegen. Jemand pariert oder wird repariert, bis er kopiert und kapiert. Ein ostdeutsches Abu Ghraib. Eine Zone, in denen das aufgegriffene, offensichtlich begriffsstutzige Individuum zum Aktenzeichen wurde. Das Ministerium für Staatssicherheit war ein Ort, wo sich zwischen Tätern und Opfern Abgründe auftaten, wo Nein oder Ja aus der Sicht der Handelnden und der Sicht der Behandelten eine lebensentscheidende Differenz bedeutete.
(…)
77.
Im September 1989 beschäftigte die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe 1 227 Agentinnen und Agenten. 421 davon arbeiteten im Ostberliner Ministerium für Staatssicherheit. Der Rest schnüffelte in den Bezirken der DDR. Ein erheblicher Anteil der Datenspezialisten saß in den etwa hundert Büroräumen des Hauses No. 4. Der Plattenbau mit den Sollbruchstellen an beiden Seiten. Den offenen Flanken. Den sozialen Voids.
(…)