LI 98, Herbst 2012
Das Schicksal des modernen Griechenland
Mythos und Magie, Logos und westliches Licht – Befragung des OrakelsElementardaten
Genre: Essay, Kulturgeschichte
Übersetzung: Aus dem Französischen von Ulf-Dieter Klemm
Textauszug: Auszug (12.000 von 47.000 Zeichen)
Textauszug
Auszug (12.000 von 47.000 Zeichen)
VERSUCHEN WIR, das Orakel nach dem Schicksal des modernen Griechenland zu befragen, ohne ihm voreilig soziologische oder psychologische, ethnologische oder ökonomische Antworten zuzuschreiben.
Daß das moderne Griechenland eine besonders starke Beziehung zum antiken hat, einfach weil es sich um Griechenland handelt, erscheint evident. Aber was lernen wir daraus? Natürlich leben die Neugriechen zwischen geborstenen Tempeln, an den Orten, an denen sich das Drama des antiken Hellas vollzog, und sprechen eine Sprache, die vom Altgriechischen „abstammt“. Und was noch?
Daß das moderne Griechenland eine generelle Beziehung und eine sehr besondere Verbindung zur jüdisch-christlichen Kultur aufweist, einfach weil es aus der Asche des christlichen Byzantinischen Reiches lebendig (eher geboren als wiedergeboren) hervorgegangen ist, scheint auch klar zu sein. Aber inwieweit leben (oder sterben) die Neugriechen weiterhin das Schicksal ihrer zweiten Vorfahren, der Byzantiner? Zwischen den heidnischen Tempeln erheben sich jetzt die orthodoxen Kirchen, und der Blick der unmittelbaren Frömmigkeit richtet sich auf die asketischen Ikonen. Klöster zieren noch immer die Berge, die Mönche jedoch ergreifen nicht mehr das Schwert. Inwieweit läßt sich heutzutage noch die Stimme, die einst byzantinisch war, in Griechenland vernehmen – selbst als Schweigen? Ist der psalmodierende Gesang, den man im Inneren der Kirchen vernimmt, deren einzige Ausdrucksform?
Daß das moderne Griechenland „modern“ ist, scheint eine Tautologie zu sein. Aber was bedeutet das eigentlich? Etwa, daß der Daseinszweck des modernen Griechenland mit dem der modernen westlichen Welt (mehr oder weniger) verschmilzt? Die Frage löst Verlegenheit aus. Das moderne Griechenland konstituiert sich – etwas verspätet – als Staat (der jedoch niemals die Form eines Zustands erlangt hat) und als moderne Nation, befreit sich von den Restbeständen des muslimischen und christlichen Feudalismus und scheint frei werden zu wollen. Es gewinnt ein modernes Selbstbewußtsein und bietet den Anblick einer nahezu „wirklichen“ Gesellschaft. Es richtet sich an den Großmächten aus, läßt sich von ihnen leiten und unterhält zum eigenen Machtwillen sehr trübe Beziehungen.
Das Antlitz dieses modernen Griechenland ist ebenso zerrissen wie dessen geographische Gestalt. Der Mund spricht griechische Worte in einem veränderten Griechisch, aber immerhin in Griechisch. Die Augen sehen noch (durch den Nebel der heidnischen Götter hindurch und im Halbdunkel der christlichen Heiligen) die Tempel, die Statuen und die Ikonen. Die Ohren vernehmen gewiß den byzantinischen Gesang. Aber inwiefern ist all dies modern? Inwiefern begründen diese beiden (starken und schwachen) überkommenen Relikte ein Leben – nennen wir es ein neues? Wovon lebt das moderne Griechenland? Und „lebt“ in jenem Sinn, den ihm der Evangelist verlieh, als er (auf Griechisch) schrieb: „Der Mensch lebt nicht von Brot allein.“
Die griechische Antike ist lediglich eine Antike, die ihren Nachlaß vererbt. Und das ist ein schwer zu verwaltender Nachlaß. Das byzantinische Christentum ist nicht mehr byzantinisch; seine Ikonen werden indes noch immer verehrt. Das moderne Hellas ist mehr als ein Museum und mehr als ein lediglich pittoreskes Land. Jedoch weniger als eine wahrhaft moderne Realität.
Der Begriff „modern“ würde hier – per Analogie – „modern wie der (moderne) Westen“ bedeuten. Und seinem Wesen nach? Modern ist, was auf handelnder Subjektivität gründet, auf dem Selbstbewußtsein, das sich und die Welt interpretiert; Modernität nährt sich aus dem Machtwillen, der sich in die Eroberung der Welt stürzt. Die Philosophie von Descartes, Kant, Hegel und Marx, die Naturwissenschaften, die Mathematik sowie die Ingenieur- und Militärtechnik liefern die Instrumente zu diesem Denken und dieser Handlung. „Modern“ bedeutet „mächtig“, „bewußt“, „organisatorisch“ und „technisch“. Das Denken wird zu einem enormen Aktionshebel, und die menschlichen Wesen wollen durch die techne die physis wieder erschaffen – nach dem Ebenbild der Gottheit. Die Moderne sieht, wie sich vor ihr das ungeheure Feld der Imagination öffnet, wobei sie oft die Augen vor der Grundlage dieser Imagination wie vor deren Grenzen verschließt.
Ist Griechenland also modern? Das Selbstbewußtsein der Neugriechen vollbringt einen ersten Schritt, indem es sich benennt, aber seine Anstrengung geht nicht weiter. Dieses Selbstbewußtsein macht sich sicherlich verworrene Vorstellungen von seiner Bestimmung, aber indem es in der Verwirrung verharrt, verrät es das Genie seiner eigenen Sprache, welche sowohl das Wort wie den Gedanken logos nennt – was sich dann in ratio wandelte. Griechenlands Genie besteht darin, den Schatten und das Licht in Einklang zu bringen. Jedoch ist der Dialog mit dem Selbstbewußtsein der Neugriechen nicht leicht aufzunehmen; muß dieser Dialog nicht, damit er ein Dialog werde, eine Kontinuität im Zeichen der Erinnerung aufweisen?
Wir wären ebenfalls versucht, die folgende Frage zu verneinen: Besitzt das (moderne) Griechenland Denken, Wissenschaft und Politik? Es nimmt am Denken, an Wissenschaft und Politik in europäischer – und bald planetarischer Dimension – teil, aber „teilnehmen“ bedeutet keinesfalls „besitzen“. Diese Bäume wachsen nicht auf seinem eigenen Boden. Das europäische Denken unterhält einen sehr viel lebhafteren Dialog mit dem antiken Denken als das neugriechische. Und das europäische Denken ist auch ein Denken der Gegenwart. Auf diese Weise ernährt sich das moderne Griechenland vom westlichen Denken. „Ernährt sich“ bedeutet: Es empfängt die Früchte, die anderenorts angebaut wurden. Was ihm fehlt, ist die Gesamtheit: Wurzeln, Baumstamm und Äste. Natürlich gibt es wie überall Sträucher; sie sind jedoch nicht stark genug, um das Licht durch ihr Laubwerk zu filtern und einen richtigen Schatten zu werfen.
Da die Wurzeln fehlen, ist es selbstverständlich, daß es weder einen Wissensstamm noch Wissenschaftszweige gibt. Wenn sich das moderne Griechenland vom westlichen Denken „ernährt“, bemüht es sich verzweifelt, die ausländischen wissenschaftlichen Leistungen zu verdauen. Die Zwillingsschwester der Naturwissenschaft, die Technik, fehlt in der Tat vollkommen. Die Neugriechen erschaffen nicht die Welt, nicht einmal ihr eigenes Land. Sie besitzen kein Know-how. Die Menschen in diesem Land mühen sich ab, erschaffen aber keine Werke. Große Werke – des Denkens oder der Wissenschaft, der Technik oder der Kunst – erblicken nicht das Tageslicht. Der Begriff „Möglichkeit“ bedeutet – unter Einbuße seiner ursprünglichen Bedeutung (das, was Realisierung möglich macht) – letztlich nur „frommer Wunsch“. Die neugriechische Negativität erreicht nicht einmal das Stadium der Sprache, sondern bleibt zumeist an der Schwelle des schlicht Negativen stecken.
Diejenigen, die auf der Suche nach einem Ausweg dieser Situation Aufmerksamkeit widmen – wobei sie sich weigern, sich mit deren Bedeutung zu befassen –, beginnen unvermittelt von den „realen Umständen“ zu sprechen. Und in der Tat beginnt sich das klare Meer, das Griechenland umspült, zu trüben, diese trüben Umstände hindern das griechische Schiff, sicheren Kurs zu halten. Und wir sehen das politische (Un-)Bewußte auftauchen. Der Begriff „politisch“ kommt von polis („Stadt“), und das moderne Griechenland neigt vom Anbeginn seiner Konstituierung dazu, das Paradoxon einer politischen Realisierung ohne Zentren der Realisierung zu verwirklichen. Die wichtigen Städte, die in sich den Keim eines künftigen neugriechischen Selbstbewußtseins trugen, befanden sich nicht auf griechischem Staatsgebiet. Wir haben es mit einem Spiel von Import und Export zu tun, dem eine solide autochthone Basis fehlt. Die Politik ist daher kein kraftvolles technisches Denken, das dem Schicksal einer Gesamtheit durch eine intelligente Strategie eine konkrete Form gibt, sondern ein Abenteuer. Und unter Abenteuern gibt es große und kleine.
(…)
Glut unter der Asche
Vielleicht bildete das Griechenland der Neuzeit keine Nation modernen (westlichen) Typs. Diese These wurde nicht von einem Griechen, sondern auf brillante Weise von einem Deutschen vertreten: Oswald Spengler. Nach dieser Konzeption würde das „moderne“ Griechenland zur „magischen Welt“ gehören, die auf die griechisch-römische folgte und der westlichen und modernen Welt voranging. Es wäre eine magische Nation im selben Sinne wie die Byzantiner und die Juden: eine Nation ohne fest umrissenes Territorium, aber im Besitz einer eigenen Seele – einer Seele, die weder apollinisch noch faustisch wäre, sondern magisch; ihr vollendetes Symbol wäre die Krypta. Und was verbirgt diese Krypta? Haben wir das Geheimnis des neuen Griechenland beschworen, indem wir es „magisch“ nennen? Mächtig oder nicht, die neugriechische Realität ist zumindest eine Realität. Und selbst wenn diese Realität von Asche übersät ist, gibt es noch Glut darunter und Menschen, die sich heldenhaft für diese glimmende Glut schlagen.
Griechenland gibt sicherlich nicht den Prototyp einer modernen Nation ab, lebt jedoch mitten in der modernen Welt. Tut es nur so, als sei es modern? Oder führt es eine Existenz vergleichbar jener der Fellachen oder der „Primitiven“, die ebenfalls zugleich am Rande und inmitten der hochzivilisierten Welt leben? Seine Verleumder könnten das behaupten, aber würden sie damit die Wahrheit aussprechen oder sich irren?
Magisch oder nicht, Griechenland ist kein Gemeinwesen mehr, das ausschließlich vom magischen und östlichen Christentum zehrt. Es wäre falsch zu behaupten, daß es lediglich in Nachfolge des Christentums lebte, das einst byzantinisch war; es ist „irgend etwas“ anderes. Und lebt wovon? Ausschließlich von den Lichtteilchen, die aus den Ländern der untergehenden Sonne zu ihm gelangen? Damit diese Lichtteilchen es erleuchten können, muß es sich auf sie zu bewegen. Auf der wenn auch sehr wirren Suche nach seinem eigenen Wesen begegnet das Griechenland der Jetztzeit dem modernen Westen. Beleuchtet diese Begegnung ausreichend das neugriechische Problem?
Als Gegenpol zur „hellenozentrischen“ Tendenz hat sich eine andere Tendenz manifestiert. Sie stellt ebenfalls eine Illusion des ethnischen Selbstbewußtseins dar und ist durch ihren radikalen „Okzidentalismus“ gekennzeichnet. Die Verfechter dieser These sehen Griechenland in westliches Licht gebadet. Dieses mediterrane Land sollte demnach, und zwar möglichst schnell, ein europäisches Land mit Wirtschaftsplanung und rationaler Politik werden, das die Wissenschaft vorantreibt und Technik entstehen läßt. Und seine künstlerischen Ausdrucksformen würden (im Eiltempo, um den Vorsprung aufzuholen) an die der westlichen, den Ton angebenden Länder anschließen. Aber bildet all dies ein Projekt oder im Gegenteil eine simple Projektion der so lebhaften neugriechischen Vorstellungskraft? Die „anderen“ (welche die Griechen häufig und in einem abwertenden Sinn „Franken“ nennen), das heißt die Westeuropäer, sind Europäer und modern, da ihr Sein selbst ihr Werden impliziert. Nach dem Ende der antiken Welt und dem Ende der mittelalterlichen Welt haben sie sich in die geschichtliche Arena geworfen, beseelt von ihrem neuen modernen Eifer; sie ahmten niemanden nach, sie boten sich als Beispiel an.
Es geht keinesfalls darum, zu wissen, ob, da diese Länder „fortgeschritten“ waren und die anderen „zurückgeblieben“, letztere versuchen sollten, zu ersteren aufzuschließen. Der Lauf historischer Epochen ist nicht mit einem Wettlauf vergleichbar. Die Länder, welche die moderne Welt nicht geschaffen haben, müssen deren Errungenschaften für sich nachholen, wollen sie nicht dauerhaft als arme Verwandte leben, die von Zeit zu Zeit (oder sogar häufig) von ihren reichen Verwandten besucht werden, die kommen, um den Charme ihres pittoresken Lebens zu genießen. Die eingeführten Samenkörner müssen in einem fruchtbaren Boden sprießen und – mehr noch – Wurzeln schlagen. Damit Griechenland wahrhaft modern wird, müßte eine aus seinem eigenen Wesen stammende Bewegung es nicht zur Modernisierung, sondern zur Moderne drängen.
Ist eine solche Bewegung bereit, sich zu vollziehen? Wird dieses Ruinenland, auf dessen Boden Fabriken sich so schwertun zu wachsen, tatsächlich modern werden, wenn die hellenozentrische Illusion erst einmal erkannt und die okzidentalistische These von ihrer mimetischen Tendenz gesäubert ist?
(…)
ANM. Der vorstehende Text wurde 1954 in der französischen Zeitschrift Esprit veröffentlicht und erscheint hier erstmals in deutscher Übersetzung.