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Cover Lettre International 96, Marcel Dzama
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LI 96, Frühjahr 2012

Drei Dämonen

Das entführte Mitteleuropa nach fünfundzwanzig Jahren

Laut Milan Kundera ist das moderne Europa aus dem Geist des Romans entstanden, der „Entdeckung der Lebensprosa“. Der Romanschriftsteller schreibt das Leben, das wir in Versen beschrieben haben, um es erträglicher zu machen, in Prosa um. Dies ist ein Ausdruck des nüchternen Blicks auf die menschliche Welt, den die Bourgeoisie in die Geschichte einbrachte, schreibt Marx im Kommunistischen Manifest. Die Stärke des Marxismus lag in seinem Willen zur Prosaisierung des in religiöse und moralistisch geschwätzige Verse gekleideten Elends. Roman und Kapitalismus sind gleichermaßen grausam und zwangen die industriellen Massen, die Fassade ihres in Verse gefaßten Lebens auf den Müll zu werfen und ihre „Lebensstellung und gegenseitigen Beziehungen“ in Prosa zu fassen.

Prosa
befreit, Lyrismus versklavt. Die Kategorien der europäischen Metaphysik – die wahre Realität, die jüngsten Gerichte, das endgültige Gleichgewicht von Strafe und Belohnung, die wahre Identität, die Einheit der Wahrheitskämpfer, die vollkommenen Märkte – sind eine Quelle lyrischer Geschmacklosigkeiten. In seinem Roman Die Unwissenheit demontiert Milan Kundera einen weiteren großen Hort der Geschmacklosigkeit: die Idee der „Rückkehr zum Ursprünglichen“. Es gibt keinen Ort, an den wir zurückkehren können, keine ursprüngliche Heimat, keine mögliche Erneuerung. Die Moderne bedeutet vor allem Solidarität mit dem der versifizierten Verkleidung entstiegenen Leben, mit der Prosa des Lebens. Diese antilyrische Konversion findet, laut Kundera, im 20. Jahrhundert im mitteleuropäischen Roman statt, der die neuen Kräfte der Geschichte, die Bürokratie, die Massen, die seelenlose Präzision und die banalisierende Macht der Presse entlarvt.

Doch
die Auffassung von Mitteleuropa als einem Ort des antilyrischen Übertritts im 20. Jahrhundert, an dem ein neuer Romantypus (Kafka, Hašek, Roth, Broch, Musil, Kundera) das versifizierte „epische“ Leben zurück in die Formen der prosaischen Farce führt, hat auch ihre Schattenseite: das völlig fehlende Verständnis für die demokratische Massengesellschaft. Den mitteleuropäischen Intellektuellen graut vor den Folgen der Massenkommunikation, vor der vereinfachenden Sprache der Medien, vor allem der Presse, vor Klischees und Phrasen, die den öffentlichen Raum beherrschten. „Eben jenes Böse, welches das Christentum nicht bändigen konnte, aufzupeitschen, ist der Druckerschwärze gelungen“, schrieb Karl Kraus.

(…)

Die Demokratie
in Mitteleuropa wird auch heute noch von drei alten Dämonen bedroht, die von keiner Wende verbannt werden konnten und die in stets neuen Kostümen auftreten. Sie tragen verschiedene Namen; es seien hier nur die drei Spielarten des nostalgisch inspirierten Strebens benannt, die ihnen immer wieder neues Leben einhauchen. 

Die erste
ist die wiederkehrende Erwartung antipolitischer Helden, die fähig sind, die Politik rationaler Kompromisse zwischen widerstreitenden Interessen durch Antipolitik oder „Überpolitik“ zu ersetzen, die den Kompromiß nicht kennt, beruft sie sich doch auf „höhere Werte“. Der Parteipolitiker soll – zumeist unter dem Leitspruch der Korruptionsbekämpfung – durch einen Helden gestürzt werden, der Abhilfe schafft, indem er die korrupte Politik der unverdorbenen Antipolitik – der Moral, den Werten, dem Volk, den Gesetzen des Marktes – unterwirft.

Die zweite
Sehnsucht ist das Streben nach einer geschlossenen Gemeinschaft der einander national, kulturell und rassisch Ähnlichen, an Stelle der offenen, widersprüchlichen, zivilen Gesellschaft der „einander Unähnlichen“.

Die dritte
Spielart dieser Nostalgie strebt nach einer reinen und exklusiv höheren, vom Geschmack der Eliten beherrschten Kultur, an Stelle der chaotischen, integrativen, den Elitegeschmack beleidigenden Massenkultur.

Diese nostalgischen Sehnsüchte, die Dämonen herbeirufen, sind das gefährlichste Erbe Mitteleuropas.

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.