LI 102, Herbst 2013
No Exit
Der öffentliche Raum von Citizen Kane bis zur Truman ShowElementardaten
Genre: Essay, Kulturgeschichte
Übersetzung: Aus dem Tschechischen von Angela Rogner
Textauszug: 6.660 von 21.685 Zeichen
Textauszug
Die verstörende Truman Show ist die Geschichte einer Fernsehgesellschaft, die ein noch ungeborenes Kind adoptiert, ihm den Namen Truman Burbank gibt und eine Insel mit Namen Seahaven in eine künstliche Welt verwandelt, in der jegliches Leben von einem angeheuerten Komparsen verwaltet und kontrolliert wird. Die Truman Show wird 24 Stunden live gesendet und dokumentiert das Leben des Embryos, Kindes und zufriedenen Erwachsenen. Alles, was in der Show zu sehen ist, ist käuflich. Truman lebt in einer Reklame.
Seine Isolierung vom Draußen-Bewußtsein ist bedroht, als einer der Darsteller, eine Frau namens Sylvia, ihm die Wahrheit sagen will. Die Ruhestörerin wird zwar sofort von ihrem falschen Vater weggezerrt, der sie zur „Anstaltsflüchtigen“ erklärt, doch in Truman keimt ein Verdacht. Er beginnt, sich genauer umzusehen und Anzeichen für sein Leben als Figur in einer inszenierten Wirklichkeit zu erkennen. Die kleinste Abweichung von sich täglich wiederholenden Szenen wird blockiert, die Menschen sprechen nicht zu ihm, sondern zu einer imaginären Menge hinter seinem Rücken. Als Truman schließlich über die Grenzen Seahavens hinaus will, erweist sich, daß sie streng bewacht sind. Die bisher so freundlichen Komparsen sind plötzlich brutale Bewacher mit scharfen Hunden.
Schließlich sehen wir, wie Truman auf einem Boot von seiner Insel flüchtet, in der Hand ein Photo des Mädchens, das ihn warnen wollte. Der Regisseur inszeniert einen Sturm, um ihn zu stoppen, Truman kommt beinahe ums Leben und prallt am Ende gegen eine Wand. Er ist an die Grenzen der für ihn installierten Version der Welt gestoßen. An der Wand sind Stufen angebracht, über ihnen die Aufschrift „Exit“. Der Regisseur will mit ihm reden und stellt sich als „Schöpfer“ (der Fernsehshow) vor. Er versichert ihm, daß es außerhalb der ausschließlich für ihn geschaffenen Welt „nicht mehr Wahrheit und Wirklichkeit gibt als in Seahaven“.
„Gab es hier nichts Wirkliches?“ fragt Truman. „Du warst wirklich, deshalb war es auch so schön, dich zu beobachten“, antwortet der Regisseur. Truman schweigt lange, dann wiederholt er die Formel, die er in der Show verwendet hat: „Guten Morgen … Oh, und falls wir uns nicht mehr sehen sollten: Guten Tag, guten Abend und gute Nacht!“ Er verneigt sich wie ein Schauspieler und geht (wahrscheinlich) durch eine Tür in der Wand nach „draußen“.
Hat er gewonnen? Ist es ihm gelungen, die unsichere Grenze zwischen dem Draußen und dem Drinnen der Show zu überwinden? Die Zuschauer werden vom märchenhaften Happy-End mitgerissen, in dem sich Hänschen klein aus Seahaven in die große weite Welt aufmacht, und rufen gerührt: „Er hat es geschafft!“ Doch wem applaudieren sie: dem Truman in der Show oder dem Truman außerhalb der Show? Gibt es eine Tür mit der Aufschrift „Exit“ in den für uns eingerichteten personalisierten Welten? Wer kann hier Ruhestörer sein?
Im Dialog zwischen Christof, dem „Schöpfer [der größten TV-Show] der Welt“, und Truman am Ende des Films erkennen wir ein Motiv aus Dostojewskis Großinquisitor: Wozu nach Freiheit und Wahrheit suchen, warum nicht der Botschaft des Satans den Vorzug geben, der künstlichen Welt der Sattheit und Ruhe, installiert vom Erben der christlichen Tradition – der Reklame? Wozu sollten wir die Enthüllung der Wirklichkeit ihrer Verschleierung vorziehen?
Nietzsche erklärte das 20. Jahrhundert zur Epoche des Nihilismus. Mit diesem warnenden Wort bezeichnete er nicht den Werteverfall, sondern den Sieg eines Wertes: der Sehnsucht nach einem Leben in der Wahrheit. Die Moderne hat die Wahrheit zum höchsten Wert erhoben und damit zwingend Kritik an den übrigen Werten ausgelöst. Sie sind bloße Märchen, die wir uns erzählen, um das Leben erträglich zu machen, doch vor dem kritischen Blick des Menschen, der in der Wahrheit leben will, haben sie keinen Bestand.
Als „säkularisierte Gemeinschaft“ bezeichnen wir eine Gesellschaft, die durch den Versuch zusammengehalten wird, ohne Märchen zu leben – ohne das Jenseitsversprechen. Als Gegenentwurf entstehen Verteidigungsgemeinden der Märchenanhänger. In manchen werden Märchenkritiker wegen Beleidigung der Tradition mit Strafen oder Gefängnis belangt. Der Dokumentarfilm Zerbrechliche Identität von Zuzana Piussi beschreibt eine solche Gemeinde, die durch das Märchen vom „uralten“ slowakischen Staat und Volk zusammengehalten wird.
Die Moderne fordert uns auf, nur das als verbindlich anzunehmen, was im öffentlichen Raum begründet werden kann. Die Begründung stützt sich immer auf ein System öffentlicher Begründbarkeit, aus dem jeglicher Anspruch auf Repräsentation der Wirklichkeit seine Legitimität bezieht. Die französischen Soziologen Luc Boltanski und Laurent Thévenot haben verschiedene „Systeme der Rechtfertigung“ beschrieben, die teils parallel bestehen, teils einander widersprechen: die Systeme des Ruhms, des industriellen Wachstums, der Zugehörigkeit zur Heimat. Die säkularisierte Gemeinde wird durch ein System gekennzeichnet, das Marx als Entdeckung des Selbstbilds in sakralen Vorstellungen beschrieb: Der Mensch suchte in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels den Übermenschen und fand nur ein Abbild seiner selbst. Religion ist das Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen des Menschen, der sich selbst noch nicht gefunden oder der sich verloren hat. In der säkularisierten Gemeinde ist jener groß und überzeugend, der die heiligen Gewänder von den Gestalten reißt, die sich die menschliche Phantasie aus Angst vor der realen Welt erträumt hat.
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Edward Snowden hat mit seinen Enthüllungen dem Mythos des befreienden Einflusses des Internets ein Ende gesetzt. Dieser Mythos gründete auf der Vorstellung eines endlosen Kommunikationsnetzes mit horizontalen Beziehungen, in dem alles Hierarchische sein gesellschaftliches Gewicht einbüßt und kein Seahaven überlebt, kein „Inneres“ vom „Äußeren“ isoliert werden kann.
Hierarchien vergeuden Informationen, schränken ihren Fluß vom Gipfel der Pyramide nach unten hin ein, während das Internet weder ein Zentrum noch eine Peripherie kennt, weder ein Oben noch ein Unten, weder ein Höheres noch ein Niedrigeres. Snowdens Informationen erweisen, wie weit das Internet unmittelbar mit Hierarchien verknüpft ist und wie sehr es von Oligarchien beherrscht wird, die es in seiner gesamten horizontalen Expansion kontrollieren.
Vor allem aber hat sich gezeigt, daß es den Hierarchien unserer Seahavens nicht störend entgegenwirkt, nicht ihr „Äußeres“ ist, im Gegenteil – es ist ein gehorsames Instrument der oligarchischen Mächte. Kann sich das Internet aus dieser oligarchischen Umklammerung lösen? Birgt es tatsächlich die Möglichkeit, den Seahavens zu entfliehen?
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