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Cover Lettre International 93, Jan Fabre
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LI 93, Sommer 2011

Der Kreis des Krieges

Es gibt kein Zurück – der Wehrpaß wird nur in eine Richtung ausgestellt

Jeder Krieg hat seinen Radius der Ausbreitung. Dessen Kreis ist scharf umrissen. Seine Überquerung empfindet man physisch – es ist aus, du hast die Linie überschritten, du bist drin im Kreis. Gut möglich, daß es zwei Kilometer vor der Linie überhaupt keinen Krieg gibt; hier jedoch ändert sich alles sofort. So als hätte jemand einen Schalter betätigt, und schon bist du in einer völlig anderen Welt.

Die ersten Empfindungen sind bei allen gleich: „Es geschieht nicht mit mir, das ist nur ein Film“, und: „Mutter, nimm mich zurück in deinen Bauch!“ Das Geschehen erscheint irreal: „Das kann nicht sein. Irgendwo weit weg vielleicht. Auf den Bildern eines Filmstreifens – da schon. Aber hier doch nicht, nicht jetzt und nicht mit mir.“

Das Umfeld ändert sich. Niedergebrannte Häuser, Tierkadaver, zerbombtes Kriegsgerät, der Rauch von Feuersbrünsten, Flüchtlinge mit Ziegen, mit zusammengeschnürter Habe, die wie Trauben an den Lastern hängen. Obdachlose mit irren Augen. Verwundete. Verwirrte Rekruten. Ein Tollhaus. Ringsum nur Kriegstechnik, nur noch Gebrüll und Gefluche. Es gibt weder Strom noch Wasserleitungen noch Geschäfte, weder Telefon noch Taxis – nichts, was unsere gewohnte Welt ausmacht. Das Auge erfaßt nur den Zerfall, die Menschen leben auf der Straße oder in Kellern. Sie trinken getauten Schnee oder Wasser aus Flüssen und Sümpfen. Angst, Verzweiflung, Bosheit und Anspannung liegen in der Luft. Man fühlt sie buchstäblich auf der Haut.

Der Begriff „Haus“ hört auf zu existieren. Wenn im Innern einer menschlichen Behausung Schnee liegt, erzeugt das befremdende Gefühle.

Die Gerüche ändern sich, die Empfindungen, sogar die Farbtöne. Blauer Himmel, weiße Wolken, grüne Berge verschwinden, und es bleiben nur noch schwarzweiße Töne. Farben gibt es nicht mehr, sie werden vom Bewußtsein nicht mehr wahrgenommen.

Den stärksten Eindruck hinterläßt der Geruch. Im Krieg ist er ganz anders. Er läßt sich nicht beschreiben und mit nichts verwechseln. Ein Gemisch aus Dieselabgasen, Staub, bitterem Brandrauch und weiß der Teufel was noch. Manchmal mischt sich Leichengeruch bei.

Das Blut hat nicht nur eine eigene Farbe, sondern auch einen eigenen Geruch. Es sind Gerinnsel, es lebt noch. Ist eine Arterie durchschlagen, so sieht das Blut gallertartig aus mit weißen Klümpchen darin; es fließt nicht, es fällt in Batzen aus einem Menschen heraus, man hat das Gefühl, als atmete es, es war ja in ihm drin, es ist auch Mensch – und der Geruch, den es verbreitet, ist ähnlich: schwer wie Schlachtfleisch. Es fällt einem schwer, zuzusehen, doch der Geruch ist noch schwerer. Und er prägt sich deutlicher ein.
 

(…)

Der Lauf der Zeit verändert sich. Die Welt wird klar und deutlich wie auf einer kontrastreichen Photographie. Du denkst bereits in Sekunden. Weiter als eine Stunde denkst du nicht mehr voraus. Ein ganzer Tag ist schon viel, verdammt viel.

Dein Körper hat dich vollkommen in der Gewalt. Du kannst ihn nicht zwingen, aufzustehen und langsam aufrecht unter Beschuß zu gehen – er läßt dich das einfach nicht tun. Er lernt von alleine, in die Erde einzutauchen, selbst wenn du noch gar nichts hörst, er wird dich und sich selbst vor Gefahren schützen.

Der veränderte Körper beginnt sein Bewußtsein zu ändern. Der Verstand, das Begreifen des Geschehens, schwindet. Man beginnt, ausschließlich mit Hilfe der Instinkte zu leben. Ein guter Soldat sein bedeutet noch lange nicht, genauer schießen und Handgranaten weiter werfen zu können. Ein guter Soldat sein heißt, einen Körper zu besitzen, in dem Instinkte erwacht sind. Es heißt, ein vernünftiger Australopithecus
zu werden, in welchem sich der Verstand eines Menschen mit den verfeinerten Instinkten eines Tieres paart. Wer diesen Weg der Rückentwicklung von der Zivilisation zum Affen am schnellsten zurücklegt, wessen Nerven um Bruchteile eines Millimeters dicker geworden sind und wessen Impulsdurchlässigkeit um Nanosekunden höher liegt, der behält recht.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.