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Cover Lettre International, Gonzalez-Foerster
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Inhaltsverzeichnis

LI 120, Frühjahr 2018

Ein Baum im Mai

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Das Geschehene wird wie ein filigranes Geheimnis im Namen des Monats Mai bewahrt, der so einen Bogen vollzieht, von seinem römischen Ursprung, wo er maius war, der Monat der Göttin Maia, zu einer revolutionären Konnotation, die in den geschichtlichen Folgen wachgehalten wird. Der von Goya gemalte Tres de mayo, das schreckliche temps des cérises der Pariser Kommune, und am Ende der Linie in einem vielleicht bereits fahlen Glanz Mai 68 und, auch wenn es April war, die portugiesische „Nelkenrevolution“. „Le mai le joli mai en barque sur le Rhin / Des dames regardaient du haut de la montagne / Vous êtes si jolies mais la barque s’éloigne.“ Auch und vielleicht vor allem dies gab es, den klangerfüllten Frühling, der im Lied Apollinaires widerhallt samt Hände voller Pfingstrosen und wiedererblühter Blumen. Im Mai 68 waren die zu Mädchen gewordenen Damen sicher nicht hübscher als zu anderen Zeiten, auch wenn wir es damals hatten glauben können. Das einzig Sichere jedoch ist, daß der Kahn sich entfernt hat, rasch, von einem Ufer, das wir doch noch vorbeiziehen sahen. Wir: aber wer war dieses wir? Eine Generation? Eine Generation, die man zu einer verlorenen erklären wollte, und die es nicht gewesen sein wird? Keine Ahnung, ich war es, wie es heißt, und nichts war einfacher. Wir haben einen Freiheitsbaum im Mai gepflanzt, dies war der Sinn, der primäre Sinn, der Sinn, den alle Welt damals darunter verstand.

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   Worum geht es? Ein Essay, ein Essay über Mai 68 oder über die Distanz, die uns davon trennt? Nein, das nicht, diesmal nicht. Eher eine Visite. Oder eine Rückkehr zum Vorher, das heißt ebenso zur Jugend wie zur verlorenen Zeit, zu einem Knoten, der sich zu einem bestimmten zeitlichen Moment knüpfte und der uns das Gefühl vermittelte, in eine andere Zeit zu kippen, auch sie berufen, zu vergehen, aber langsamer und mit anderen Rhythmen und anderen Texturen. Auf dem sich entfernenden Kahn sind wir von jetzt an allein, und dies ohne Pathos verstanden. So ist es nun einmal: Die Kraft der Kollektive und Zusammenschlüsse, die Ideen von Mengen oder Massen oder selbst Gruppen, die Anmaßung des „Kommunismus des Genies“ – alles das ist zurückgeblieben, Sandbänke bildend, in die sich etwas eingegraben hat. Der Baum ist abgestorben, und ich sehe ihn, sehe ihn wieder, kann seine Blätter aufsammeln und versuchen zu begreifen, was ihn erbeben ließ, ein Wind, der nicht mehr ist oder woandershin gezogen, der vielleicht eines Tages wiederkehrt und ein krankes Land oder ein ermüdetes Europa überrascht.

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Mai 68 war ein Phänomen der Konvergenz, so als wären Tausende kleiner Rinnsale an einem gemeinsamen Punkt zusammengeflossen und hätten einen Stausee der Ungeduld geschaffen, der nur überlaufen konnte. Der Faden, dem ich folgte, entsprach unzweifelhaft der von den Berufsrevolutionären gegeißelten politischen Romantik: Meine Lektüren, meine Revolten gegen die Ungerechtigkeit einer blockierten und moralisierenden Gesellschaft, die von Heuchelei nur so triefte, meine Verbundenheit mit Gestalten wie Che, der gerade in Bolivien den Tod gefunden hatte, nichts von alldem konnte dem ähneln, was „Klassenbewußtsein“ hieß. Nein, es war vielmehr so etwas wie ein Zustand, und man muß es sagen: ein glücklicher Zustand, gestaltet aus fast übergangslosen Assoziationen von Ideen, Beispielen, Echos. Was ich ablehnte, war das routinierte und vorgezeichnete Leben, das man uns als unsere Zukunft ausmalte, ich hatte Lust, mich hinreißen zu lassen, und auf verworrene Weise schien mir, daß man versuchte, uns blind zu machen, aus uns vernünftige und autoritätsgläubige Wesen zu machen. Vor diesem Hintergrund einer reinen ungeteilten Revolte tauchte der Vietnamkrieg wie ein nicht zu übersehendes und, so schien uns, völlig klares Zeichen auf. Was die Amerikaner dort anrichteten, war in meinen Augen das schlimmste Antlitz unserer Welt, das wahre Antlitz dessen, was der Westen zu tun fähig war, wenn er sich der Wahrheit eines Kampfes stellen mußte, den er nur verlieren konnte. Die Idealisierung der vietnamesischen Kämpfer war eine Selbstverständlichkeit; sie waren es, die von ihren Wäldern und Reisfeldern aus der amerikanischen Übermacht und damit allen Formen und allen Potentialitäten der Ungerechtigkeit trotzten. Auf epische und tragische Weise verdichtete und sublimierte der sich dort vollziehende Krieg in meinen Augen jede mögliche Form von Kampf, und als Jean-Luc Godard das Wort „vie“ [Leben] aus „Vietnam“ herausschnitt, faßte er, so glaube ich, das Wesen dessen zusammen, was unsere Zustimmung ausmachte, Frucht weniger einer politischen Analyse (die kam erst später) als einer spontanen Regung in Richtung dessen, was alle Werte des Überlebens und des Widerstands in sich aufsaugte.

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Angesichts dessen, was ich hier zu sagen hätte, wird mir klar, daß ein chronologischer oder auch nur serieller Aufbau meines Berichts nicht möglich ist: Meine Absicht war zunächst, über Vietnam und die Dritte Welt zu sprechen, und nun erzähle ich von ganz anderem; aber das liegt daran, daß alles schwankt, diese ganze Periode ein einziger Wirbel ist: Kaum berührt die Erinnerung einen Punkt, erweckt dieser weitere, und das Ganze gerät zu einem ungeordneten Archipel. Man zieht an einem Faden, und schon kommt der ganze Knoten. Sicher ist die ganze Vergangenheit auf diese Weise strukturiert, das heißt faktisch strukturlos, aber mit dieser Form oder diesem Moment der Vergangenheit, die oder den ich zu umreißen suche, gerät das Wiederaufsteigen noch ungeduldiger, erfolgen die Kontaminationen noch rascher. Das erinnert mich an Malen in der Kindheit, als die – häufig übertretene – goldene Regel lautete, nicht über den Rand zu malen. Hier tritt alles über den Rand, die Farblinie wird nicht eingehalten, die Linien selbst verschlingen sich ineinander und bilden keine feste Figur. Nicht wohlgeordnete Flächen entstehen, sondern seltsam ineinander verflochtene Gebilde, in denen der Faden, den man schon verloren glaubte, irgendwo anders wiederauftaucht. Gegen diese Tendenz könnte ich ankämpfen und das Ganze organisieren, etwa durch Kapitelüberschriften oder Einträge wie in einem Wörterbuch, aber das wäre wie Anlauf nehmen, um besser zu springen, und es käme auch innerhalb der einzelnen Teile wieder zu Übertretungen und Überlappungen. Also kann man sich auch gleich dem Beliebigen anvertrauen und seinen Irrungen und gleiten.

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Haben wir selbst auf dem Höhepunkt des Generalstreiks tatsächlich geglaubt, die Stunde sei gekommen, in Frankreich eine Art neuer Räterepublik zu errichten? Ich glaube es, ehrlich gesagt, nicht, und vielleicht ist auch die Frage falsch gestellt. Jeder Tag brachte seine Überraschungen, ganze Sektoren der Gesellschaft schlossen sich der Bewegung an, und ich bin überzeugt, daß zu einer bestimmten Zeit, einige Tage in der zweiten Maihälfte, die Situation tatsächlich in der Schwebe war und die Staatsgewalt wirklich handlungsunfähig, bis sie dann nach der machtvollen gaullistischen Demonstration auf den Champs-Élysées das Steuer wieder in die Hand nahm. Doch die Trägheitskräfte, die wir in unserer Trunkenheit nicht sahen, wirkten untergründig, und dies um so wirksamer, als sie im Innern der Apparate selbst am Werk waren. Nach Niederlage und Rückzug war die Rede von „Generalprobe“, so als sei dieser erste Versuch lediglich die grundlegende Erfahrung eines künftigen Ereignisses gewesen. Aus der Distanz erscheint diese Einschätzung als falsch oder zumindest zu optimistisch. Trotz möglicherweise starker Erschütterungen der Gesellschaft ist in den letzten fünfzig Jahren nichts dergleichen eingetreten, weder in Frankreich noch anderswo: Es gab wohl Befreiungsprozesse, Jubel darüber, daß ganze Gesellschaften (und nicht nur in der Ferne: Spanien, Portugal, Griechenland …) sich der Diktatur entwanden, aber nichts, was der Etablierung einer völlig neuen Regelung der sozialen und politischen Funktionsweise entsprochen hätte, nichts, was einer genuinen Machtergreifung gleichzusetzen wäre: Das göttliche Kind der Revolution ist überall in den Windeln steckengeblieben, ist nie erwachsen geworden. Man könnte sogar sagen, daß überall dort, wo es früher einmal diesen Zustand erreichen konnte, es zu einem Monster geriet und man sich also über dieses Scheitern nur freuen kann. Man könnte es sagen und doch nicht auslöschen, daß schemenhaft ein Traumbild sichtbar geworden war, eine Tür sich einen Spalt geöffnet hatte, der nicht zwangsläufig den Blick auf Lager oder im Gleichschritt marschierende und Porträts ihrer Führer schwenkende Massen freigab.

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Was hinter diesen Reflexionen wieder auftaucht: eine Masse, Bilder und Gerüche, der Stoff einer Zeit, in welcher der Mensch noch nicht auf dem Mond herumstakste (auch wenn es dazu dann doch nur noch ein Jahr dauerte), in der die Computer noch schwerfällige Schränke waren, die lediglich in Forschungseinrichtungen standen, jedenfalls noch keinen Eingang ins Alltagsleben gefunden hatten, eine Zeit auch, in der Reisen per Flugzeug zwar nicht mehr ganz selten waren, aber doch die Zahllosen, die es sich nicht leisten konnten, zum Träumen brachte. In der es auch keine Hochgeschwindigkeitszüge gab, und auch wenn wir nicht mehr im Dampfzeitalter lebten, gab es doch noch eine ganze Vorstellungswelt der „Eisenbahnen“, weitergetragen durch in grün gehaltene Abteilwagen und ein feinmaschiges Netz von Schienenbussen und Triebwagen, die an ländlichen Bahnhöfen hielten, wo man sich einfache kleine Fahrkarten aus Karton kaufte und es einem immer ein wenig wundersam vorkam, wenn man sich am frühen Morgen mit drei oder vier weiteren Fahrgästen und einem Bahnhofsvorsteher mit Trillerpfeife wiederfand. Hier stellt sich ein ganzes Karussell an Bildern ein, mit – um beim Transportwesen zu bleiben – nunmehr historischen Autos, die in einer Welt ohne Umgehungsstraßen und Kreisverkehr zirkulierten: es war die triumphale Zeit des 2CV, der „Ente“, jenes seltsamen Gefährts, das Joseph Brodsky, wie er erzählt, vor den Karyatiden der Eremitage stehen sah, entzückt („sie parkte da, leicht und schutzlos, bar aller Vorstellung von Bedrohung, die normalerweise mit einem Automobil verbunden ist“), und das noch für Jahre zum Vehikel wurde, dank dem wir uns auf die Straßen Europas warfen, zwischen flügelleichten Türen und Fenstern, die sich nur zur Hälfte öffnen ließen.

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© Editions du Seuil, 2018 / Lettre International

 

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