LI 145, Sommer 2024
Paris trotz alledem
Erinnerungen an Kämpfe und Revolten und an eine Zeit der Hoffnung
Elementardaten
Genre: Stadtporträt
Übersetzung: Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek
Textauszug: 5.967 von 41.691 Zeichen
Textauszug
Frankreich ist bekanntlich eines der Länder Europas, in denen die Macht schon sehr lange und überaus effektiv zentralisiert ist. Paris, das von dieser Verwaltungsform in einem bestimmten Sinne profitiert, ist jedoch, wie man allzu oft vergißt, auch deren Opfer. Keinem Versuch der Dezentralisierung ist es nämlich gelungen, das Gewicht, mit dem all die Gebäude zur Ausübung politischer Macht oder die implementierte nationale Symbolik auf der Stadt lasten, zu erleichtern. Die immer schon vorhandene und weiterhin bestehende Kluft zwischen der Stadt als Hauptstadt, mit ihren Attributen und Trophäen, und der realen Stadt wird durch die kombinierten Auswirkungen des Tourismus und der Spekulation zu allem Überfluß noch vergrößert. Trotz aller Anstrengungen, die man unternommen hat, um die mit dem Wesen von Paris in seiner Entwicklung eng verbundene Dimension des einfachen Volks zu tilgen, hat es diese Dimension bis auf den heutigen Tag zu bewahren vermocht und bleibt somit ambivalent: gespalten zwischen einer Seite, die von der Macht und ihren Inkarnationen fasziniert ist und die voller Eifer, wenn nicht Dienstfertigkeit die Rolle einer Hauptstadt übernimmt, die bestrebt ist, das Kulturerbe in klingende Münze zu verwandeln, und einer rebellischen Seite, die den Traditionen der Vermischung, der Ironie und der Lebendigkeit die Treue hält. Zwischen einer Stadt, die ihre Lektion aufsagt und die wir – selbst wenn sie den Sirenen der Innovation erläge – die konservative Stadt nennen werden, und einer anderen Stadt, die weiterhin als Improvisation gelebt werden will, besteht ein offensichtlicher Bruch, der sich, wie es scheint, nicht kitten läßt. Wir haben es hier weniger mit einem offenen Konflikt zu tun als mit einer Art von gegenseitigem Meiden, wobei die zwei Gesichter der Stadt jeweils in die entgegengesetzte Richtung blicken.
(…)
Ich habe sehr oft bemerkt, daß die Verfasser von kritischen Darlegungen zu Veränderungen, die sie für unangemessen, ja verachtenswert halten, am Ende ihrer Ausführungen letztendlich Wert darauf legen, zu präzisieren, daß sie deshalb noch lange keine Nostalgiker seien. Und ich war immer der Ansicht, daß diese finale Korrektur, die das soeben Gesagte in den Grenzen einer gewissen progressiven Konformität einfangen sollte, etwas Gezwungenes und vor allem Falsches an sich hatte. Denn die Nostalgie, die Tochter der Zeit, geht mit ihr einher und begleitet sie: Sie ist alles andere als eine verstockte Form des Bedauerns, die sich zum Ziel setzen würde, die Bewegung der Zeit zu hemmen. Jeder Augenblick trägt, sobald er erscheint, bereits den Schlagschatten seines Verschwindens mit sich, und die Nostalgie ist nichts anderes als das Bewußtsein dieses Verschwindens, als das, was dieses Verschwinden aufgreift und darüber nachsinnt. Wir sind also Nostalgiker, das ist evident, Nostalgiker dessen, was war, aber auch dessen, was nicht hatte sein können. Zwischen dem, was dem Fluß der Zeit überantwortet wurde, und dem, was dieses Glück nicht hatte, zwischen dem, was schlicht nicht mehr ist, und dem, was nicht zu existieren vermochte, entsteht eine Beziehung, scheint eine Art imaginärer Immanenzebene auf. Und jede Stadt, mit ihren Monumenten und ihren Spuren, mit dem, was in ihr erlebt wurde und was in ihr erträumt wurde, ist die unendlich immer wieder neu aktualisierte Form dieser Immanenzebene, die eine Ebene des Erscheinens ist. Was hier in bezug auf die persönliche Erinnerung des Einwohners wie des Besuchers gilt, gilt auch im kollektiven Maßstab, wo sich die Nostalgie mit dem Wunsch einer Wiederkehr und dem sehnsuchtsvollen Handeln vermischt, das sie nährt. Ob man es will oder nicht – und viele wollen es nicht –, Paris ist mit vier Revolutionen in einem Jahrhundert eine der Städte der Welt, wo man mit am stärksten von der Möglichkeit und der Wirklichkeit einer Welt geträumt hatte, in der die menschlichen Beziehungen auf Vereinigungsformen gründen, die sich von den alten Vormündern befreit haben und in der Lage sind, eine neue, unbekannte, hell erstrahlende Welt erstehen zu lassen. Daß diese Welt am Ende nie kam, beweist nur die Gewalt eines Sturzes in die Realität, um den sich unter anderem die Repression kümmerte, nimmt dem Traum aber nichts von seinen latenten Inhalten.
Jenseits der äußerst gewaltsamen Episoden, die diesen nicht zu unterdrückenden Freiheitsdrang ein Jahrhundert lang prägten, ist eine andere Zeit angebrochen, und so hat es heute, trotz einiger Ausbrüche hier und da, den Anschein, als wäre das „Prinzip Hoffnung“ – um Ernst Blochs Begriff aufzugreifen – flügellahm geworden, zur höchsten Freude derer, die von der Welt nichts anderes erwarten als ebendies: jeglichen Willen oder auch nur Anflug einer Veränderung oder eines menschlichen Aufschwungs zu ersticken. In diesem Kampf ist der Wunsch, die Gründe der Nostalgie zu tilgen, eine bevorzugte Waffe derer, welche die Macht innehaben, und das Kulturerbe, so wie sie es definieren oder verriegeln, ist dann genau das, was wie ein schwerer Mantel über allem liegt und sich dem freien Aufblühen der Erinnerungen widersetzt. Das „Selbstdenken“, das Kant zur Bedingung des Denkens selbst machte, gilt es zu verteidigen und überall zu verbreiten, doch ist Paris, als ein riesiges kollektives Subjekt, seit langem schon ebendies gewesen – eine Stadt, die selbst dachte, so seltsam das auch erscheinen mag, so amüsant das vielleicht werden kann. Hier, inmitten einer ungewöhnlichen Dichte an Affekten, konvergieren einige große Linien und zahllose kleine Linien, die alle zusammen an einem gewaltigen Entwurf mitschreiben, in dem eine Form und ein Stil nicht nur unendlich überleben, sondern einander auch unentwegt suchen. Es ist offensichtlich, daß sich bei diesem Suchen die Epochen in Schichten übereinanderlegen und dabei ein Palimpsest bilden, bei dem sich jede Schicht, die erscheint, den anderen nur hinzufügt, indem sie ein gleichzeitiges Überlagern von Bedauern und Abschied sowohl erzeugt als auch verwischt.
(…)