LI 36, Frühjahr 1997
Dschihad versus McWorld
Globalisierung, Zivilgesellschaft und die Grenzen des MarktesElementardaten
Genre: Essay, Kulturtheorie
Übersetzung: Aus dem Englischen von Meino Büning
Textauszug
(...) Wer sorgfältig die Tageszeitungen liest - die Berichte auf den Titelseiten über Blutbäder in Bosnien, Ruanda oder Tschetschenien oder die Artikel auf den Wirtschaftsseiten über Disneys Übernahme von Capitol Cities/ABC oder die Fusion von Time Warner mit CNN, der weiß auch, daß unsere Welt und unser Leben zwischen antagonistischen Kräften gefangen sind: zwischen Retribalisierung und globaler Integration. In ein und demselben Moment kehren wir zurück in eine konfliktbeladene Vergangenheit und schreiten aus in eine zukünftige Weltkultur.
Die Rückkehr in die Vergangenheit bietet die düstere Aussicht auf eine Retribalisierung großer Teile der Menschheit durch Krieg und Blutvergießen: eine Balkanisierung der Nationalstaaten, in denen Kultur gegen Kultur steht, Volk gegen Volk, Stamm gegen Stamm, eine Art Dschihad gegen jede Art der Interdependenz, Kooperation und Gegenseitigkeit: gegen Technologie, gegen Popkultur, gegen Weltmärkte. Der Zug in die Zukunft wird belebt durch vorwärtsdrängende ökonomische, technologische und ökologische Kräfte, die Integration und Uniformität fordern und die Menschen überall mit schneller Musik, schnellen Computern und schnellen Mahlzeiten - mit MTV, Macintosh und McDonalds - in ihren Bann schlagen und die Nationen in eine homogene Weltkultur drängen, eine McWorld, zusammengehalten durch Kommunikation, Information, Unterhaltung und Kommerz. Gefangen zwischen Disneyland und Babel, fällt der Planet jäh auseinander und kommt gleichzeitig und widerwillig zusammen.
Ironischerweise sind die Tendenzen sowohl einer engstirnigen Lokalkultur als auch einer McWorld-Weltkultur mitunter im gleichen Land zum gleichen Zeitpunkt sichtbar. Iranische Eiferer hören mit einem Ohr auf die Mullahs, die zum Heiligen Krieg aufrufen, und mit dem anderen auf Rupert Murdochs Star-TV, das Dynasty, Donahue und The Simpsons über Satelliten in alle Welt strahlt. Chinesische Unternehmer buhlen um die Beachtung von Parteikadern in Peking und bewerben sich gleichzeitig um Konzessionen von Kentucky Fried Chicken in Städten wie Nanking, Hangtschou und Xian, wo 28 Filialen täglich über 100.000 Kunden abfüttern. Die russisch-orthodoxe Kirche, mitten in ihrer Bemühung um eine Erneuerung des alten Glaubens, hat sich mit kalifornischen Geschäftsleuten zusammengetan, um das Wasser aus den Heiligen Quellen abzufüllen und zu verkaufen. Jahrelang haben serbische Mörder mit Adidas-Turnschuhen und Walkmen, mit denen sie Madonna hörten, durch ihre Zielfernrohre auf Zivilisten in Sarajevo gezielt, die mit den gleichen Adidas-Schuhen und Walkmen ihr Wasser holten. Orthodoxe Chassidim in Israel und verbohrte Neo-Nazis in Amerikas rechtsextremen "Milizen" nutzen gleichermaßen Rockmusik, um ihre traditionellen Botschaften an die neue Generation zu bringen, während Fundamentalisten im Internet virtuelle Verschwörungen planen.
Dschihad und McWorld wirken mit gleicher Kraft in entgegengesetzte Richtungen - das eine getrieben von engstirnigem Haß, das andere von expandierenden Märkten, das eine durch Neuerschaffung alter subnationaler und ethnischer Grenzen von innen, das andere, indem es die nationalen Grenzen von außen aufweicht. Gemeinsam ist ihnen die Anarchie: das Fehlen eines gemeinsamen Willens unter der Herrschaft des Rechts, die wir als Demokratie bezeichnen. Beide verabscheuen die bürgerliche Gesellschaft und verachten demokratisches Bürgertum, beide sind nicht interessiert an alternativen demokratischen Institutionen. Gemeinsam ist ihnen die Gleichgültigkeit gegenüber bürgerlichen Freiheiten. Bemühten sich einst vor allem intervenierende und regulierende Regierungen, demokratische Institutionen und Grundgesetze um die Bewahrung der Freiheit, so finden sich, wie George Steiner vermutet, "die neuen Tempel der Freiheit bei McDonalds und Kentucky Fried Chicken".
In Europa, Asien und beiden Amerika haben die Märkte die nationale Souveränität bereits ausgehöhlt und einer neuen Weltkultur ins Leben verholfen, die von internationalen Banken, Handelsverbänden, transnationalen Lobbies wie der OPEC, Weltagenturen wie CNN und BBC und multinationalen Konzernen geprägt wird. Fabriken und Werkstätten sind irgendwo auf souveränem Territorium angesiedelt, unter der Aufsicht und potentiellen Regulierung durch Nationalstaaten; aber Währungsmärkte und das Internet existieren überall, wenn auch an keinem besonderen Ort. Und obwohl sie weder gemeinsame Interessen noch ein herrschendes Recht hervorbringen, verlangen gemeinsame Märkte nicht nur eine gemeinsame Währung, sondern auch eine gemeinsame Sprache (Englisch). Darüber hinaus schaffen sie gemeinsame Verhaltensweisen, wie kosmopolitisches Stadtleben sie überall erzeugt. Piloten internationaler Fluglinien, Computerprogrammierer, Filmregisseure, internationale Bankiers, Medienfachleute, Ölsucher, Unterhaltungsgrößen, Umweltexperten, Filmproduzenten, Demographen, Buchhalter, Professoren, Anwälte, Sportler - das ist die neue Gattung der Männer und Frauen, für deren Arbeitsidentität Religion, Kultur und ethnische Nationalität nur noch von nachgeordneter Bedeutung sind. Das Einkaufen hat in der ganzen Welt einen gemeinsamen Namenszug. Zyniker könnten sogar behaupten, daß einige der neueren Revolutionen in Osteuropa nicht Freiheit und das Wahlrecht zu ihrem eigentlichen Ziel hatten, sondern gutbezahlte Arbeitsplätze und das Recht auf Einkauf. Es ist wohl keine Überraschung, wenn die Rückkehr der Kommunisten und Nationalisten an die Macht in Rußland, Ungarn und anderen Ländern nicht die Einkaufsmöglichkeiten, sondern nur die Demokratie in Gefahr bringt.
Einkauf bedeutet Konsum, und Konsum braucht nicht nur Waren, sondern ebenso die Herstellung von Bedürfnissen. McWorld ist ein Weltprodukt der populären Kultur, angetrieben vom expandierenden Handel. Ihre Schablone ist amerikanisch, ihre Form Stil. Ihre Waren sind nicht weniger Bilder als Material, ebenso eine Ästhetik wie eine Produktlinie. Sie handelt von Kultur als Ware, vom Erscheinungsbild als Ideologie. Ihre Symbole sind Harley-Davidson-Motorräder und Cadillacs, die von den Straßen auf die Markisen der globalen Café-Ketten wie Harley Davidson's und Hardrock gewandert sind und sich zu Ikonen des Lebensstils gemausert haben. Man fährt nicht mit ihnen, man spürt ihre Schwingungen und rockt zu den Bildern, die sie aus alten Filmen und neuen Berühmtheiten heraufbeschwören, deren persönliches Erscheinuggsbild den Schlüssel zu der überaus populären internationalen Café-Kette Planet Hollywood liefert. Musik, Video, Theater, Bücher und Themenparks - die neuen Kathedralen einer kommerziellen Zivilisation, in der Einkaufszentren an die Stelle öffentlicher Plätze getreten sind und Vorstädte zu Wohnvierteln ohne Nachbarn wurden: sie alle sind konstruiert als Bilderexporte, die einen gemeinsamen Weltgeschmack aus gemeinsamen Logos, Werbeslogans, Stars, Songs und Markennamen, Erkennungsmelodien und Warenzeichen erzeugen. Harte Macht weicht der sanften, während sich Ideologie in eine Art Videologie verwandelt, die über Tonbytes und Filmclips wirkt. Videologie ist verschwommener und weniger dogmatisch als die traditionelle politische Ideologie: In der Konsequenz gelingt es ihr vielleicht besser, die neuen Werte einzuimpfen, die erforderlich sind, wenn Weltmärkte Erfolg haben sollen. McWorlds Weltkultur ist fast unwiderstehlich. Japan zum Beispiel hat sich in den letzten Jahren kulturell stärker auf seine eigenen Traditionen besonnen, während seine Bevölkerung zur gleichen Zeit einen noch stärkeren Zugang zu McWorld anstrebt. 1992 war das größte Restaurant Japans, gemessen an der Zahl der Kunden, McDonalds, an zweiter Stelle gefolgt von Kentucky Fried Chicken. Als sich in Frankreich Anfang der neunziger Jahre kulturelle Puristen bitterlich über eine drohende Sixième République ("La république américaine") beklagten, bezog die Regierung Stellung gegen das franglais, finanzierte jedoch zugleich vor den Toren von Paris den EuroDisney-Park. Im gleichen Geist erklärte die Filmindustrie den amerikanischen Filmimporten den Krieg, während Sylvester Stallone einen der höchsten Orden Frankreichs erhielt, den Chevalier des arts et lettres. Weiter im Osten können Touristen, wenn sie nicht allzuweit vom MTV nach einem Stückchen alten Rußland suchen wollen, traditionelle Matrjoschka-Puppen finden - mit den nicht gerade traditionellen Gesichtern (von groß zu klein) von Bruce Springsteen, Madonna, Boy George, Dave Stewart und Annie Lennox. In Rußland, in Indien, in Bosnien, in Japan und auch in Frankreich wendet sich die moderne Geschichte also in beide Richtungen: zur aufgedonnerten Weltkultur der McWorlds-Märkte, aber auch in den spaltenden Haß des Dschihad. Die eifrigen Verfechter von McWorld setzen auf EuroDisney und Microsoft, während die Krieger des Dschihad Nihilismus und eine chaotische Welt herannahen sehen. Aber weder McWorld noch Dschihad bemühen sich um eine Bewahrung der bürgerlichen Gesellschaft. McWorlds Weltkultur ist nicht die Kultur der Demokratie. Und wenn auf kurze Frist auch die Kräfte des Dschihad, lärmender und eindrucksvoller als die von McWorld, die nahe Zukunft beherrschen dürften, so sind es doch langfristig die Kräfte von McWorld, die dem langsamen Vordringen der westlichen Zivilisation zugrunde liegen - sie dürften unaufhaltsam sein. Die Mikrokriege des Dschihad werden die Schlagzeilen noch bis weit in das nächste Jahrhundert füllen und die Prognosen von einem Ende der Geschichte als töricht erscheinen lassen. Aber McWorlds Homogenisierung wird mit aller Wahrscheinlichkeit einen Makrofrieden zur Folge haben, der den Triumph des Handels und seiner Märkte begünstigt und die Kontrolle über die Weltkultur wie das Geschick der Menschheit letzten Endes (wenn auch unabsichtlich) denen ausliefert, die über Information, Kommunikation und Unterhaltung herrschen.
Solange wir dem Kampf zwischen Dschihad und McWorld keine Alternative entgegenzusetzen haben, wird die Epoche, in die wir eintreten - postkommunistisch, postindustriell, postnational, aber dennoch sektiererisch, angsterfüllt, bigott -, mit aller Wahrscheinlichkeit letzten Endes auch postdemokratisch sein. Denn während der Dschihad eine blutige Politik der Identität verfolgt, fördert McWorld eine blutleere Ökonomie des Profits. Wer McWorld angehört, ist Konsument; wer nach einem Zentrum der Identität sucht, gehört zu irgendeinem Stamm. Aber Bürger ist niemand. Wie kann es ohne Bürger Demokratie geben?
(...)