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Lettre International 146 / Tina Merandon
Preis: 15,00 € inkl. MwSt. 7%
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LI 146, Herbst 2024

Malen heißt Leben

Meine Figur kommt aus dem Boden, wie die Toten, die Erdgeister

(…)

Christine Breyhan: Wie sieht der Künstler sich selbst in dieser Gesellschaft? Was erwartet er, daß die Menschen mit seiner Kunst machen?

Georg Baselitz: „Diese Gesellschaft“ reduziert sich beim Künstler auf ein, zwei oder auf zehn Personen. Das kann sich irgendwann vermehren, aber zunächst ist die Gesellschaft nur ein Korrespondent, aber immerhin ist das schon Gesellschaft. Das reicht meist aus. Eine größere Reflexion schließt sich von vornherein aus. Die Neugier des Künstlers auf die Wirkung seines Werkes ist natürlich groß, aber ganz schnell wird er einsehen müssen, daß es keinen Applaus gibt, da die Neugier im Publikum nicht vorhanden ist. Das macht aber nichts. Beim Künstler geht es nicht darum, mit der Gesellschaft, der direkten Umgebung fertig zu werden, sondern mit den Bildern, die da sind: Bildern, die in den Museen, in den Büchern sind und Bildern, die er im Kopf hat. Dieses Fertigwerden mit der Tradition ist viel vordergründiger – das ist auch Gesellschaft, aber meistens eine Gesellschaft, die nicht mehr lebt; er kämpft mit Toten, oder er kämpft mit Leichen. Das heißt, der Künstler muß Bilder machen, durch die er sich selbst bestätigt, durch die er seine Vitalität oder sein Leben anmeldet. Er muß unentwegt Dokumente schaffen, die beweisen und belegen, daß er da ist. Diese Dokumente sind Zeichnungen, Bilder, Skulpturen, Texte usw. Wenn darüber hinaus jemand kommt und sagt: Bravo, bravo!, dann ist das ein sehr glücklicher Umstand. Aber wir wissen aus der Geschichte, daß das nicht immer sein muß, um Bilder entstehen zu lassen. Meistens gibt es diesen Applaus nicht, und das weiß jeder; jeder, der Bilder malt, der hat zumindest einmal einen Van-Gogh-Film gesehen und rechnet mit diesem Schicksal.

(…)

Christine Breyhan: # Man müsse etwas Altes zerstören, um etwas Neues hervorzubringen, so Graci·n. Vielleicht ist Ihre Idee über mehrere geistige Purzelbäume, Rollen rückwärts oder einen Kopfstand entstanden. Ihre frühen androgynen Gestalten zum Beispiel der zensierte Typ in ÑDie Große Nacht im Eimerì, 1962/63, hat dann in späteren Bildern einen Gedankensalto vollführt?

Georg Baselitz: # Ich weiß ja von meiner mir bevorstehenden Biographie zunächst nichts, das heißt ich fange anderswo an, bevor ich mit neuen Bildern in der Gegenwart lande. Dieser Ablauf, diese Entwicklung, dieses Abspulen ist ein Vorgang, der selbstverständlich die vorhergehenden Ergebnisse verändert oder verändern soll. Es gibt durchaus Eintagsfliegen-Maler.

Christine Breyhan: Vielleicht verbirgt sich dahinter doch ein unbewußtes philosophisches Konzept?

Georg Baselitz: Ich habe 1962 im Pandämonium ein Manifest geschrieben, darin steht der Satz: „Die verkehrte Welt auf den Kopf gestellt“, und das können Sie auch als Zitat nehmen für nachfolgende Bilder. Letztlich geht es darum, Konventionen, Wahrnehmungsmuster, auch Tabus, Dinge, an die man nicht rührt, zu prüfen, zu zerstören oder beiseite zu schieben. Das ist etwas ganz Wesentliches, was man machen muß. Das ist von der Motorik her wichtig, daß man Widerstände einbaut, Anker wirft, Handicaps erfindet. Es gibt solch lustige Beispiele dafür. Es gibt diesen italienischen Maler, den ich sehr verehre, Ottone Rosai. Er hat auffällig kleine Bilder gemalt, eine Reihe von Porträts seiner Freunde, die man kaum kennt, sie sind weniger als postkartengroß. Die Methode, in der er gearbeitet hat, war folgende: Er war ein ungewöhnlich großer Italiener und hatte natürlich auch längere Arme als kleine Leute. Aber das hat ihm nicht genügt, er hat an diese Arme immer noch extrem lange Pinsel gebunden, um auf winzigen Formaten zu malen. Das sind solche eingebauten Tücken, die man provoziert, und das finde ich für meine Arbeit interessant.

Christine Breyhan: # Sie arbeiten seit sechzig Jahren. Kostet es nicht enorme Kraft, stets das Affirmative, Wohlgefällige zu vermeiden? 

Georg Baselitz: # Diese Frage über die Kraft irritiert mich, weil es ja meist das Physische meint. Ich denke, viele strengen sich mit viel Kraft an, wohlgefällig zu sein. Ich habe mich anders verschlissen.

Christine Breyhan: # Mit dieser Frage möchte ich zum Ausdruck bringen, daß Sie intellektuell und psychisch mehr in Ihre Arbeiten gelegt haben, als manche Rezipienten sich das vorstellen können. 

Georg Baselitz: # Es gibt den Religionswissenschaftler Mircea Eliade, der das Handbuch der Religionen geschrieben hat. Das hatte ich mir noch in der DDR gekauft. Neben vielen interessanten Dingen, deren Symbolbedeutung ich nicht kannte, zum Beispiel die des Hasen als Hasenkreuz – tatsächlich „Hasenkreuz“, gibt es in seiner Erzählung einen Baum mit Wurzeln nach oben. Dieser existiert in verschiedenen Weltreligionen. Ich persönlich habe ihn bei den Bongos im Sudan als Grabskulptur entdeckt. Also man kann davon ausgehen, daß es für alle Dinge, selbst nicht existente Dinge, begründbare Ursachen gibt. Bei mir kam nicht erst die Theorie oder die Ideologie, sondern erstmal ziemlich hilflose Stricheleien und Klecksereien. Dann habe ich einige Jahre, ohne aus dem Fenster zu blicken, Bilder gemalt. Das heißt, es gab keine Naturskizzen, es wurden keine Photos oder Abbildungen herangezogen, sondern ich habe meine Vorbilder für den Menschen, für das Portrait, für die Landschaft, für das Stilleben – für das Bild überhaupt – komplett erfunden. Plötzlich, 1969 kam es zu einem großen Kopfsprung, oder Riß in der Schüssel, der auch etwas mit Vernunft zu tun hatte, indem ich entdeckte, daß alle Kunst, vorwiegend die Malerei, bisher naturabhängig war. Und das Problem, das dann bei mir auftauchte war, wie sollte ich einen naturabhängigen Menschen malen. Die Lösung war, das auf dem Kopf herum zu tun und zwar mit zunehmend trainiertem Verkehrtherum-Zeichnen. Das heißt, plötzlich, weil es nicht mehr gerade ging, sondern vor- und rückwärts und hin und her, habe ich das Brüche genannt, allerdings Brüche, bei denen die Heilung schnell einsetzte. Dadurch ist mein Werk sehr reichhaltig geworden.

(...)

 

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.