LI 103, Winter 2013
Sorry Miss, erst ab 18
Eine zeitlose Verbeugung vor dem Alter und der WeisheitElementardaten
Genre: Autobiographie, Essay, Meditation
Übersetzung: Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Textauszug: 5.101 von 35.875 Zeichen
Textauszug
1. Langsam, aber stetig nimmt mit Erreichen des dreißigsten Lebensjahres die Herzleistung ab. Wie aber kann das sein, da ich doch nie intensiver empfunden habe als gerade jetzt?
2. Der Körper altert, Geist und Seele aber halten sich nicht an die Beschränkungen der Zeit.
3. „Wir werden uns wohl nicht wiedersehen“, meinte Großvater Papaji vor meinem Abflug nach Berlin. In zwei Monaten, hatte ich ihm gesagt, bin ich wieder in London, im August also. „Dann werde ich nicht mehr da sein“, stellte er klar. Ganz der alte Hypochonder, dachte ich. Papaji war fast neunzig, doch seit er die Siebzig überschritten hatte, kündigte er regelmäßig sein Ableben an. „Höchstens noch ein, zwei Jahre“, hieß es dann. Nun, er war tatsächlich sehr gebrechlich geworden und allein im letzten Jahr dem Tod zweimal nur knapp entkommen; an diesem Sonntag aber schien es ihm vergleichsweise gut zu gehen. Er hatte zwei masala dosai zum Mittagessen gegessen und mehrere hundert Meter zu Fuß bewältigt – eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, daß ihm an den meisten Tagen schon der schmale Treppenabsatz zwischen Schlafzimmer und Wohnzimmer zuviel war. Ich nahm nicht an, daß er bald sterben würde, und schob den Gedanken daran unbekümmert beiseite. Trotzdem bat ich ihn, bei meiner Rückkehr noch da zu sein. Er lächelte und zögerte; ich redete ihm gut zu. „Ich verspreche dir, mir größte Mühe zu geben“, lenkte er schließlich ein.
(…)
6. Alter: sich der Sterblichkeit bewußt sein – anfangs nicht unbedingt der eigenen.
(…)
20. Worin liegt überhaupt der Nutzen eines Menschen? In unserer kapitalistischen Welt, in der es vor allem auf Produktivität und Profit ankommt, wäre nur folgerichtig, wenn sich der Wert einer Person durch das bestimmte, was sie dem „Markt“ liefert. Zum Glück ist es noch nicht ganz so trostlos um uns bestellt, zumindest nicht auf persönlicher Ebene. Oft schätzen wir Menschen ganz unabhängig von ihrer Arbeit oder von dem, was sie an die Gesellschaft zurückgeben können – auch wenn es da im Idealfall einen Zusammenhang gibt. Ein Großteil dessen, was Liebe und Zuneigung ausmacht, läßt sich weder wiegen noch kaufen; es läßt sich auch kaum beschreiben, ohne an dem einzubüßen, was es im Grunde ausmacht. Wie ein Mensch zuhört, der Tonfall seiner Stimme, der Trost seiner Umarmung, die Erinnerung an gemeinsam erlebte Augenblicke, die Art, wie sich seine Eigenheiten an unseren reiben, erzählte Geschichten, gute Ratschläge, Dinge, die ungesagt blieben – all dies ist unschätzbar.
Wird jemand alt und krank, hat er vermutlich nur noch wenig zu geben, aber das ist sein gutes Recht.
(…)
39. Wir werden nicht einfach in eine Kultur hineingeboren. Wir müssen lernen, sie hinter uns zurückzulassen und wieder zu ihr finden, ehe berechtigter Anspruch erhoben werden kann – von ihr an uns oder umgekehrt.
40. Die Jahre zwischen zwanzig und siebzig bilden, zumindest im Westen, so etwas wie eine zeitfreie Zone, in der wir weder alt noch jung sind und die sich beharrlich addierende Zahl ignorieren können, die letztlich doch so wenig über uns aussagt.
41. In Wahrheit gehören wir nie bloß einer Altersgruppe an. Der französische Schriftsteller Jules Renard hielt in seinem Tagebuch fest: „Wir sind nicht erst Kind, dann erwachsen, dann alt: Mehrfach im Leben durchleben wir verschiedene Altersperioden; über deren Verlauf ist allerdings nur wenig bekannt, ihre Abfolge unklar.“
(…)
59. Wie so vieles andere auch, erweist sich wahres Mitgefühl vor allem durch die Tat. Und obwohl mir das klar ist, reagiere ich mit Skepsis, wenn Menschen in ihrem Tun dem widersprechen, was ich selbst für angebracht halte.
(…)
62. Einer fairen und demokratischen Gesellschaft anzugehören bedeutet auch, einen Beitrag für jene Institutionen zu leisten, die den Älteren, Kranken, Armen sowie all denen helfen, die es schlechter haben, auch dann, wenn wir meinen, knapp bei Kasse zu sein oder benachteiligt zu werden. Damit sollten wir uns nicht nur abfinden, wir sollten uns auch dafür einsetzen, denn ansonsten zögern wir nur jene Änderungen hinaus, die wir gemeinsam umsetzen müssen, und bringen uns folglich um die Chance, unsere Lebens- und Alterserwartungen zu verbessern.
(…)
67. Wenn wir alle während unseres ganzen Lebens immer wieder jung und alt sein können, können wir gewiß auch zugleich immer weise, dumm und unschuldig sein.
(…)
72. „Wir sind so stolz auf unsere Körper, und doch, mein Freund, werden sie im Nu vergehen.“ (Gurbani, das heilige Buch des Sihks)
(…)
80. Als Papaji während seiner letzten hellen Augenblicke gefragt wurde, ob er sich noch irgend etwas wünsche, sagte er: „Nein. Ich habe alles gesagt; es bleibt nichts mehr zu tun.“ Das Leben kann nicht überarbeitet werden. Letzte Worte ändern nichts mehr an seiner Substanz. Am Ende kann man nur akzeptieren, was vollkommen und was unvollkommen war wie auch alles andere. Papaji wußte dies zu Lebzeiten, und deshalb wußte er es auch beim Sterben.
(…)
Laut Seneca ist das Leben lang, wenn man es zu nutzen weiß. Auf die Zahl der Jahre kommt es nicht an. Trotzdem rechne ich – in England beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen zur Zeit 82 Jahre.