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Cover Lettre International 101, Jürgen Klauke
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LI 101, Sommer 2013

Das Heiligtum

Göbekli Tepe - ein Tempel aus der Morgenröte der Zivilisation

EINES SPÄTEN ABENDS im Oktober landete ich in Urfa, der Stadt, die für türkische Muslime das Ur der Chaldäer und damit der Geburtsort des Propheten Abraham ist. Beim Bau meines Hotels hatte man eindeutig an Pilger gedacht. Von der Lobby aus führte eine Tür in ein Dampfbad ausschließlich für Männer; ein Bad für Frauen gab es nicht. In meinem Zimmer markierte ein Schild über der alkoholfreien Minibar die Gebetsrichtung. Direkt vor dem Fenster hieß es – Las-Vegas-reif – hoch über der Hauptstraße, in riesigen Lettern aus Glühbirnen: „Willkommen in der Stadt der Propheten“.

Urfa liegt in Südostanatolien, knapp fünfzig Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Zehntausende von Menschen kommen Jahr für Jahr hierher, um sich eine Höhle anzusehen, in der Abraham geboren sein könnte, und einen Fischteich, der den Standort von Nimrods Scheiterhaufen markiert, auf dem der Prophet verbrannt wäre, hätte Gott nicht das Feuer in Wasser und die Kohlen in Fische verwandelt. Einer anderen Legende zufolge schickte Gott einen Schwarm Stechmücken als Plage für Nimrod, von denen ihm eine in die Nase flog und an seinem Gehirn zu nagen begann. Nimrod befahl seinen Leuten, mit Holzhämmern auf seinen Kopf einzuschlagen, und schrie dabei: „Vur ha, vur ha!“ („Schlagt zu, schlag zu!“), was als „Urfa“ der Stadt ihren Namen gab. Urfa hat auch einen griechischen Namen, Edessa, unter dem die orthodoxe Ostkirche sie als Ursprung der wohl ersten bekannten Ikone verewigt hat: ein Tuch mit dem Abbild Christi, der sich damit das Gesicht gewischt hat (auch als Abgar-Bild bekannt; das heilige Tuch soll ein Geschenk Christi an den an Lepra erkrankten König Abgar V. gewesen sein). Ihren heutigen Namen Şanlıurfa – şanli bedeutet „ruhmvoll“ – bekam die Stadt 1984 zu Ehren ihres Widerstands gegen die Triple Entente im Türkischen Befreiungskrieg. Für die meisten Leute heißt sie immer noch Urfa. Zu ihren religiösen Attraktionen gehört auch die Höhle, in der Hiob an seinen Geschwüren erkrankt lag.

Auch ich befand mich zur Pilgerfahrt in Şanlıurfa, zu einer Stätte, die acht Millennien älter ist als Abraham, Hiob und der Glaube an einen einzigen Gott: einem riesigen Komplex von Megalithen im Umland der Stadt, kreisförmig angeordnet in der Art von Stonehenge. Über Jahrtausende war diese Anlage aus der frühen Jungsteinzeit unter zahlreichen Schichten prähistorischen Mülls begraben, so daß sie sich lediglich wie ein Hügel ausnahm. So heißt sie denn auch auf Türkisch Göbekli Tepe: „dicker Hügel“ oder „Hügel mit Bauch“.

Es gibt eine Reihe geradezu verstörender Fakten um Göbekli Tepe: Man schätzt die Anlage auf ein Alter von 11 000 Jahren – was sie sechseinhalbtausend Jahre älter macht als die Cheopspyramide, und etwa fünfeinhalbtausend Jahre älter als die frühesten bekannten Keilschrifttexte und etwa tausend Jahre älter als die Mauern von Jericho, die man lange für der Welt ältestes Bauwerk hielt. Die Anlage besteht aus über sechzig tonnenschweren T-förmigen Kalksteinpfeilern, von denen die meisten gemeißelte Flachreliefs gefährlicher Tiere zieren: nicht etwa gefügige und eßbare Büffel und Hirsche, wie wir sie von den Höhlenmalereien der Altsteinzeit kennen, sondern unheimliche Gruppen von Löwen, Füchsen, Ebern, Geiern, Skorpionen, Spinnen und Schlangen. Bislang hat man noch keine Hinweise darauf gefunden, daß dort Menschen gewohnt hätten – weder Feuerstellen noch tierische Überreste; man geht entsprechend davon aus, daß Jäger und Sammler sie errichtet haben, denen sie als Kultstätte diente. Vergleiche mit Abbildungen ähnlicher Stätten weisen darauf hin, daß dort unterschiedliche Gruppen aus einem Umkreis von bis zu hundert Kilometern zusammenkamen. Rätselhaft bleibt, warum man die Pfeiler bewußt und alle zur gleichen Zeit, etwa um 8 200 v. Chr. – mit anderen Worten: etwa 1 300 Jahre nach ihrer Herstellung –, vergraben zu haben scheint.

Der Gedanke eines sakralen Monuments aus der Zeit der Jäger und Sammler widerspricht so gut wie allen bisherigen Annahmen sowohl über Sakralmonumente als auch über Jäger und Sammler. Letztere, so die traditionelle Sicht, kannten weder komplexe Symbolsysteme noch gesellschaftliche Hierarchien oder Arbeitsteilung – drei Faktoren, die aller Wahrscheinlichkeit nach nötig sind, um einen megalithischen Tempel von neun Hektar Größe zu bauen. Und man nimmt an, daß sich eine formale Religion erst herausgebildet hat, nachdem der Ackerbau hierarchische Gesellschaftsstrukturen hat hervorbringen können, zu deren Aufrechterhaltung eine kosmische Vorgeschichte vonnöten war, die ein Muster für die Machtverhältnisse zwischen Göttern und Sterblichen bot. Die Funde von Göbekli Tepe legen die Vermutung nahe, daß wir das bisher verkehrt herum gesehen haben; daß es vielmehr das Erfordernis einer solchen Kultstätte war, welches Jäger und Sammler zur Organisation in einer Arbeiterschaft und zur Seßhaftigkeit nötigte, was wiederum einen stabilen Nachschub an Nahrung bedingte, so daß man schließlich auf den Ackerbau kam.

(…)

Ein überraschender Fakt an der neolithischen Revolution ist, daß der Ackerbau – erdrückender Beweislage nach – ein jähes Absinken des Lebensstandards zur Folge hatte. Wie Studien über die Buschmänner der Kalahari und andere nomadische Gruppen zeigen, haben Jäger und Sammler selbst in den unwirtlichsten Gegenden weniger als zwanzig Stunden die Woche auf das Beschaffen von Nahrung verwandt. Bauern rackern dagegen von früh bis spät. Da der Ackerbau sich auf den Massen-anbau einiger weniger stärkehaltiger Feldfrüchte gründet, kann es passieren, daß schlechtes Wetter oder ein Schädling praktisch über Nacht die Lebensgrundlage einer ganzen Gemeinschaft zunichte macht. Paläontologischen Belegen zufolge litten die ersten Bauern im Vergleich zu den Jägern und Sammlern bei weitem häufiger an Anämie und Vitaminmangel, sie starben jünger, hatten schlechtere Zähne, neigten eher zu
Wirbelsäulendeformationen und Infektionskrankheiten – letztere eine Folge des engen Zusammenlebens von Menschen und Vieh. Eine Studie von Skeletten in Griechenland und der Türkei befand, daß die Durchschnittsgröße des Menschen zwischen dem Ende der Eiszeit und 3 000 v. Chr. um 15 Zentimeter zurückging; bis heute hat man in diesen Ländern die Körpergröße der Vorfahren aus der Jäger-und-Sammler-Zeit nicht wieder erreicht. Der kurdische Arbeiter am Göbekli Tepe hatte recht: Der Mensch der Jungsteinzeit war vermutlich größer als er.

Wieso sollte jemand an einem so armseligen Leben festhalten? Jared Diamond, Autor von Arm und Reich: Die Schicksale menschlicher Gesellschaften, schildert dies als klassische Lockvogelsituation. Jäger und Sammler sahen sich „verführt“ vom flüchtigen Überfluß, in dem sie schwelgten – bis das Bevölkerungswachstum die erhöhte Nahrungsmittelproduktion eingeholt hatte. Zu diesem Zeitpunkt waren sie jedoch bereits gefangen – um nicht zu verhungern, mußten sie die Erträge ihrer Felder ständig steigern.

Unterernährt, aber zahlenmäßig überlegen, rotteten die Bauern die Jäger und Sammler so gut wie aus und vertrieben die Übriggebliebenen von ihrem Land. Für Diamond ist der Ackerbau nicht nur ein Rückschlag, sondern der schlimmste Fehler in der Geschichte der Menschheit, der Ursprung der umfassenden sozialen wie sexuellen Ungleichheit, der Krankheiten und des Despotismus, durch die wir unsere Existenz verflucht sehen.

(…)

 
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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.