LI 55, Winter 2001
Der Geist des Terrorismus
Herausforderung des Systems durch die symbolische Gabe des TodesElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek
Textauszug
Weltereignisse haben wir schon einige gehabt, vom Tod Dianas bis hin zur Fußballweltmeisterschaft - und auch gewaltsame und reale Ereignisse, von Kriegen bis hin zu Völkermorden. Was es bisher aber noch nicht gegeben hat, ist ein symbolisches Ereignis von globaler Bedeutung, das heißt eines, das nicht nur über den ganzen Globus Verbreitung findet, sondern das der Globalisierung selbst den Kampf ansagt. Während der langen Stagnation der neunziger Jahre kam es zum "Streik der Ereignisse" (wie der argentinische Schriftsteller Macedonio Fernandez sich ausdrückte). Nun, der Streik ist beendet. Die Ereignisse haben aufgehört, zu streiken. Mit dem Attentat auf das World Trade Center in New York haben wir es sogar mit einem absoluten Ereignis zu tun, mit der "Mutter" aller Ereignisse, mit einem reinen Ereignis, das alle nie stattgefundenen Ereignisse in sich vereint.
Das ganze Spiel der Geschichte und der Macht ist über den Haufen geworfen, doch auch die Bedingungen der Analyse. Wir müssen uns Zeit nehmen. Denn solange die Ereignisse stagnierten, mußte man antizipieren und schneller sein als sie. Wenn sie aber derart beschleunigen, muß man langsamer sein. Ohne sich jedoch unter dem allgemeinen Stimmengewirr und den Staubwolken des Krieges begraben zu lassen, und gleichzeitig darum bemüht, das unvergeßliche Aufblitzen der Bilder im Gedächtnis zu bewahren.
In all den Reden und Kommentaren kommt eine gigantische Abreaktion auf das Ereignis selbst und die Faszination, die es ausübt, zum Ausdruck. Die moralische Verurteilung, die heilige Allianz gegen den Terrorismus entspricht dem erstaunlichen Triumph, der Zerstörung dieser weltweiten Supermacht beizuwohnen, oder besser: zu sehen, wie sie sich selbst zerstört, wie sie in vollendeter Form Selbstmord begeht. Denn sie selbst hat durch ihre unerträgliche Macht nicht nur all diese Gewalt geschürt, von der die Welt erfüllt ist, sondern – ohne es zu wissen – auch jene terroristische Imagination, die in uns allen wohnt.
Daß wir von diesem Ereignis geträumt haben, daß ausnahmslos alle Welt davon geträumt hat, weil niemand umhin kann, von der Zerstörung einer derart hegemonial gewordenen Macht zu träumen, das ist es, was für das westliche Gewissen unannehmbar ist, und dennoch ist es eine Tatsache und entspricht genau der pathetischen Gewalt all der Reden, die dies auslöschen wollen.
Im äußersten Falle kann man sagen, daß sie es sind, die es getan haben, aber wir es sind, die es gewollt haben. Wenn man dies außer acht läßt, verliert das Ereignis seine ganze symbolische Dimension, ist es ein reiner Unfall, ein rein willkürlicher Akt, die mörderische Phantasmagorie einiger Fanatiker, die man nur auszuschalten bräuchte. Nun wissen wir aber genau, daß dem nicht so ist. Daher der ganze kontraphobische Wahn des Exorzismus des Bösen: weil es da ist, überall, wie ein obskures Objekt der Begierde. Ohne diese tiefgreifende Komplizenschaft fände das Ereignis nicht jenen Widerhall, den es gehabt hat, und die Terroristen wissen in ihrer symbolischen Strategie ganz genau, daß sie auf diese Komplizenschaft, die nie eingestanden werden kann, zählen können.
Das geht weit über den Haß hinaus, den die Enterbten und Ausgebeuteten, jene, die auf der Schattenseite der Weltordnung gelandet sind, gegenüber der dominierenden Weltmacht empfinden. Dieses bösartige Begehren steckt auch in den Herzen derer, die von dieser Weltordnung profitieren. Glücklicherweise ist die Allergie gegen jede definitive Ordnung, jede definitive Macht ein universelles Phänomen, und die beiden Türme des World Trade Center waren gerade in ihrer Zwillingshaftigkeit eine perfekte Verkörperung dieser definitiven Ordnung.
Es bedarf hier keines Todes- oder Zerstörungstriebs, nicht einmal eines perversen Effekts. Es ist vollkommen logisch und unausweichlich, daß die stete Machtzunahme einer Macht auch den Wunsch verstärkt, sie zu zerstören. Und diese Macht ist die Komplizin ihrer eigenen Zerstörung. Als die beiden Türme einstürzten, hatte man den Eindruck, daß sie auf die Selbstmordattacke aus der Luft mit ihrem eigenen Selbstmord antworteten. Es hieß einmal: "Gott selbst kann sich nicht den Krieg erklären." O doch. Der Westen, der die Position Gottes (die Position göttlicher Allmacht und absoluter moralischer Legitimität) eingenommen hat, wird selbstmörderisch und erklärt sich selbst den Krieg.
(...)
Terrorismus ist unmoralisch. Das World-Trade-Center-Ereignis, diese symbolische Herausforderung, ist unmoralisch, und es entspricht einer Globalisierung, die ihrerseits unmoralisch ist. Seien nun also auch wir unmoralisch und blicken wir, wenn wir in alledem irgend etwas verstehen wollen, ein wenig jenseits von Gut und Böse hinaus. Da wir es nun einmal mit einem Ereignis zu tun haben, das nicht nur die Moral, sondern jede Form von Interpretation herausfordert, wollen wir versuchen, uns die Intelligenz des Bösen anzueignen. Ebendies ist der entscheidende Punkt: das völlige Unverständnis der abendländischen Philosophie, der Philosophie der Aufklärung, für die Beziehung von Gut und Böse. Wir glauben naiverweise, daß der Fortschritt des Guten, sein Erstarken in allen Bereichen (Wissenschaften, Techniken, Demokratie, Menschenrechte) einer Niederlage des Bösen entspricht. Niemand scheint begriffen zu haben, daß Gut und Böse gleichzeitig und innerhalb ein und derselben Bewegung erstarken. Der Triumph des einen bringt keineswegs die Auslöschung des anderen mit sich, vielmehr im Gegenteil. In metaphysischer Hinsicht gilt das Böse als akzidentieller Makel, doch ist dieses Axiom, von dem sich sämtliche manichäistischen Formen des Kampfes des Guten gegen das Böse ableiten, eine Illusion. Das Gute reduziert das Böse nicht, genausowenig wie dies umgekehrt geschieht: Beide sind nicht aufeinander reduzierbar, gleichzeitig aber auch unentwirrbar miteinander verbunden. Im Grunde genommen könnte das Gute das Böse nur dann besiegen, wenn es darauf verzichten würde, das Gute zu sein, da es gerade durch Aneignung des weltweiten Machtmonopols den Rückstoß einer proportional entsprechenden Gewalt auslöst.
In der traditionellen Welt gab es noch ein Gleichgewicht von Gut und Böse, gemäß einer dialektischen Beziehung, die im moralischen Universum schlecht und recht für Spannung und Ausgleich sorgte – ein wenig so, wie im Kalten Krieg die Konfrontation zweier Mächte das Gleichgewicht des Schreckens garantierte. Folglich gab es keine Vorherrschaft des einen über den anderen. Dieses Gleichgewicht wird von dem Moment an gestört, da eine totale Extrapolation des Guten stattfindet (Hegemonie des Positiven über jegliche Form der Negativität, Ausschließung des Todes, jeglicher potentiell gegnerischen Kraft – Triumph der Werte des Guten auf der ganzen Linie). Nun ist das Gleichgewicht gestört, und es scheint, als würde das Böse eine unsichtbare Autonomie wiedergewinnen und nunmehr exponentiell wachsen.
Unter Wahrung aller Proportionen kann man wohl sagen, daß das Ganze ein wenig dem ähnelt, was auf dem Gebiet der Politik mit dem Untergang des Kommunismus und dem weltweiten Triumph der liberalen Macht geschieht: Es ersteht ein phantomhafter Feind, der sich über den ganzen Planeten ausbreitet, wie ein Virus überall einsickert und in sämtliche Ritzen der Macht dringt. Der Islam. Doch ist der Islam nur die bewegliche Front, an der dieser Antagonismus Gestalt annimmt. Dieser Antagonismus ist überall und er ist in jedem von uns. Terror gegen Terror also. Asymmetrischer Terror jedoch. Und es ist gerade diese Asymmetrie, die die weltweite Allmacht völlig wehrlos dastehen läßt. Mit sich selbst im Konflikt, kann sie sich nur auf ihre eigene Logik der Kräftebeziehungen einlassen, ohne auf dem Feld der symbolischen Herausforderung und des Todes mitspielen zu können, von denen sie keinerlei Vorstellung mehr hat, da sie diese aus ihrer eigenen Kultur gestrichen hat.
Bisher war es der integrierenden Macht weitestgehend gelungen, jede Krise, jede Negativität zu absorbieren und zu resorbieren, wodurch eine zutiefst verzweifelte Situation geschaffen wurde (nicht nur für die Verdammten dieser Erde, sondern auch für die Wohlhabenden und Privilegierten in ihrem radikalen Komfort). Das grundlegende Ereignis besteht darin, daß die Terroristen aufgehört haben, völlig umsonst Selbstmord zu begehen, daß sie ihren eigenen Tod auf offensive und wirksame Weise ins Spiel bringen, gemäß einer strategischen Intuition, die schlicht und einfach die immense Fragilität des Gegners erkennt, die Fragilität eines Systems, das seine Beinahe-Perfektion erreicht hat und beim kleinsten Funken sofort verletzlich ist. Es ist ihnen gelungen, ihren eigenen Tod zu einer absoluten Waffe gegen ein System zu machen, das von der Ausschließung des Todes lebt, dessen Ideal die Parole "Null Tote" ist. Jedes System mit "null Toten" ist ein Nullsummenspiel. Alle Abschreckungs- und Vernichtungsmittel vermögen nichts gegen einen Feind, der den eigenen Tod bereits zu einer Waffe der Gegenoffensive gemacht hat. "Was kümmern uns die amerikanischen Bombardements! Unsere Männer sind ebenso begierig zu sterben, wie die Amerikaner begierig sind zu leben!" Deshalb sind 7.000 Tote auf einen Schlag so unvergleichlich viel, wenn sie einem System zufügt werden, das der Parole "Null Tote" folgt.
Auf diese Weise geht es hier also stets um den Tod, nicht nur um den brutalen Einbruch des Todes in Echtzeit und Direktübertragung, sondern auch um den Einbruch eines Todes, der mehr als real ist: eines symbolischen und eines Opfertodes – das heißt um ein absolutes und unwiderrufliches Ereignis.
Das ist der Geist des Terrorismus.
Das System nie in Form von Kräftebeziehungen zu attackieren. Das nämlich wäre das (revolutionäre) Imaginäre, das einem vom System selbst aufgezwungen wird, welches nur dadurch überlebt, daß jene, die es attackieren, dazu gebracht werden, sich auf dem Feld der Realität zu schlagen, das stets das dem System eigene Terrain sein wird. Statt dessen aber den Kampf in die symbolische Sphäre zu verlegen, in der die Regel der Herausforderung, des Rückstoßes, der Überbietung gilt. So wie der Tod nur durch einen gleich- oder höherwertigen Tod beantwortet werden kann. Das System durch eine Gabe herausfordern, die es nicht erwidern kann, es sei denn durch seinen eigenen Tod und Zusammenbruch.
Die Hypothese des Terrorismus lautet, daß das System in Reaktion auf die vielfältigen Herausforderungen durch Tod und Selbstmord seinerseits Selbstmord begeht. Denn weder das System noch die Macht entgehen der symbolischen Verpflichtung – und auf dieser Falle beruht die einzige Chance ihrer Katastrophe. In diesem schwindelerregenden Kreislauf des Todes, der unmöglich getauscht werden kann, ist der Tod der Terroristen ein verschwindend kleiner Punkt, der jedoch einen gewaltigen Drang, eine gewaltige Leere, eine gewaltige Sogwirkung entfaltet. Um diesen winzigen Punkt herum verdichtet sich das System des Realen und der Macht, es verfällt in einen Wundstarrkrampf, zieht sich in sich selbst zusammen und geht an seiner eigenen Hypereffizienz zugrunde.
Die Taktik des terroristischen Modells besteht darin, einen Realitätsexzeß zu provozieren und das System unter diesem Exzeß zusammenbrechen zu lassen. Die ganze Lächerlichkeit der Situation sowie die von der Macht mobilisierte Gewalt kehren sich gegen das System, denn Terrorakte sind sowohl der maßlose Spiegel seiner eigenen Gewalt als auch das Modell einer symbolischen Gewalt, die ihm selbst untersagt ist, der einzigen Gewalt, die es selbst nicht ausüben kann: die des eigenen Todes.
Daher vermag alle sichtbare Macht gegen den zahlenmäßig verschwindenden, doch symbolischen Tod einiger Individuen nichts auszurichten.
(...)