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Lettre 144, Kunst Mathias Deutsch
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Inhaltsverzeichnis

LI 144, Frühjahr 2024

Johann Sebastian Bach

Wer Welt und Musik neu erfindet, für den geht es um alles oder nichts

(…)

Leben und Tod

Der Musiker in alten Zeiten ist ein Magier (musicien, ancien, magicien: unsere – französischen – Wörter rufen einander auf wie die Noten einer Partitur), ein Magier, der die Götter nachahmt und die Welt neu erschafft, die Kunst seiner Noten ist nur schwer von der Kunst der Buchstaben und der Kunst der Zahlen zu unterscheiden, so daß seine alte musikalische Kunst in seinen Kompositionen mehr als ein Geheimnis birgt.
     Bach: Die Zahlensymbolik zieht sich konstant durch sein gesamtes Werk.
     Quaerendo invenietis (einem Kanon aus dem Musikalischen Opfer vorangestellt).
     (Josquin des Prés: Qui quaerit invenit.)

(…)

Arbeit, Geld, überleben

Rufen wir uns nun Bach als Kind in Erinnerung, das mit neun Jahren seine Mutter und mit zehn Jahren den Vater verlor. Von einem seiner älteren Brüder aufgenommen, mußte er arbeiten (im Metier der Musik immerhin), um Geld nach Hause zu bringen und so zu seinem Lebensunterhalt beizutragen. Anschließend hat er sich völlig verausgabt, um sich einen Platz zu erarbeiten (den ersten Platz, über alle Epochen und Kategorien hinweg) und um schließlich seine eigene Familie zu ernähren.
     Aus dem Werk, in dem man ein Geheimnis verbirgt (und sucht), aus einem mysteriösen letzten Werk, das unvollendet blieb, sowie aus einer unendlichen Obsession, die auf einen Zustand vor uns selbst und vor der Welt zurückzuführen oder über uns selbst und über die Welt hinaus, auf alle Fälle aus der Welt hinauszuführen scheint – denn diese Obsession unterwirft jedes Wesen ihrem so explosiven wie verborgenen Gesetz und schafft eine Art von verfluchter Zuflucht, die uns unentwegt und unwiederbringlich anzieht, eine Art ewige Spirale („Die ewige Spirale“: wir entlehnen den Titel eines berühmten Stücks für Gitarre des Kubaners Leo Brouwer, La Espiral Eterna) –, aus alldem scheint Bach mittels Musik einen Körper zu zeugen (der ebenso weiblich wie männlich, mütterlich und kindlich ist) und unablässig auf seine eigenen – selbst die alten – Werke zurückzukommen, so als würde er sich über den Verlust dieses Körpers hinwegtrösten wollen, indem er ihn wiederfindet, wiederherstellt und perfektioniert – während er sich auf dem Gipfel seiner Perfektion befindet.

(…)

Bach, er selbst und die anderen

Auf den Porträts, die es von ihm gibt, tritt Bach sehr unterschiedlich in Erscheinung, bisweilen ist er nicht wiedererkennbar. Es stellt sich natürlich die Frage der Authentizität dieser Porträts, doch ist das nicht das eigentliche Problem. Wir lechzen danach, Bach zu sehen, sein Antlitz entzieht sich uns jedoch, manchmal verschwindet sogar das Bild selbst, wie zum Beispiel das Gruppenporträt von Gottlieb Friedrich, das (vielleicht) den im Familienkreis musizierenden Bach darstellt.
     „Ich sprach mir’s aus: als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich’s etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltschöpfung, möchte zugetragen haben“, schreibt Goethe am 21. Juni 1827 an den Komponisten Carl Friedrich Zelter. Man hat Bach oft mit Gott verglichen (Debussy: „Bach, das ist der heilige Gral.“). Wer weder geboren wurde noch sterben kann, ist ewig und steht außerhalb der Zeit, er ist gleichsam gezwungen, in jedem Augenblick und immerfort sich selbst und die Welt zu erschaffen. Er ist immer neu. Um zu sein, stützt er sich auf ein reines Verlangen nach Sein, außerhalb aller Kontingenz und Realität – eben dadurch findet er jedoch eine primordiale, ursprüngliche, nichtmenschliche Wirklichkeit wieder.
     Mit anderen Worten: Alles geht vom Kind aus, also schöpft Bachs Kunst aus geheimnisvollen Quellen, die wir aber alle in uns bergen, ein „musikalische[s] Wunder“, sagt Wagner, immer ähnlich und immer verschieden.
     Wer zu perfekt ist, ist eine Bedrohung für Gott (das ist ein Thema vieler phantastischer Erzählungen), wer den Schöpfer zu gut nachahmt, und sei es, um ihm in bester Absicht zu dienen, der setzt sich an seine Stelle und wird zum Teufel. Es gibt da bekanntlich jenes Zeugnis eines Mannes, der Bach auf der Empore einer Leipziger Kirche Orgel spielen hörte: „Wenn es nicht Bach ist, der da oben spielt, dann ist es der Teufel persönlich.“
     Die fast beängstigende Vollkommenheit Bachs (Geschicklichkeit, Virtuosität, Beruf, Genie) mag einen Verdacht aufkommen lassen, den wir aber rasch ausräumen wollen. „Sein ganzes Leben lang hat er dafür gekämpft, das Erhabene, das er in sich trug, zu humanisieren, um den feindlichen Kräften, die von seiner Seele Besitz ergriffen hatten, ein Gegengewicht entgegenzusetzen und nicht unterzugehen.“ Diesen Satz, den ein Kommentator auf Michelangelo bezog, hat der eigentlich ruhige und besonnene Musikologe Norbert Dufourcq auf Bach angewendet.
     Man könnte, mutatis mutandis, an die h-Moll-Messe denken, an der er so lange komponierte und die so unterschiedliche Elemente vermischt und tausend Spannungen vereint. Und man kann sich fragen, wie Bachs Gehirn beschaffen gewesen sein muß, um eine solche Meisterleistung zu vollbringen und zu bewältigen, es ist ein Mysterium (Rebatet vergleicht dieses Gehirn mit einem Computer!).
     Für den, der mit seinem Werk verschmilzt, wird das Werk gleichsam zum Symbol seiner selbst, einschließlich jenes Symbols, das im alltäglichen Leben als Platzhalter seiner Existenz dient, der Name: Hörempfindungen sind die immateriellsten und am wenigsten „irdischen“ Wahrnehmungen, und man kann die Musik, die Kunst der Klänge, die mütterlichste aller Künste nennen. Bach hat seinen Namen in Klang verwandelt und ihn überall in seinen Werken eingeschrieben, und wer in seinen Werken lebt und erbebt, übt eben dadurch eine Anziehungskraft aus, wirkt faszinierend, bewirkt eine unwiderstehliche Verzauberung, fixiert uns mit seinen Augen, streckt uns seine Hand entgegen, läßt uns eine Musik vernehmen, die uns sowohl durch den Reichtum ihrer Variationen und ihre stets überraschenden Feinheiten als auch durch die Regelmäßigkeit ihres Rhythmus gefangennimmt („Statik in der Dynamik“, diese Formel von Jankélévitch läßt sich perfekt auf Bach anwenden). Sein Blick, seine Gegenwart in den Worten, sein Name hypnotisieren uns, während er uns in der fortwährenden Bewegung seiner Werke gefangenhält, einer Bewegung, die nun gleichsam zu einem Äquivalent aller möglichen physiologischen Bewegungen wird, des Atmens, des Herzschlags, der Sexualität.
     „Bach war in bezug auf seinen Namen abergläubisch“, behauptet Luc-André Marcel, „er ging sogar so weit zu glauben, daß seiner Familie die Musikalität vorherbestimmt sei, und zwar aufgrund der Schönheit der Melodie, welche die Buchstaben B-A-C-H bilden, einer Melodie, die aber auch beklemmend ist, wie die unvollendete Quadrupel-Fuge der Kunst der Fuge unweigerlich unterstreichen wird.“
     Von der verzückten Entdeckung Bachs durch Mozart bis zu den Hommagen durch jüngere Komponisten (von Mendelssohn bis Boulez), die auch ironischer ausfallen können (Mauricio Kagel), haben ihn die Musiker unentwegt verehrt, wurden sie von ihm beeinflußt und haben sie ihn auf alle möglichen Weisen nachgeahmt, transkribiert, zitiert – und haben, Nachahmung und Identifikation auf die Spitze treibend, auch immer wieder Werke komponiert, welche die Signatur B-A-C-H verwenden, die, wie Pierre Vidal schreibt, „derart bewegend ist in ihrem schmerzlichen Zickzack“: Liszt, Schumann, Roussel, Honegger, Max Reger, Schönberg, Webern unter anderen (wie Nino Rota, der Filmmusiken schrieb und „Fellinis Komponist“ war und über den Namen „Bach“ zwei Walzer für Piano solo sowie „Variationen und Fuge“ komponierte), ganz zu schweigen vom größten Nachahmer Bachs … Bach selbst.
     Wenn Bach die Musik ist, dann sind alle Musiker Bach, und die Musik, die von ihren Ursprüngen an auf Bach zuzulaufen scheint, scheint auch zu Bach zurückzuführen, als jenem Punkt, an dem alles ans Ziel gelangt, von dem alles herkommt und zu dem alles zurückkommt, mit ein und derselben Inbrunst.
     Die mit der offiziellen Bezeichnung „Rückkehr zu Bach“ versehene Bewegung wurzelt im 19. Jahrhundert, doch hat diese Rückkehr schon viel früher eingesetzt, nämlich bei Bachs Tod, oder seit dem Erscheinen der Musik in der Welt, wobei das erste wichtige Datum natürlich die Entdeckung und Nachahmung Bachs durch Mozart ist, der – gemeinsam mit Bach – der größte Nachahmer von Musikern war. Manchmal ging es ihm nur darum, sich zu amüsieren, vor allem aber war es eine grundlegende Übung, eine Seinsweise, eine Frage des Lebens. In dieser Hinsicht ist das Verhältnis zwischen Bach und Mozart, sind ihre tiefreichenden Ähnlichkeiten, ihre „Begegnung“ faszinierend. Mozart wußte Bachs „Neuheit“ bekanntlich zu schätzen. Und für Schumann galt: „Nur aus einem wäre von allen immer von neuem zu schöpfen – aus Johann Sebastian Bach.“ Auf denjenigen zurückzukommen, der zur Quelle der Dinge zurückgegangen und mit ihr eins geworden ist, heißt, seinerseits mit der Quelle eins zu werden. Wie wäre unter diesen Umständen die Musik ohne Bach vorstellbar? („Wenn die gesamte Musikliteratur plötzlich verschwinden würde, … so würde mich dies zwar tief schmerzen; doch – untröstlich wäre ich bloß über den Verlust der Werke von Sebastian Bach“, schreibt Brahms.)

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024