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Cover Lettre International 94, Robert Longo
Preis: 11,00 € inkl. MwSt. 7%
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LI 94, Herbst 2011

Kunderas Mitteleuropa

(…) Warum besaß die Idee von Mitteleuropa so große Bedeutung für uns alle? Jedes Werk braucht seine Modelleser, das heißt Leser, die das lesen, was im Text steht, und nicht das, was uns die vorherrschende Zeitmeinung als Inhalt des Textes aufzwingt, in diesem Falle den Ost-West-Konflikt. So erschien die erste Ausgabe von Kunderas Roman Der Scherz in Frankreich in einer überaus pathetischen Übersetzung, die zu Kunderas nüchtern rationalem Stil im Widerspruch stand. Kundera hat mir einmal folgendes erzählt: Als sein Roman Das Leben ist anderswo erstmals ins Spanische übersetzt wurde, verkündete irgend jemand, daß es darin zwar um einen Dichter gehe, das Buch jedoch in einer „prosaischen Sprache“ geschrieben sei; daher wurde angeblich ein Dichter damit beauftragt, das Ganze in ein poetisches Spanisch zu übertragen. Die erste englische Ausgabe hingegen erschien völlig entstellt und verstümmelt: Ein ganzes Kapitel über mährische Folklore hatte man einfach gestrichen (eine osteuropäische Wunderlichkeit, mit der der westliche Leser nichts am Hut hat!) und auch die Kapitelfolge verändert, damit der englischsprachige Leser in der großen weiten Welt das Ganze überhaupt verstehe, denn der Schriftsteller aus dem „kommunistischen Drüben“ ist ganz sicher ein literarischer Dilettant, der die Literatur nur als Mittel zum versteckten Protest gegen das System benutzen will.

So ging man „damals im Westen“ mit dem Schriftsteller um. In Wirklichkeit war diese „Überinterpretation“ literarischer Werke aus „Osteuropa“ ein Ausdruck des brutalen Egozentrismus eines politisch manipulierten westlichen Lesers. Milan Kundera hat das laut ausgesprochen und dieser Lesart der „Werke osteuropäischer Autoren“ siegreich den Kampf angesagt. Alle ehemaligen Osteuropäer, nicht nur wir Emigranten, müssen ihm dafür dankbar sein. Als man in den neunziger, aber auch schon in den achtziger Jahren in Italien begann, Bohumil Hrabal anders zu lesen, als man ihn vor Kundera gelesen hätte – das heißt als Allegorie der posthistorischen Welt, in der das Wesentliche nur in Nischen und Höhlen, an den Rändern und in den Schlupfwinkeln zum Leben erwacht, die nach der großen Geschichte noch übriggeblieben sind –, so war das vor allem dem Riesenerfolg zu verdanken, der dem Ausdruck „Mitteleuropa“ in der Interpretation Kunderas beschieden war.

Warum fand dieser Begriff derart großen Anklang?

Avantgarde, Kitsch, andere Moderne

Zuallererst deshalb, weil sich damals in ganz Europa zunehmend Widerstand regte gegen die Avantgarde und ihre vollmundige Anpreisung des Neuen, das „kommt, um die alte, faulige Welt niederzureißen“. Die Avantgarde wurde implizit zunehmend als Kitsch und Lyrismus wahrgenommen, und Kundera hat das Wörterbuch dieser unterschwelligen, antiavantgardistischen Sicht der Moderne geschaffen. Er weckte in der europäischen Kultur neues Interesse für die erstaunliche mitteleuropäische Moderne, insbesondere die Wiener Moderne. Dabei handelt es sich um eine Ultramoderne, die aber gleichzeitig skeptisch, antilyrisch, antiavantgardistisch ist. Vor allem in Frankreich und Italien, aber auch in den Vereinigten Staaten begann man von neuem, mitteleuropäische und zweifellos moderne Autoren wie Robert Musil, Hermann Broch und Karl Kraus zu lesen, dazu natürlich auch Sprachphilosophen wie Ludwig Wittgenstein oder den gesamten Wiener Kreis, in dem der „Neopositivismus“ entstand, oder etwa den halbvergessenen Fritz Mauthner. Die Botschaft dieser Philosophie läßt sich vielleicht wie folgt zusammenfassen: Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen der Wirklichkeit; der Versuch, Löcher in die Sprache zu bohren, durch die wir „unmittelbar die Wirklichkeit hinter der Sprache“ erkennen könnten, bringt nichts als Monster, Kitsch und Brutalität hervor, absurde Begeisterungen, für die gerade die Avantgarden das beste Beispiel sind. Die Abkopplung der Moderne von einer immer unerträglicheren Avantgarde weckte ein immenses Interesse für Mitteleuropa als Ort einer „anderen Moderne“.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.