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LI 129, Sommer 2020

Dürers Datenwolke

Auf kleinem Raum mit knappsten Mitteln – Ein Medium mit Zukunft

(…)

VI.
Im 15. Jahrhundert wird der Kupferstich rasch zum Avantgarde-Medium seiner Zeit.
Er setzt Sehen und Denken an einen neuen Anfang. Keine Form ist ihm zu klein, keine Unterscheidung ist ihm unerreichbar. Zurück bleibt die damals derbe Illustrationskunst und „rohe Marktware“ (Lützow) des Holzschnitts der flächendeckenden Bauernbelehrung und der Heiligenbilder für die Stalltür. Bis heute markiert im Deutschen die Unterscheidung zwischen „holzschnittartig grob“ und „gestochen scharf“ diese zwei Darstellungswelten. Der Holzschnitt wurde noch 200 Jahre weiterverwendet, doch kam niemand, selbst Dürer nicht, mit dieser Linie, die nicht modulieren konnte, der Entwicklung der Zeit und ihren neuen Horizonten hinterher.
Allzu spät setzten, ab 1487, zwei Nürnberger Investoren noch einmal in großem Stil auf das Medium Holzschnitt und ließen eine „Weltchronik“, die der Arzt und Humanist Hartmann Schedel kompiliert hatte, in Holz schneiden. Das größte Buchprojekt vor Gutenberg, ein Opus der Superlative mit 685 kolorierten Holzschnitten, scheiterte medial und sprachlich an seinem Anspruch: Die Schedelsche Weltchronik wurde ein Ladenhüter. Ein neues graphisches Angebot an Präzision stand schon bereit, um die Patenschaft für den kommenden Begriff „Realität“ zu übernehmen.


VII.
In „Understanding Media“ (1964) führt Marshall McLuhan ein Grundprinzip ein, nach dem sich ein „heißes“ von einem „kalten“ oder „kühlen“ Medium unterscheidet. Ein „heißes“ Medium erweitert einen einzigen Sinneskanal in Richtung auf maximalen Detailreichtum und größtmögliche Sättigung mit Daten und Einzelheiten. Je „kühler“ ein Medium ist, desto mehr muß es vom Betrachter ergänzt und vervollständigt werden. „Das Aufheizen des Mediums Schrift bis zur Intensität des wiederholbaren Druckes führte zum Nationalismus und den Religionskriegen des 16. Jahrhunderts.“ Die „Temperatur“ des Mediums bestimmt seine expansive Kraft und gesellschaftliche Brisanz, und nach diesem Thermo-Modell erreicht das Medium Kupferstich bei Albrecht Dürer seine maximale „Hitze“.


VIII.
Die spätgotische community der ersten beiden Generationen von Kupferstechern kannte einander, besuchte und kopierte sich, tauschte technische Kniffe aus. Der Meister der Spielkarten, Meister der Weibermacht, Meister E. S., Meister W. P., Meister des Paradiesgärtleins – einige der Notnamen der anonymen Trendsetter –, sie alle experimentieren ab 1430 in Italien, Süddeutschland, Frankreich und den Niederlanden mit Leidenschaft in dem neuen Medium. Das „Abkupfern“ setzte ein, kaum, daß der Kupferstich geboren war. Vom hochproduktiven, einflußreichen E. S. (außer dem Monogramm und der Wirkungszeit um 1460 wissen wir über ihn nichts mit Bestimmtheit) wurde fast jede Platte augenblicklich kopiert. Das Leben Jesu und Passionszyklen gaben die selbstverständlichen Motive vor, daneben entstanden Spielkartensätze, figürliche Zier-Alphabete, höfische Szenarien und, zur Entspannung, manches geile Blättchen.
   Nie wieder hatte Graphik in Europa diese volkstümliche Lebensnähe. Die Mode jener Zeit, ein spätmittelalterlicher Punk mit Schnabelschuhen, Hörnerhaube, Wulstfrisur und geschlitztem Wams verleiht den Figuren das Aussehen schriller Models. Dem Individualismus und Naturalismus der spätgotischen Gesellschaft kam das mobile Medium des Kupferstiches sehr gelegen, das die Palette des Darstellungswürdigen so ungeniert erweiterte – wenn eine verrutschte Mönchskutte die darunterliegenden Realia entblößte oder ein Fräulein dem grinsenden Narren, der ihr an die Brüste greift, einen Spiegel vorhielt. Es waren diese Blätter, die auf den Messen reißenden Absatz fanden, Blätter von Künstlern, die wußten: Von dir bleibt nur übrig, was du riskiert hast.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.