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LI 133, Sommer 2021

Piano und Politik

Macht und Magie der Musik im Resonanzraum der Gesellschaft

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Sensorium der Macht
Klaviervirtuosen sind Würdenträger, Reizfiguren oder Idole, manchmal auch Dissidenten des klassischen Musiksystems, die auf Nachfrage oft darauf bestehen, unpolitische Musiker zu sein. Unpolitisch? Interviews mit Pianisten wird stets großes Interesse entgegengebracht, vor allem wenn sie „eigentlich“ keine geben. Auch wenn sie nicht am Flügel sitzen oder sich im Applaus vor dem Publikum verbeugen, bleiben Klaviervirtuosen in der Gesellschaft Solisten und einflußreiche Ausnahmefiguren. Daß Arthur Rubinstein nach 1945 in Deutschland nie mehr gastierte, Wladimir Horowitz nach 1986 in Russland wieder auftrat, Lang Lang im schwarzen Rollkragenpullover 2019 in der Leipziger Thomaskirche Bachs Goldberg-Variationen zelebrierte — alles Entscheidungen reiner Musiker?
     Pianisten und Politiker, so unterschiedlich ihre Sphären sein mögen, scheinen verborgene Verbindungen zur Macht aneinander zu wittern. So früh wie möglich werden pianistische Wunderkinder den Regierenden präsentiert. Die Macht der Musik in den Händen eines Kindes vermag die politisch Mächtigen zu rühren, die persönliche Vorführung stellt menschliche Nähe her und erhöht die Aussicht auf Protektion. In der Geschichte des Pianos und seiner Vorläufer werden große Tastenkünstler immer wieder vor Machthaber zitiert und von ihnen eingesetzt.
      Hier die Imagination der Macht — dort die Macht der Imagination. Seltsame Umkreisungen hat es gegeben: Ferdinand III. von Habsburg vertraut seinem Cembalisten Johann Jacob Froberger geheime diplomatische Missionen an. Johann Sebastian Bach hat am 7. Mai 1747 vor Friedrich dem Großen zu einer Art Vorstellungsgespräch zu erscheinen, darf die Instrumente des Königs ausprobieren und improvisiert darauf vierstimmige Fugen unter Aufsicht des Monarchen. Kaiserin Maria Theresia unterliegt dem Charme und den pianistischen Fähigkeiten des sechsjährigen Mozart. Liszt spielt in privaten Audienzen vor dem Zaren, Königin Victoria, Napoleon III. und dem Papst.
     Der amerikanische Präsident Richard Nixon, selbst als Pianist im Fernsehen aufgetreten, gönnte sich am 29. April 1969 eine Jazz-Soiree der Extraklasse, zu der er Duke Ellington an dessen siebzigstem Geburtstag die Presidential Medal of Freedom verlieh. Mit Nixon an Ellingtons Flügel sang die versammelte jazz royalty der Vereinigten Staaten Happy Birthday to You.
     Nach diesen wenigen Beispielen läßt sich bereits vermuten, daß Pianisten von allen Instrumentalisten wohl am wenigsten von sich behaupten können, „unpolitische“ Musiker zu sein. Ihre gesellschaftliche und politische Rolle ist mit der Entwicklung des Pianos mitgewachsen, das man sich als Musik-, Macht- und Emanzipationsinstrument zugleich vorstellen muß. In jeder pianistischen Karriere spielen, ob gewollt oder nicht, alle diese Aspekte mit. Noch nicht berücksichtigt ist dabei die jüngste Entwicklung der Kapitalisierung des Pianos in einer Pop-Klavierkultur, bei der Pianisten und Pianistinnen zusätzlich die Rolle von ökonomischen Influencern spielen. Auf das Erscheinen chinesischer Klassik-Pianisten mit stupender Technik reagierte das europäische Feuilleton anfangs überrumpelt und trat ihnen vielfach mit frontaler Ablehnung entgegen. Aus einem völlig anderen Kulturkreis stammend, waren diese Künstler bei ihren Interpretationen von westlicher Klaviermusik auf „Informationen“ angewiesen — konnte das gutgehen? Sind es Genies, die nationale Grenzen sprengen, oder Agenten eines mit viel Glamour kaschierten kulturimperialistischen Übergriffes? Man hat sich mittlerweile an die Fremdlinge gewöhnt, die eine neue Welle der Begeisterung für das Piano, eine kommerziell weltweit durchschlagende Pianomania ausgelöst haben.

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Präzision
Der schwarzglänzende geschwungene Körper des Konzertflügels verbirgt eine der größten Errungenschaften der westlichen Zivilisation: die Klaviermechanik. Über Jahrhunderte von geduldigen Instrumentenbauern und ungeduldigen Komponisten entwickelt und vorangetrieben, sind es derzeit rund 8 800 Teile, das sind bei 88 Tasten rund hundert Bauteile pro Taste, die den Klavierton zu einem Generator von Illusionen, zu einer metaphysischen Sonde machen. Der Klavierton ist psychische Introspektion mit mechanischen Mitteln. Auch in Zeiten sich ständig vertiefender neurowissenschaftlicher Einsichten und Erkenntnisse ist die Präzision der Erfassung mentaler Zustände am Klavier bisher einzigartig und wird von keinem elektronischen Substitut annähernd erreicht. Für den Klavierstimmer Franz Mohr, bei Steinway & Sons ehemaliger Betreuer der Weltstars und intimer Kenner ihrer Marotten, ist der Flügel: „… ein Instrument, das sich auf wunderbare, fast magische Weise mit dem menschlichen Gehirn verbindet.“
     Als „zweites Ich“ (Chopin) verfügt das Piano von allen Soloinstrumenten über das mit Abstand größte Repertoire. In ihm liegt eine Geschichte der neuzeitlichen Subjektivität in Tönen vor. Dementsprechend ist die Ausbildung zum Pianisten alles andere als reiner Musikunterricht. Die psychophysischen Entscheidungen und zahllosen Mikrodispositionen beim Vortrag einer Sonate von Mozart oder Schubert, eines Préludes von Chopin oder einer Etüde von Ligeti erfordern eine Mobilisierung der gesamten Persönlichkeit. Aus den unendlichen Mühen der Probestunden, dem geduldigen Selbstmonitoring in Abgeschiedenheit erwächst schließlich die Interpretation.

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Haupt- und Nebenwege
In der Naturgeschichte des Pianos gibt es einen Freiheitsbezug. Eine ununterbrochene Reihe von zunächst befriedigenden Lösungen, die weiterverfolgt wurden, von Nebenprodukten, die heute bloße Kuriositäten sind, führt auf das Plateau des Klavierbaus von heute. Das „Spielgefühl“ ist ein entscheidendes körperliches Freiheitserlebnis, das auch kleinste Einschränkungen registriert. Wer seine Autonomie auf den Tasten erleben darf, kann den persönlichen Maßstab nicht mehr darunter ansetzen. Die Entscheidung für das Piano ist auch die für ein Leben ohne politischen Zwang und für volle persönliche Entscheidungsfreiheit. Viele pianistische Höchstleistungen sind verbunden mit Einzelschicksalen, die unbeachtet geblieben oder tragisch verlaufen sind. Das Telos des Klavierspielens liegt für viele der großen Interpreten eindeutig außerhalb des kommerziellen Musikbetriebs. Manche machen Ernst damit: Ihre Karrieren fallen auf, fallen aus der Reihe.
     „Ein einzelgängerisches Wesen, das alles beobachtet … – so sieht eine Studienkollegin die französische Pianistin Hélène Grimaud, die 1997 in South Salem, New York, auf sechs Hektar Land das Wolf Conservation Centre gründete. In der gemeinnützigen Einrichtung sollen vor allem Jugendliche für Wölfe interessiert, für die Zusammenhänge innerhalb der Wolfsgruppe und in der Natur sensibilisiert werden. Nach einer Begegnung mit Martha Argerich entschied sich Grimaud für den radikalen persönlichen und künstlerischen Alleingang und ist heute ein Publikumsmagnet auf internationalen Festivals. Die Pianistin zerstritt sich mit Claudio Abbado über eine Mozart-Kadenz, gilt im Konzertbetrieb als unberechenbar. Bis auf die Personen in ihrer unmittelbaren Umgebung kennt niemand ihre Wege. Jedes ihrer Konzerte ist ein Comeback. Schlichtes steht neben Spitzenleistungen, die Maßstäbe setzen. Ihr Alleingang provoziert! Hélène Grimaud beschreibt in ihrer Autobiographie Wolfssonate (2006), wie es ist, wenn man auf der Bühne steht und auf Blicke trifft „... die einen auspeitschen“.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.