LI 51, Winter 2000
Die Klatschgesellschaft
Von Trieb und Lust, sich das Maul zu zerreißenElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Textauszug
Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. Dies beweist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen (...) und vor allen anderen die Wahrnehmung mittels der Augen (...) auch wenn wir nicht zu handeln beabsichtigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allen anderen vor.
Aristoteles, Metaphysik,
1. Buch A, 980a, 21
(Der Klatsch ist) ein mächtiger Antrieb
der menschlichen Natur. Wer seiner Natur gehorcht, indem er ein Gerücht weitergibt, verspürt unmittelbar die große Erleichterung,
die mit der Befriedigung eines
Grundbedürfnisses einhergeht.
Primo Levi, "Del pettegolezzo",
in: Opere, Bd. 3, Turin 1990
Apotheose des Klatsches
Klatsch hat es immer gegeben, aber es trifft ebenso zu, daß unsere Zeit von einer wahren Apotheose der Kultur des Klatsches gekennzeichnet ist. Ich beziehe mich nicht nur auf die Tatsache, daß die modernen Massenmedien dem Klatsch eine Verbreitung ermöglichen, die in Zeiten, als die Klatschbasen in den Dörfern regierten, unvorstellbar war. Es hat auch einen Qualitätssprung gegeben: Unsere ganze Lebensweise in den demokratischen Gesellschaften mit freiem Markt zelebriert den Klatsch als das Zeichen und Protokoll der Ausübung demokratischer Freiheiten.
1998 hat sich das mächtigste Volk der Erde monatelang mit nichts anderem beschäftigt als mit der Frage, was Bill Clinton und Monica Lewinsky alleine taten. Und dieses ganze eifrige Interesse an den außerehelichen Spielen des Präsidenten rechtfertigte sich nicht durch politische oder moralische Erwägungen – das Sexgate hat die Popularität Clintons bei den Amerikanern, die private Laster und öffentliche Tugenden inzwischen auseinanderhalten können, nicht geschmälert. Die Peep-Show mit dem Präsidenten war eindeutig um ihrer selbst willen ein so verführerisches Vergnügen; sie entstand aus einem psychischen Antrieb, der Einblick in die Privatsphäre haben will, einfach aus Lust an solchen Einblicken, ohne daß tugendwächterische oder pragmatische Hintergedanken eine Rolle spielten. Da sie mittlerweile keine Alibis zu ihrer Rechtfertigung mehr braucht, blüht die Industrie der Klatschgeschichten über die Großen der Welt ungehindert auf. Die Tragödie von Lady Diana, die zerschmettert zu Tode kam, weil sie vor denen floh, die sich von dieser Industrie dafür bezahlen ließen, daß sie ihr Privatleben öffentlich ausstellten, hat uns die Augen über das geöffnet, was unsere Augen in Wahrheit sehen möchten: in diesem Fall die körperliche Vereinigung der Prinzessin mit al-Fayed – oder mit dem Tod.
Im April 1998 hat die Familie Biundo – vier Personen, er Maurer, sie Hausfrau, und zwei Kinder – sich bereit erklärt, einen Monat lang in einem großen Kaufhaus in Zürich zu leben. Die Familie wohnte in einer Wohnung aus vier Zimmern und Badezimmer, deren Wände durchsichtig waren, so daß die Besucher sie immer beobachten konnten, auch im Schlafzimmer. Nur das Badezimmer war den Blicken des Publikums verborgen. Mit diesem "visuellen Klatsch" über die Familie eines Maurers, nicht über den Präsidenten der Republik, hat man versucht, das Recht der Öffentlichkeit, am ganz und gar privaten Leben jedes Bürgers zuschauend teilzunehmen, als ein banales, selbstverständliches Faktum hinzustellen.
Zum wachsenden Mangel an Zurückhaltung gegenüber der Sexualität gesellt sich ein vergleichbarer Mangel an Diskretion gegenüber dem Tod. Mit Befriedigung werden die Einschränkungen des Alters, der physische und geistige Verfall, das Koma und das Röcheln vor dem Sterben dargestellt. Es kommt heute häufig vor, daß der Witwer oder die Witwe oder die Waisen irgendeiner VIP ein Buch veröffentlichen, wo sie die letzten Monate oder Tage im Leben der Berühmtheit zur Schau stellen, ohne irgendein Detail der Entstellungen durch die Krankheit und des Todeskampfes zu verschweigen. Simone de Beauvoir unterrichtete uns genau über die letzten, wenig glanzvollen Jahre ihres Partners Sartre; der Ehemann der englischen Schriftstellerin und Philosophin Iris Murdoch, John Bayley, hat uns von der fortschreitenden Alzheimer- Krankheit seiner Frau erzählt. Alle scheinen auf den Spuren von
Antonio Ranieri zu wandeln, des Fürsten, der mit einem Buch berühmt wurde, in dem er bis hin zu den unrühmlichsten Einzelheiten von Leopardis letzten, in Neapel verbrachten Jahren erzählt. Eine Art ästhetischer Säkularisierung des Alters und des Todes.
Diese Apotheose des Voyeurismus unserer Gesellschaft darf man jedoch nur als einen Aspekt einer sehr viel umfassenderen ethisch-politischen Wende ansehen. Sie wird zufällig einmal nicht mit einem englischen, sondern mit einem russischen Begriff charakterisiert: glasnost. Alles muß durchscheinen, nichts darf verdeckt oder geheim bleiben. Die glasnost der Information scheint ein grundlegendes Erfordernis der Demokratie zu sein. Nichts wird versteckt, das Unwichtige ebensowenig wie das Wesentliche, die verkohlten Leichen nach den Fliegerangriffen der NATO auf Jugoslawien ebensowenig wie beim Geschlechtsakt verschlungene Körper.
Doch die Leidenschaft für das "Alles muß gezeigt werden" durchdringt heute auch die Ethik, die Ästhetik und die Wissenschaft unserer hochindustrialisierten Gesellschaften. Barthes bemerkte, das Zeitalter der Fotografie habe dazu geführt, daß "ein neuer gesellschaftlicher Wert entstanden sei, nämlich die Öffentlichkeit des Privaten: das Private wird als solches öffentlich konsumiert". Dieses Bedürfnis nach öffentlichem Konsum des Privaten hat inzwischen alle Ausdrucksformen ergriffen.
Es verpflichtet die darum "postmodern" genannten Romane und Filme zur größtmöglichen Transparenz ihrer Figuren. Filme lassen uns heute unmittelbar an allen Vorbereitungsphasen für den Koitus unserer Helden und an ihren Orgasmen teilnehmen, die Kamera folgt den Figuren auch bis in die Toilette und unter die Dusche. Ein weiblicher Filmstar wird heute zum Star, weil sie Millionen von Zuschauern im Antipanoptikum mindestens ihre nackten Brustwarzen gezeigt hat. Dieser Fetischismus des Details ist die Kehrseite des Siegeszuges des Virtuellen, fast so etwas wie eine Entschädigung für den wachsenden Mangel an direktem Kontakt mit dem anderen, an dessen Stelle die rein elektronischen Verbindungen getreten sind. Die Leute brauchen ein Stück des wirklichen Körpers des Helden oder der Heldin, eine wenigstens visuelle Reliquie, die sie besitzen und möglichst als Foto aus einer Illustrierten zu Hause in ihren Schubladen sorgsam verwahren können.
Die Puppe zerlegen
Es wäre vergeblich, diese voyeuristische glasnost, von der wir bereits gehört haben, daß sie auch bei den unzivilisiertesten Völkern vorkommt, zu verteufeln. Dieser Drang hat nämlich auch einen metaphysischen Kern: Es ist eine der Epiphanien, die sich in der Neugierde auf alles, was sich unseren Blicken entzieht, verkörpert. Die ästhetisch-politische Seite der Neugierde ist der Klatsch, während die wissenschaftliche Seite forschend immer tiefer in das Innere jedes Dings vordringt, seine holistische Einheit in die Atome, Zellen, Moleküle, Gene, Chromosomen oder Synapsen zerlegt, aus denen jedes Ding oder jedes Lebewesen besteht. Klatschmäuler und Wissenschaftler – und mehr noch die Psychoanalytiker – werden von einer vergleichbaren analytischen Neigung angetrieben. Auf der einen Seite erkunden die Elektroden und Sonden unserer Biologen die intimsten Neuronen unseres Bewußtseins oder den grundlegendsten genetischen Code unserer Existenz, auf der anderen betrachten wir die flatternden Unterhosen der Familien Clinton und Biundo.
Die Naturwissenschaften haben in unserem Jahrhundert eine atomistische Wende vollzogen: Alles, was eine Ganzheit bildet, wird in seine Bestandteile und ihre Wechselwirkungen zerlegt. Die Genchirurgie befaßt sich nur mit Details, winzigen Chromosomenbruchstücken, um größte Wirkungen auf geistig-seelischer Ebene zu erzielen. Handlungen in Verbindung mit der Liebe und dem Tod, Empfindungen wie Genuß und Angst, all diese Gefühlsströme, die dem respektvollen Blick des Humanisten als etwas Flüchtiges und Ganzheitliches erschienen, werden heute von der Pornographie, der Wissenschaft und der Technik als Größen analysiert, die als Summe ihrer Teile restlos in ihre einander überlagernden Einzelheiten aufgelöst werden können. Wir werden von der Revolution der Molekularbiologie angestachelt, die Puppe mit unseren Blicken zu zerlegen, wie manche Kinder es tun, um dort nach dem Geheimnis des Lebens zu suchen.
Pornographie und Klatschindustrie sind also die eigentümlichen ästhetischen Formen einer Gesellschaft, die inzwischen vom aufdringlichen Blick der Wissenschaft und Technik vollkommen beherrscht wird. Er löst jeden lebenden Organismus in die offen vor aller Augen liegende Kombination seiner innersten Teile auf. Ein quälender Drang, in das Dunkel der Intimität einzudringen, die Schattenregionen des Körpers und der Seele auszuleuchten, hat unsere Gesellschaft am Ende des Jahrtausends in einen hellsichtigen Fieberrausch versetzt.
Es bleibt noch zu klären, warum der Klatsch sehr lange als eine weibliche Schwäche angesehen wurde. Frauen klatschen, so hieß es, weil sie müßig sind, und der Müßiggang ist bekanntlich "aller Laster Anfang". In seinem Buch Die Schandsäule – wo er den Prozeß und die Verurteilung zweier armer Kerle rekonstruiert, die während der Mailänder Pest 1630 der Verbreitung der Krankheit beschuldigt wurden – läßt Manzoni das anklagende Gerücht über die beiden "Giftsalber" auf die Aussagen zweier Frauen zurückgehen. Die Frauen sind miserable Zeugen vor Gericht und verantwortungslose Zuträgerinnen von Verleumdungen.
Noch heute betonen manche Soziologen und Psychologen, Frauen seien bessere Resonanzkörper für Gerüchte mit sexuellem Hintergrund als Männer. Im Zusammenhang mit einem Gemunkel über Mädchenhandel, das 1969 die Stadt Orléans erschütterte, stellt Morin fest, daß Männer Gerüchten, die ohnehin wenig Glaubwürdigkeit haben, meistens sehr viel skeptischer gegenüberstehen als Frauen.
Nehmen wir einmal an, dieses Gerücht über Frauen als Verbreiterinnen von Gerüchten wäre begründet, was treibt sie dann dazu, mehr zu klatschen als Männer und den Großstadtlegenden mehr Glauben zu schenken? Eine verbreitete These besagt, das weibliche Schwatzen sei eine unmittelbare Folge davon, daß Frauen vom politischen Leben ausgeschlossen sind. So "holten die Frauen sich mit Hilfe des commérage jenes Recht (über das Leben und Treiben der Stadt zu sprechen) zurück, das die Männer ihnen genommen hatten; und dann sprachen sie nicht nur über die Dinge in der Stadt, sondern auch über deren versteckte Seiten. Vom öffentlichen Leben ausgeschlossen und auf die Privatsphäre beschränkt, machten die Klatschbasen das Private öffentlich." Auch heute drücken sich Frauen in dem Maße, in dem sie teilweise immer noch vom politischen Leben ferngehalten werden, durch den Klatsch aus. Die Männer in Orléans konnten daher, weil sie mit den Ereignissen gesellschaftlichen Leben vertrauter waren, die mangelnde Glaubwürdigkeit des Geredes besser einschätzen.
Obwohl sie überzeugend sind, erklären diese Analysen doch noch nicht, warum ausgerechnet die Patinnen, und nicht Mütter, Schwestern, Tanten oder Cousinen, die Urheberinnen von Gerüchten sind. In der christlichen Tradition ist die Patin – wie der Pate – ein Bindeglied zwischen der vollkommen privaten Welt der Familie und der öffentlichen, im weitesten Sinne "politischen" Welt der Stadt. Bei der Taufe – die den ersten Akt der Sozialisierung der Frucht des weiblichen Schoßes darstellte – stehen sich auf der einen Seite die Eltern, die natürlichen Erzeuger des Kindes, und auf der anderen der Priester, der das neue biologische Erzeugnis mit der transzendenten Welt verbindet, gegenüber. Dazwischen stehen der Pate oder die Patin, die die Kenntnisnahme dieses Aktes durch die Gemeinschaft der Bürger repräsentieren: Ein neues Mitglied wird in ihren Kreis aufgenommen. Pate und Patin vermitteln also zwischen dem rein biologischen Universum der Geburt eines Lebewesens einerseits und dem himmlischen Universum andererseits. Die Patinnen nun, die "vom öffentlichen Leben ausgeschlossen und auf die Privatsphäre beschränkt waren, machten (...) das Private öffentlich": Doch indem sie das taten, setzten sie ihre soziologische Funktion als Patinnen fort, weil sie Ereignisse vergesellschafteten, die andernfalls in der Privatsphäre verschlossen geblieben wären. In der traditionellen Gesellschaft schaut der Mann auf das öffentliche, das politische Leben, während die Frau auf die häuslichen Innenräume schaut, die den Blicken entzogen sind: Die Patin zieht die Welt des heimischen Herdes aus dem Verborgenen hervor und bringt sie öffentlich in Umlauf.
Die klatschenden Patinnen, Gestalten zwischen den biologischen Müttern und den erhabenen Instanzen der himmlischen und der politischen Stadt, weben sowohl an der fleischlichen Ordnung der Leidenschaften und Körper als auch an der Ordnung der gesellschaftlichen Institutionen. Als öffentliche Verkünderinnen privatester Inhalte haben die Frauen letztendlich die Aufgabe, den tröstlichen Vorrang des Sozialen zu bestätigen: Sie lassen uns in den Reigen eintreten, auch wenn wir uns in unsere Alkoven flüchten. Damit erleichtern sie uns die zweifache, entsetzliche Konfrontation mit dem stummen Fleisch und dem hochmütigen Schweigen der Götter.
(...)