LI 78, Herbst 2007
Mein Nachbar, das Ungeheuer
Elementardaten
Genre: Briefe und Kommentare
Übersetzung: Aus dem Italienischen von Wolfgang Sützl
Textauszug
Am 11. Dezember 2006 schreiten Rosa Bazzi (Haushaltsgehilfin), auch Rosi genannt, und ihr Ehemann Olindo Romano (Straßenfeger) zur Tat. Seit längerem tragen sie sich mit dem Gedanken, Raffaella Castagna, die Mittdreißigerin aus der Wohnung über ihnen, umzubringen. Sie wollen dafür die Abwesenheit Azouz Marzouks ausnutzen, des Ehemanns von Raffaella, der für ein paar Tage in sein Herkunftsland Tunesien gereist ist. Gegen acht am Abend streifen sie sich Gummihandschuhe über, öffnen die Türe der Nachbarin mit einem Schlüssel des früheren Bewohners und stellen fest, daß sich in der Wohnung auch die Mutter Raffaellas befindet. Olindo tötet sowohl Mutter als auch Tochter. Der kleine Youssef, der zweijährige Sohn Raffaellas, heult verzweifelt, und Rosi, die ihrem Mann folgt, zieht ihn an den Haaren hoch und schneidet ihm die Kehle durch. Das Kind verblutet nach einem halbstündigen Todeskampf. Rosi mochte den Kleinen nicht. „Dieses Kind“, hatte sie immer gesagt, „kann doch nur brüllen.“ Danach legen die beiden Feuer an verschiedene Einrichtungsgegenstände. Ein Nachbarspaar, die fünfzigjährige Valeria Cherubini und ihr sechzigjähriger Mann Mario Frigerio, bemerken den Rauch, gehen zu Raffaellas Tür … Olindo tötet Frau Cherubini und sticht Herrn Frigerio in den Hals. Dieser stirbt jedoch nicht. Nach einigen Tagen Bewußtlosigkeit erholt er sich und zeigt den Angreifer an, der in der Zwischenzeit bereits von den Ermittlern aufgespürt wurde.
Nach den Morden wechseln die beiden ihre blutbesudelten Kleider und fahren mit dem Auto zu McDonald’s im 15 Kilometer entfernten Como, essen dort Burger und nehmen – für Alibizwecke – die Rechnung mit. Danach kehren sie zufrieden nach Hause zurück. „Endlich Ruhe!“ rufen sie erleichtert. „Der Blitz hatte eingeschlagen, das Holz war verbrannt und die Sonne für immer erloschen.“ (Paul Éluard) All dies ereignet sich im Dezember 2006 in einem ganz gewöhnlichen Wohnhaus in der Via Diaz in Erba, einer wohlhabenden, unauffälligen lombardischen Kleinstadt zwischen Como und Lecco, arbeitsam und katholisch.
Ausgerechnet aufgrund einer Klage der Nachbarin Raffaella hatte das Ehepaar zwei Tage später vor Gericht zu erscheinen. Seit längerem hatten die Romanos die Familie aus dem Stockwerk über ihnen beschuldigt, „zu viel Lärm zu machen“. Manchmal hatten sich Raffaella und Azouz gestritten. Raffaellas Vater hatte veranlaßt, daß ein Teppichboden verlegt wurde, der den Schall zwischen der Wohnung der Tochter und jener dieser überempfindlichen Nachbarn dämpfen sollte – ohne Erfolg. Olindo hatte eines Tages im Hof Raffaella brutal angegangen, was ihm eine Anzeige und eine Entschädigungsforderung von 5 000 Euro einbrachte. Eine ungeheure Summe! Rosi gab zu Protokoll: „Wir waren verbittert, denn schließlich waren wir diejenigen, die überfallen worden waren, und dann endeten wir auf der Anklagebank.“ Außerdem, so später die Klage Rosis, „die Castagna machte sich über uns lustig und lachte uns aus. Sie sagte uns, sie hätte uns Geld gestohlen und dann weggeworfen, weil sie nicht wußte, was sie damit hätte anfangen sollen.“ Der Vater Raffaellas, Carlo Castagna, ist ein bekannter Unternehmer, Besitzer einer Kette trendiger Möbelhäuser, ein bekannter Philantrop; die Castagnas sind also eine der renommiertesten Familien Erbas. Die Hausgehilfin und der Straßenkehrer fühlen sich von der Erbtochter mit abgeschlossenem Psychologiestudium verfolgt. Es wäre das beste, sie gleich alle umzubringen – auch Carlo Castagna, den „Schlimmsten von allen“ – auch er hätte umgebracht werden sollen.
Dieses Blutbad hinterläßt in der Öffentlichkeit einen starken Eindruck. Vor allem die Ermordung des kleinen Youssef verbreitet Entsetzen. Rosi und Olindo (43 beziehungsweise 45 Jahre alt) wirken indessen nach außen nicht wie Ungeheuer: zwei rundliche, recht durchschnittliche Gesichter, sprechende Beispiele für die untere Gesellschaftsschicht, der die beiden entstammen, und die überall zu finden sind. „Ruhige, anständige Leute waren die Romanos“, sagen die Nachbarn ungläubig. Vor allem Olindo, er gilt als gutmütiger Kerl, dem seine aus der Brianza stammende Frau, die bei den Nachbarn wegen ihrer häufigen Zankereien mit Hausbewohnern als „hysterisch“ verrufen ist, zeigt, wo es lang geht. Er hat so gar nichts von der grausigen Faszination, die Anthony Hopkins in seiner Rolle als Hannibal Lecter verströmt. Man fragt sich, was aus den beiden unauffälligen, etwas bläßlichen Hausbewohnern gnadenlose Schlächter machte. Und man erkundigt sich wie üblich bei klinischen Psychologen, ob etwa eine Geisteskrankheit vorliege.
Leider ist die Psychiatrie heute vom DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) dominiert – das Diagnostikhandbuch, mit dem Generationen von Psychiatern ausgebildet worden sind. Dieses Handbuch interessiert sich nur für Symptome, für explizite Symptome, und blendet psychische Strukturen aus: Für das DSM hat die Pathologie nichts mit dem „Normalzustand“ zu tun. Entweder liegt eine „geistige Störung“ vor, weil die Symptome a, b, c und d für mindestens sechs Monate gegeben sind, oder eben nicht. Freud dagegen interpretierte die zu seiner Zeit bekannten Pathologien in einer kontinuierlichen Dynamik mit der psychischen Struktur der sogenannten normalen Leute, wonach man zum Beispiel einen „obsessiven Charakter“ haben konnte, ohne eine klinisch erfaßbare obsessive Symptomatik im psychopathologischen Sinne aufzuweisen.
Was aber hält uns von der Vorstellung ab, die Ausführung eines grausamen Verbrechens wie jenes von Erba aus in unseren Augen so nichtigen Motiven sei in sich selbst ein Akt des Wahnsinns? Der Wahnsinn wäre das, was bestimmte extreme Handlungen hervorbringt – kommt in diesen extremen Handlungen etwa kein Wahnsinn zum Ausdruck? Franco Basaglia forderte die Journalisten einst auf, Schlagzeilen wie „Geistesgesunder ermordet Nachbarn“ zu schreiben, doch wir könnten uns auch dafür entscheiden, daß die Ermordung von Nachbarn ipso facto den Mörder der Kategorie „Geisteskranker“ zuweist. Leider hat die ganze bisweilen recht subtile antipsychiatrische Kritik der sechziger und siebziger Jahre (Laing, Berke, Cooper, Szasz und so weiter) keinerlei Spuren hinterlassen: Auch heute denkt man noch, eine Geisteskrankheit sei etwas objektiv Existentes, außerhalb der Kriterien und Paradigmen, anhand derer wir zwischen „Verrückten“ und „Gesunden“ unterscheiden. Es geht also nicht um die Frage, ob das Ehepaar Romano nun verrückt ist oder nicht, sondern darum, in welcher Weise ihre Tat – die so sehr vom Mief des Banalen durchdrungen ist – einen in den Fugen unserer Sozialbeziehungen verborgenen Wahnsinn darstellt.
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