LI 45, Sommer 1999
Sehnsucht nach Differenz
Globalisierungsprozesse und das Bedürfnis nach UnterschiedenElementardaten
Genre: Essay, Reflexion
Übersetzung: Aus dem Englischen von Meino Büning
Textauszug
Es ist durchaus bekannt, daß die moderne Wahrheit – das ist natürlich die wissenschaftliche Wahrheit – englisch spricht. 62 Prozent der Nobelpreisträger in den Naturwissenschaften – Physik, Chemie, Medizin – kommen entweder aus den Vereinigten Staaten oder arbeiteten dort. 14 Prozent sind Briten. Die meisten angesehenen wissenschaftlichen Zeitschriften, die im Zitatenindex für Periodica überhaupt eine Rolle spielen, erscheinen in englischer Sprache. Die Vorherrschaft des Englischen in den Wissenschaften, in der Technik und Ökonomie, in internationalen Institutionen und der Geschäftswelt wird nirgends in Frage gestellt. Auch ich halte diesen Vortrag auf englisch.
Was ich als Nobelpreis-Ideologie bezeichnen möchte, sanktioniert zum einen ganz offiziell die Vorherrschaft der anglo-amerikanischen Wissenschaft; die Nobelpreise auf den Gebieten Literatur und Frieden andererseits werden demokratischer unter verschiedenen Ländern aufgeteilt. Wer Schönes schreibt und für das Gute wirkt (der Friedensnobelpreis ist der höchste ethisch-politische Preis), muß nicht notwendigerweise aus der englischsprechenden Welt kommen, er kann auch Asiate oder Lateinamerikaner sein. Die Moral daraus: Heutzutage glaubt ein ernsthafter Mensch – und das ist das Mitglied einer Nobelpreisjury immer –, die Wahrheit spreche englisch, während das Schöne oder das Gute gleichmäßiger über mehrere Sprachen und Kulturen verteilt sein könnten. Daraus ergibt sich das Nobel-Paradoxon: Einerseits gedeiht der objektive Universalismus der Wissenschaft in einem ausgewählten Streifen der Welt (von San Francisco bis London), während zum anderen die ethischen und ästhetischen Partikularismen allgemeiner verteilt sind. Auf der einen Seite sehen wir das enge Heimatland der Universalität, in dem der furor sciendi herrscht, auf der anderen die ethnische Verbreitung des Schönen und Guten. Viele klagen über die Vorherrschaft der harten Wahrheit über die sanfteren Dimensionen des Schönen und Guten. Der Philosoph Michel Serres sagt: "Wir haben viel zu viel Wahrheit! Heute bräuchten wir viel mehr Schönheit." Dies ließe sich auch so ausdrücken, daß wir zuviel anglo-amerikanische Wissenschaft besitzen und nicht genug lokale Schönheit.
Aber diese Nobelpreisideologie wird von den Fakten widerlegt: Anglo-amerikanische Modelle dominieren auch im ethischen und ästhetischen Bereich. Heutzutage verkaufen die USA auch – und ohne dabei noch auf nennenswerte Konkurrenz zu stoßen – die einzige Schönheit, die in aller Welt die Massen zu verführen vermag: zur Verwirrung der lokalen, gewöhnlich kulturell "ethnischen" oder nationalistischen Intellektuellen. (Mir scheint, als seien die Intellektuellen aus der sogenannten Dritten Welt sämtlich Gefolgsleute von Gramscis "national-folkloristischer Kultur".) Und die USA und Großbritannien fördern das einzige politisch Gute, das einen Hauch von Anstand aufweist. Jedes Land und jede Kultur hat eigene Bestseller und einen hausgemachten Ruhm, aber die einzigen aller Welt bekannten Ruhmestaten sind gewöhnlich - mit wenigen Ausnahmen - anglo-amerikanisch. Wir alle wissen, daß die Globalisierung, dieser abgenutzte Begriff, heutzutage nur noch ein Euphemismus ist für die Amerikanisierung des Planeten. Nach einer neueren Untersuchung kennen italienische Kinder nicht nur Schneeweißchen und Aschenbrödel nur aus der Disney-Fassung, sondern auch unseren eigenen Pinocchio, den sie nicht auf den Seiten Carlo Collodis entdecken. In unserer Welt rannte jeder ins Kino, um Titanic zu sehen, alle ergeben sich dem Kult amerikanischer Gottheiten wie Naomi Campbell, Madonna oder Di Caprio, und auf jedem Kontinent hören die Menschen neben lokalen Rhythmen anglo-amerikanische Musik. Ein mexikanischer Freund äußerte nach einer Europa-Reise seine Enttäuschung: "Ich dachte, ihr Europäer kümmert euch vor allem um andere europäische Länder, aber ich habe gemerkt, daß ihr genauso seid wie wir Mexikaner - ihr beschäftigt euch in erster Linie mit den Vereinigten Staaten! Ihr Italiener habt keine Ahnung von dem, was in, sagen wir, Portugal, Dänemark oder Österreich vorgeht, aber über Chelsea Clinton, Tyson oder Giuliani wißt ihr so gut wie alles."
Vor dreißig Jahren bedeutete die Reise eines Italieners nach England oder Rußland, daß er in eine andere Welt kam; heute fühlt er sich in London oder Moskau durchaus zu Hause. Weil England, Rußland und Italien sich inzwischen alle gleichermaßen amerikanisiert haben. Dies ist der einzige Grund, warum die Länder der europäischen Währungsunion einander heute kulturell näher sind als vor dreißig Jahren.
Einige unter Ihnen werden jetzt knurren: Was sollen all diese längst bekannten Banalitäten? Viele nehmen, wenn auch mit säuerlich zusammengepreßten Lippen, diese Anglo-Amerikanisierung des Planeten zur Kenntnis, aber die tieferen Konsequenzen nehmen sie nicht vollständig wahr. Und zwar gerade, weil sie so offensichtlich sind. Vor kurzem argumentierte Massimo Cacciari, einer der bekanntesten italienischen Philosophen, bekannt aber auch als einflußreicher Politiker und Bürgermeister von Venedig, das amerikanische Imperium verfüge über keinerlei Legitimation, weil es keine unbestrittene moralische und kulturelle Autorität besitze. Ich wies ihn darauf hin, daß die Amerikaner selbst ihre Hegemonie nicht so sehr als politisch, militärisch oder ökonomisch begreifen, sondern vor allem als kulturell. "Ja, die USA als Imperium liefern viel Unterhaltung!" rief Cacciari aus. Für ihn besaß der Vorrang amerikanischer Modelle in der Politik, der Wissenschaft und dem Lebensstil keinerlei Bedeutung! Auch er teilt eine unter europäischen Intellektuellen weit verbreitete Überzeugung: daß Amerika die Massenkultur beherrsche, während die Hochkultur – in unserer Tradition vor allem humanistisch, philosophisch, historisch und politisch – noch immer von uns Europäern dominiert werde, unter Einschluß der Briten. Disney führt fast alle Kinder in die Märchen ein, aber Proust, Wittgenstein, Kundera, Fellini oder Stockhausen könnten nur im alten Europa geboren sein. Die manipulierten Massen und die verlorene Jugend der Welt lassen sich von Hollywood, Rock und MacWorld anziehen wie Nägel von einem Magneten, aber Europas intellektueller und kreativer Adel spricht Deutsch, Französisch oder Italienisch. Lassen wir den Amerikanern den Vorrang bei den geistig Armen, aber gewährt uns Europäern die Herrschaft über den Geist. Nun könnte all dies noch vor zwanzig oder dreißig Jahren gestimmt haben. Aber heute übernehmen Amerikaner auch in solchen Bereichen - wie Philosophie und Geisteswissenschaften – die Führung, in denen sich traditionell die Europäer auszeichneten. Zum Beispiel ist mir aufgefallen, daß viele der klügsten italienischen Philosophie-Studenten, ausgebildet natürlich an klassischen griechischen und deutschen Texten, vor allem mit amerikanischen Autoren liebäugeln – Richard Rorty vor allem. Dies ist der gleiche Prozeß, der auch in der Antike stattfand, als Rom Griechenland eroberte. Zunächst imitierten die Römer die Griechen, aber später begannen sie ihre eigene große Kultur zu entwickeln: Cicero, Vergil, Horaz, Lukrez, Terenz und Augustinus schrieben alle "vulgäres" Latein, nicht edles Griechisch. Auch die humanistische Kultur wird im nächsten Jahrhundert mehr und mehr englisch sprechen. Und unter jenen italienischen Intellektuellen, die wütende, offen rassistische Anklagen gegen die Amerikaner erheben, für die "alles einen Preis besitzt und nichts einen Wert", nehmen nur sehr wenige diese offensichtliche Entwicklung überhaupt zur Kenntnis.
Aber wie steht es mit Erfolgen, die nicht anglo-amerikanischen Ursprungs sind? Einige Lateinamerikaner werden Borges und García Márquez ins Feld führen, die Chinesen werden von den Filmen Yi-mous und Gong Lis sprechen, die Japaner von Kurosawa, karaoke, tamagotchi und sushi, die Italiener von ihrer Mode und ihrem Design. Aber diese Künstler, Schriftsteller oder Stilisten werden gewöhnlich gerade deshalb berühmt, weil sie von den Amerikanern oder Briten sozusagen adoptiert und folgerichtig in die anglo-amerikanische Publizitäts-Spirale hineingezogen wurden. Die bekanntesten lebenden Italiener auf der Welt - Eco, Pavarotti, Armani, Zeffirelli, Benigni, Piano, Fo und ein paar andere - sind vor allem in den USA berühmt.
Einige meiner französischen Freunde, bekannte Intellektuelle im eigenen Land, beklagen sich, sie würden in Italien vollständig ignoriert - worauf ich antworte: "Konzentriert euch darauf, in den USA bekannt zu werden; sobald euch die Amerikaner mögen, werden sie euch nach Italien exportieren!"
Mit Interesse habe ich verfolgt, wie die Malerin Frida Kahlo bekannt wurde. Heute sind ihre Werke in aller Welt bekannt, aber das haben nicht die Mexikaner in die Wege geleitet; es verdankt sich der New Yorker Ausstellung des Metropolitan Museum über mexikanische Kunst aus dem Jahre 1990, woraufhin Historiker, Feministinnen, Marxisten, Kulturstudenten und Dekonstruktivisten, offensichtlich alles Amerikaner, über sie herfielen. Kahlo war sicherlich eine Gringo-Feindin. Viele europäische Intellkktuelle vom Kontinent, verarmter Adel voller Verachtung für die "amerikanische Rasse", wollen einfach nicht wahrhaben, daß der Antiamerikanismus weitgehend eine amerikanische Erfindung war. Das theoretische Paradigma des Antiamerikanismus erfand im Zweiten Weltkrieg der Amerikaner Ezra Pound in seinen italienischen Radio-Programmen für Mussolini. Antiamerikaner wie Marcuse, Chomsky oder Lyotard litten tief, weil sie ihren Ruhm gerade dem anglo-amerikanischen Kultursystem verdankten, das sie in Fetzen gerissen hatten. Marcuse - eher noch als seine philosophisch solideren Frankfurter Kollegen Adorno und Horkheimer - wurde in den sechziger Jahren zur Kultfigur, weil er in den USA lebte und englisch schrieb.
Was also bleibt von unseren kulturellen Traditionen in einer Welt, die von anglo-amerikanischer Wahrheit, Schönheit, Güte beherrscht wird?
Kurz vor seiner Ermordung 1975 klagte Pier Paolo Pasolini – in den sehr "bourgeoisen Zeitungen", die er verachtete – über die unwiderstehliche omologazione (Homologisierung) der Welt und insbesondere Italiens. Omologazione – ein fast unübersetzbarer und damit nichtomologibler Begriff – war für die Italiener ein schwerer Schock. Pasolini, als guter populär-nationalistischer Gramsci-Gefolgsmann, empfand voller Ekel den Verlust all der besonderen kulturellen, geographischen, ethnischen und klassenspezifischen Physiognomien; selbst die Gesichter der Menschen wurden vollständig homogen. Zu jener Zeit war die Amerikanisierung des Planeten noch nicht so weit fortgeschritten wie heute, und dennoch war Pasolini bereits aufgefallen, daß all diese Unterschiede sich in eine einzige kulturelle Wassersuppe auflösten, die von den Medien hochgekocht wurde. Pasolini war immer ein Feind der Armut gewesen, aber letzten Endes empfand er sie als schön; er interpretierte den Niedergang der Armut im italienischen Stil als Niedergang (auch männlicher) Schönheit und Sinnlichkeit.
Im Effekt wird selbst unser kräftiges Lob der Globalisierung wettgemacht durch den begleitenden und verstörenden Verlust der Unterschiede. Wir haben eine populäre, romantische Philosophie geerbt, die dazu neigt, kulturelle Differenzen und Besonderheiten als Reichtum der Gattung zu schützen. Man spricht häufig von der exception francaise – gewöhnlich um sich darüber lustig zu machen. Aber selbst in Italien haben wir in den letzten Jahrzehnten versucht, nnsere italienischen Besonderheiten zu wahren: Wir ließen unsere historischen Zentren unangetastet, wir haben unsere "Gourmet-Ressourcen" ausgeschöpft, wir haben dem internationalen architektonischen Funktionalismus widerstanden, indem wir unsere Renaissance-Anflüge konservierten, wir förderten lokale Dialekte und uralte Feste wie den Palio in Siena oder den Sarracino in Arezzo. Ungläubige und Marxisten, denen bis vor wenigen Jahrzehnten der Katholizismus ein Greuel war, betrachten ihn nun mit zunehmender Sympathie als eine lokale Tradition, auf einer Ebene etwa mit der Zubereitung von Tagliatelle oder dem Bau von Gondeln. Ein großer Teil der italienischen Linken schätzt Papst Johannes Paul II. aus fundamental ästhetischen Gründen, weil er alte Riten, Feste und mittelalterliche Überzeugungen hochhält.
Dieses konservative Bedürfnis findet sich nicht nur in Italien, und es erklärt den Aufschwung des Tourismus. Was könnte Millionen Menschen dazu bewegen, nach Sri Lanka oder Mauritius zu fliegen, wenn nicht die Hoffnung, einzigartige und lokale Besonderheiten zu erleben? Der exotische Massentourismus, auch der Sextourismus, ist nur der sichtbarste Aspekt dieses neuen Marktes der Unterschiede, auf dem Differenzen verkauft werden fast wie ein kostbares Gut, insoweit sie immer seltener werden. Dieser Markt bringt jedoch perverse Effekte hervor: Lokale, von Touristenwellen überschwemmte Kulturen neigen dazu, sich selbst zu "homologisieren". Hilton Hotels, Jacuzzis und amerikanische Filme sind allgegenwärtig; Kellner und kleine Ladeninhaber sprechen englisch und nehmen Dollars. Der Tourismus, als ein Ausdruck des modernen Kults des Unterschieds, neigt unausweichlich dazu, eben jene Differenzen umzubringen, die unseren wachsenden Durst nach dem Andersartigen stillen würden.
Dies erklärt auch, warum wir von Wim Wenders Filmen beeindruckt waren: In Städten, die ursprünglich gleich wirken, in denen man eine homogene Kälte atmet, enthüllen sich feine, verstohlene Unterschiede, die sie besonders machen, Unterschiede, die inzwischen das einzige sind, was wir lieben können. Dieses Kino illustriert eine kosmopolitische Welt, in der nur noch kleine Unterschiede von Bedeutung sind – ein Kino des Reisens als Gegensatz zum Tourismus (oder auch der Beginn einer neuen Art Tourismus). Die Tourismusindustrie verkauft auffällige Postkartenunterschiede, während ein "wendersscher" Reisender die kleinen Unterschiede wertschätzt, die nur der Blick von der Seite zu erfassen vermag.
Aber andererseits liegt das Drama der globalen Amerikanisierung in der Tatsache daß diese touristischen Unterschiede die einzigen sind, die wir wirklich zu tolerieren bereit sind. Das heißt: Unter den herrschenden Universalismen - der wissenschaftlichen Wahrheit und der Mehrheitsdemokratie mehrerer Parteien - werden wir nur einen einzigen Typ des Pluralismus tolerieren: ästhetischen Pluralismus, oberflächlich verstanden. Und was bleibt denn auch von der Ästhetik außer Oberflächlichkeit, sobald man sie von Ethik, Politik und Wahrheit sondert? Kulturelle Differenzen wirken nur dann tolerierbar, wenn sie sich auf Unterschiede reduzieren lassen, die für Touristen attraktiv sind: Besonderheiten architektonischen Dekors, Redeweisen, Kleidung, Trink- oder Flirtsitten. Was den Rest angeht, drängen wir die verschiedenen Länder der Welt lieber in eine offene Gesellschaft à la Popper, die die Kristalle geschlossener Gesellschaften in einer kosmopolitischen Suppe schmilzt; wir empfehlen allen eine Marktwirtschaft und die methodologischen Normen der anglo-amerikanisch dominierten Wissenschaft.
Stimmt es, daß dieses Projekt auf die drei Gründerväter des deutschen Idealismus zurückgeht - Hegel, Hölderlin und Schelling, der in das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus hineinschrieb, das Reich der Freiheit lasse sich erreichen über eine empfindsame Religion, die charakterisiert sei durch den "Monotheismus von Vernunft und Herz, Polytheismus von Phantasie und Kunst"? Was heutzutage selbstverständlich ist, könnte nicht besser gesagt sein: Die "hundert Blumen" der Phantasie und der Dekoration dürfen blühen, solange der Monotheismus des euro-amerikanischen Rationalismus und Ethos am Ruder bleibt.
Wenn unterschiedliche Kulturen ein Verhalten zeigen oder ein Wissen in Anspruch nehmen, das unseren Kriterien nicht entspricht, dann erwecken sie unseren Unmut. Britische Gouverneure in Indien entrüsteten sich über die lokale Sitte der Witwenverbrennung und verboten sie. Sie verhielten sich als gute Imperialisten. Heute sind wir alle gute Imperialisten: Wir entrüsten uns über die Klitorektomie an afrikanischen Mädchen, über Stammesmassaker und sogar über den Stierkampf. Und so erhebt sich, in all ihrer Wut, unsere Intoleranz gegenüber dem Anderen – und zwar zu Recht, weil der Westen immer im Recht ist. Nehmen wir die Rushdie-Affäre oder die hitzigen Kontroversen in Frankreich und Deutschland, ob muslimische Schulmädchen ein Kopftuch tragen dürfen.
Jedes Mal, wenn ich vom Todesurteil der Schiiten gegen Salman Rushdie lese, wegen eines Buches, fliegt ihm mein Herz entgegen. Als Kind der Aufklärung sehe ich in Rushdie ein Offer der säkularen Werte der freien Gewissensentscheidung und der freien Presse. Aber nach dem ersten Schwall tugendhafter Leidenschaft, sobald ich mir wieder kaltes Denken zugestehe – und sollte ein Philosoph sich nicht gerade durch seine fast unmenschliche Fähigkeit auszeichnen, ein kühles Herz zu bewahren? – sehe ich die Dinge etwas komplexer.
Im Grunde bin ich nicht nur ein Kind Voltaires, Kants und Tocquevilles; ich bin auch das Kind Montaignes, Malinowskis, Kuhns und Foucaults. Diese zweite Abstammungslinie konzentriert sich auf die Differenz, vor allem die kulturelle Differenz, die im Menschen nicht nur einfach zu tolerieren sei, sondern als menschliches Erbteil zu werten sei, das es zu hüten gälte. Und der Schleier der Frauen im Islam bildet für uns liberale Christen eine bemerkenswerte Differenz. Das westliche politische Denken drehte sich seit Locke ebenso um Toleranz wie um das Tolerieren alles Andersartigen. Aber zugleich drängt uns ein anderes Denken, das aus der Romantik stammt (und jener romantischen "Wissenschaft", die in Wahrheit kulturelle Anthropologie ist), uns vom anderen gerade dort faszinieren zu lassen, wo er anders ist. Es läßt uns begeistert im Anderen aufgehen - und sei es gar in Montaignes Kannibalen oder Musils Serienmörder Moosbrugger oder Foucaults Pierre Riviere, der seinen Vater und seine Familie umbrachte – die Aktualisierung des menschlichen Potentials, die verblüffende Realisierung eines Traums oder Alptraums möglicher Menschlichkeit. Somit bekundet die postromantische Vorstellung, die heutzutage die euro-amerikanische Welt dominiert, es sei entscheidend, die Diversität der Kulturen in einer von Uniformität bedrohten Welt zu bewahren.
Diese Überzeugung leitet sich schließlich nicht nur von der romantischen Wiederbelebung der Ursprünge, Traditionen und Aberglauben ab, sondern auch vom "wissenschaftlichen Liberalismus". Und ganz besonders von zwei Engländern: Darwin und Mill. Laut der neuen Darwinschen Bibel erfolgt die Evolution der Spezies durch die beständige und ununterbrochene Hervorbringung von Mutationen und Neukombinationen. Die erfolgreichen Mutanten sind nur wenige in einer großen Masse von Variationen, die alle dem reinen Zufall entspringen. Die Laune der Natur vervielfältigt die Mutanten, so daß die Natur die optimalen Replikanten auswählen kann. Entsprechend war man, von Mill bis Feyerabend, immer überzeugt, daß auch der wissenschaftliche Fortschritt gesichert werde, indem man jeder nur möglichen, noch so exzentrischen Idee darwinschen Raum zugestehe. Pluralistische Vielfalt - und somit Konkurrenz – ist die Voraussetzung für die Qualität des Fortschritts im biologischen Leben, wie im wissenschaftlichen und künstlerische Leben auch.
Vor allem die Anglo-Amerikaner selbst überzeugten uns – gegen die totalisierenden und totalitären Versuchungen eines großen Teils des euro-kontinentalen Denkens – von der Notwendigkeit einer Vielzahl von Lebensformen. Sie ließen die romantische und historizistische Tradition mit der Aufklärung und positivistischen Tradition zusammenfließen in der Schlußfolgerung, kultureller Pluralismus sei eine entscheidende Voraussetzung für den Fortschritt, so wie politischer Pluralismus die Demokratien voranschreiten läßt. Wir identifizieren heute eben das Konzept der Demokratie, "Die Macht dem Volke", mit dem Pluralismus konkurrierender politischer Parteien. Monokulturen, die Hegemonie einer einzigen Theorie und Einparteien-Systeme werden sämtlich als dem Fortschritt hinderlich abgelehnt. Das Paradox liegt darin, daß diese Kultur, die den Pluralismus feiert, zur dominierenden Monokultur des Planeten wird. Die Kultur der Konkurrenz konkurriert nicht mehr, weil die Opponenten fehlen. Die pluralistische Kultur kann nicht tolerieren, was nicht pluralistisch ist.
Werfen wir einen genaueren Blick auf dieses teuflische Dilemma, das unserer reichen, dominierenden, so gründlich amerikanisierten Zivilisation ein solch schlechtes Gewissen beschert. In Italien wird diese Siegerkombination aus wissenschaftlichem Rationalismus, demokratischem Liberalismus, Apologie der Menschenrechte und Marktwirtschaft von den wenigen, die sich ihr entgegenzustellen wagen, schlicht als SLT bezeichnet: Sole Liberal Thought – das einzig liberale Denken. SLT behauptet, es wolle die kulturelle Pluralität verteidigen, läßt jedoch nur eine ästhetische Vielfalt der Kulturen zu. Wir Westler sind tief im Inneren überzeugt, daß es für alle Menschen nur ein einziges Arrangement akzeptabler Moral und Politik gibt: universale Menschenrechte, die Erbschaft des Christentums und die liberale Demokratie. Und diese Überzeugung kommt jedes Mal ins Spiel, wenn wir es mit einem Fall Rushdie oder verschleierten muslimischen Mädchen zu tun bekommen.
Das Modell der "Toleranz für alle Glaubensrichtungen in einem weltlichen Staat" wollen wir überall vorherrschen sehen, selbst in Vietnam oder Afghanistan. Es ist eine natürliche Folge britischer Philosophie, vor allem von Hume: Fakten und Werte, Vernunft und Glaube, Wissenschaft und Gefühl, somit Staat und Kirche sind Paarungen heterogener Gegensätze. Fakten, Vernunft, Wissenschaft und Staat können nicht mit Werten, Glaube, Gefühl und Kirche in Konflikt geraten und umgekehrt. Die öffentliche, die politische Sphäre wird geregelt durch das rechnerische Denken des demokratischen Staates und den schicksalhaften Ausgleich vieler utilitaristischer Selbstsüchtigkeiten. Religionen und Riten – und all unsere intimeren Werte, die Bedeutung, die wir unserem Leben geben - gehören andererseits der privaten Sphäre an, dem emotionalen Erbteil der Traditionen unserer Vorfahren und idiosynkratischen Exzentrizitäten. Großbritannien, Ursprungsland der unsichtbaren Hand (des Glaubens, daß öffentliche Tugend sich aus der Interaktion privater Egozentrismen ergebe), widmet sich ebenso dem nationalen Kult des Exzentrikers, dessen Prototyp Oscar Wilde war. Aber was bleibt vom religiösen Glauben, sobald er sich auf eine private Empfindung reduziert? Welcher Sinn liegt in einer Hingabe an tiefe Werte, wenn sie auf unseren Herd beschränkt sind? Kann überhaupt jemand privat Kommunist oder Muslim oder Mormone oder Umweltschützer sein? Der Anblick unzähliger Muslime, die sich in Richtung Mekka verbeugen und Allah Akbar rufen, stört uns nicht - er ist farbig und anregend; allerdings stört uns, wenn ein Muslim seiner Tochter den Schleier oder die Infibulation aufzwingt. Wir haben nichts gegen die andere Religion, so lange sie irrelevante Folklore oder solitäre Phantasie bleibt.
Das gleiche passiert mit marginalem Wissen, einem anderen als dem, das unsere wissenschaftlichen Methoden und Verfahren anerkennt. Der Glaube an Astrologie oder Thaumaturgie wird toleriert, aber alle Toleranz hat ein Ende, wenn Eltern wie die der Addams-Familie darauf bestehen, ihr krankes Kind von einem Astrologen oder Wundertäter behandeln zu lassen. Wir behandeln die Zeugen Jehovahs als Kriminelle, weil sie keine Bluttransfusionen zulassen. In all diesen Fällen hat unsere Universalität der Rechte Vorrang: Jeder muß sich nach den Modellen unserer Wissenschaft heilen lassen, weil das sein Menschenrecht ist - auch wenn er einer Addams-Familie angehört. Für uns müssen Ethik und Wissenschaft universal sein, das sind unsere; nur die Ästhetik darf besonders sein, die gehört den anderen.
Diese Anklage gegen die falsche Toleranz des euro-amerikanischen Universalismus kommt vor allem aus zwei scheinbar entgegengesetzten Bereichen: der postmodernen radikalen Linken und der kulturellen Neuen Rechten - diesen beiden Flügeln, die bislang dem anglo-amerikanischen Liberalismus und Rationalismus unterlagen. Beide berufen sich auf den Wert des Unterschieds gegenüber den universalen Rechten des SLT. Postkommunisten und Postfaschisten sind sich darin einig, den double bind des wissenschaftlichen un liberalen Universalismus in den Vordergrund zu rücken. Alles, was ich bisher gesagt habe, ist ein Echo ihrer Kritik. Obwohl ich beiden nicht ferner stehen könnte. Ich bekenne, daß ich mich in der ideologischen Geographie meiner Zeit heimatlos fühle; daheim bin ich weder im anglo-amerikanischen liberalen Denken noch im antiliberalen rechten Flügel oder den Vorstellungen der Linken. Vielleicht bin ich zur Heimatlosigkeit geboren.
Ich glaube nicht an eine Politik eines Anspruchs auf Differenz, weil Differenz keine Frage von Rechten ist: Sie ist ein verqueres Bedürfnis, vielleicht eine schiefe Notwendigkeit. Und ich empfinde kritisch gegenüber all jenen, die mit der Parteinahme – sei es für SLT oder die Differenz – glauben, sie könnten die tragische Spaltung unserer Tage überwinden. Diese Spaltung zwingt uns ständig dazu, uns selbst zu widersprechen: Unser Lobpreis der Differenz steht in Widerspruch zu unserem Universalismus individueller Rechte, und unserem ethischen Universalismus widerspricht ständig unsere Leugnung besonderer Sitten, die unsere Universalität ankratzen. Es gibt keine einzige politisch-kulturelle Formel, um diese Kluft zu überbrücken. Es kann nicht die Antwort sein, für eine nostalgische Kommunistische Partei oder Alain de Benoists Neue Rechte zu optieren; aber es ist auch keine Antwort, zu einem hagiographischen Philosophen am Hof des SLT zu werden, wie die höfischen Dichter, die davon lebten, das Lob ihres Herrschers zu singen. Und sicherlich läßt sich diese Spaltung auch nicht durch philosophische Argumente überwinden - ein besonders quälendes Drama der Menschheit zur Jahrhundertwende. Es ist ein Widerspruch, mit dem wir leben müssen; vielleicht müssen wir von Fall zu Fall opportunistische Kompromisse finden.
Radikale Intellektuelle von angesehenen amerikanischen und britischen Universitäten finden eine Lösung für diesen Widerspruch in Gebilden wie Cultural Studies. Sie glauben an die Quadratur des Kreises, wie es Foucault des öfteren versuchte: den Kampf um die Emanzipation all jener zu unterstützen, die "anders" sind, nicht im Namen universaler humanistischer Werte – auf der Grundlage der utilitaristischen Kriterien Benthams und Mills und der wissenschaftlichen Rationalität – ,sondern gegen diesen universalistischen Humanismus. Ein Paradoxon? Im Effekt hat sich der ganze Nebel postmoderner Kultur in ebendiesem Paradoxon eingerichtet: Man fördert einen universalen Kampf, um partikularistische Identitäten (sexuell, ethnisch, kulturell und ethisch) in Anspruch zu nehmen. Aber diejenigen, die nicht "anders" sind, wollen die Vielfalt nur auf der Grundlage der universalistischen Kriterien des Humanismus akzeptieren. Ich persönlich habe für diese Kultur der "verschiedenen Identitäten" nicht besonders viel übrig, denn auch sie versucht, den Widerspruch zu ignorieren, von dem sie lebt. Ein politischer Schnitzer Foucaults erscheint mir beispielhaft: seine Kampagne zugunsten der chomeinistischen Revolution von 1978-79, eine Revolution, die Homosexuelle und Postmodernisten wie Foucault selbst an die Wand gestellt hätte. Die ganze Bewegung der Kulturstudien, Frauenstudien, Schwulentheorie, Ethnischen Studien, Lesbenstudien etc. ignoriert den double bind, in dem sie blüht und der Schnitzer wie den Foucaults unvermeidlich macht.
Noam Chomsky, ein hervorragender Vertreter der Opposition gegen SLT, betrachtet die Vereinigten Staaten als "terroristische Supermacht". Aber was tun denn die Vereinigten Staaten - abgesehen davon, daß sie wie jedes andere Land ihre Interessen wahrnehmen – als zu versuchen, Ländern, die ihre Besonderheiten hochschätzen, die universalistischen Prinzipien aufzuzwingen, denen sich Chomsky doch selbst zugehörig fühlt? Glaubt Chomsky etwa nicht an Menschenrechte, wissenschaftlichen Rationalismus, Demokratie und allgemeines Wahlrecht? Das sind doch alles Dinge, an die zum Beispiel Saddam Hussein nicht glaubt, weshalb er von der "terroristischen Supermacht" bombardiert wird. Sozialismus gilt heutzutage als Fehlschlag, weil er zuviel Anteil an den universalistischen Prinzipien hat, die der "amerikanische Imperialismus" als Polizei beschützt. Nicht zufällig entschied sich Marx, in London zu leben, der damaligen Hauptstadt des Weltkapitalismus - heute, denke ich, würde er in New York leben, nicht in Havanna. Die sozialistische Variante ist inzwischen vom SLT aufgesaugt. Deshalb kommt die eigentliche Opposition gegen SLT heutzutage vor allem von unakzeptablen Varianten des Andersseins, die wir als "barbarisch" bezeichnen würden, wäre es politisch korrekt, dieses Wort zu verwenden; religiöse Fundamentalisten, totalitäre Führer, ethnische Säuberer, populistische Demagogen.
Die Feinde des SLT sollten sich damit zufriedengeben, daß wir keine besseren Alternativmodelle besitzen als die anglo-amerikanischen (so wie uns auch kein alternatives Modell zur vorherrschenden Techno-Wissenschaft zur Verfügung steht – schade um romantische Wissenschaftler wie Prigogin, Chaitin, Latour, Capra, Kauffman etc.). Bis vor wenigen Jahren besaßen die kontinentaleuropäischen Länder neben dem Kommunismus noch einige lokale Varianten, die sich von diesem Modell unterschieden. Bis vor kurzem hatte Italien ein Verhältniswahlrecht, das kleine Parteien – mit häufig recht interessanten Besonderheiten – überleben ließ. Italien hatte, was man heutzutage verächtlich assistenzialismo ("Fürsorgedenken") nennt, eine Art modernistische katholische Wohltätigkeit, die viele Menschen in Süditalien mit unproduktiven Arbeiten beschäftigte, einfach damit sie zu essen hatten. Heute drängt auch Italien zum Modell "Der Sieger kriegt alles" aus Großbritannien und den USA, als Heilmittel gegen die politische Instabilität des Landes. Es gibt in Italien einen Cartoon mit dem Text: "Italien ist wirklich ein besonderes Land! Ich wünschte, es wäre einfach normal." Auch wir Italiener sind es müde, besonders zu sein; wir verspüren ein großes Bedürfnis, normal zu werden – wir wollen amerikanisiert werden wie alle anderen auch.
In den achtziger und neunziger Jahren setzten die damals als asiatische Tigerstaaten bezeichneten Länder dem anglo-amerikanischen Modell ihre asiatischen Werte entgegen. Tatsächlich bestanden diese Werte in der Leugnung des politischen Pluralismus, in Pressezensur, in der Unterwerfung der Justiz unter die politische Macht – Dinge, die uns bis vor gar nicht langer Zeit recht europäisch vorkamen. Jahrzehntelang erschreckten Japans wirtschaftliche Triumphe Amerika, weil sie sich auf Werte gründeten, die dem amerikanischen way of life diametral entgegengesetzt waren – Japans Erfolge waren auf Konservatismus aufgebaut, auf Konformismus, industriellem Paternalismus, einer soliden Familie und Langsamkeit. Die neunziger Jahre brachten den Zusammenbruch des asiatischen Modells. In der Wirtschaft wie anderswo bleibt das anglo-amerikanische Modell das einzige, das sich plausibel verfechten läßt: Individualismus, Flexibilität, Mobilität, niedrige Steuern, kein Protektionismus. Italien hätte sich mit einem konservativen Modell im asiatischen Stil vielleicht wohler gefühlt, aber es muß sich einfach anpassen.
Selbst die verschiedenen Arten von Kommunismus und Faschismus präsentierten sich als Alternative zu SLT: Wer auf der Welt würde sie heute noch ernsthaft als Alternativen begreifen? Man kann eine "private" Sympathie für die letzten SLT-freien Zufluchtsorte hegen: Castro oder die afghanischen Talibans, die iranischen Ayatollahs oder Nordkoreas rote Monarchie, Gaddafi oder Milosevic. Aber wer von uns würde unter einem dieser Regimes leben wollen? Gibt es also keinerlei Alternative zur westlichen und insbesondere anglo-amerikanischen Ethik, Politik und Wissenschaft? Ist die Siegerkombination, die vor zwei oder drei Jahrhunderten von britischen Philosophen zusammengestellt wurde – Freihandel + wissenschaftlicher Rationalismus + allgemeines Wahlrecht – die einzige Formel, der die gesamte Menschheit folgen sollte? Das wäre so unumkehrbar wie die neolithische Revolution oder die Erfindung der Schrift. Die Macht, die das Schreiben verlieh, ließ die großen autokratischen und hierarchischen Imperien entstehen - vom ägyptischen bis zum russischen. Die technologische Revolution des 20.Jahrhunderts hat scheinbar jedermann eine Demokratie im anglo-amerikanischen Stil aufgezwungen, gegründet auf wissenschaftlichen Rationalismus und Freihandel. Poppers Religion beherrscht die Welt und besitzt ihre begüterten Apostel wie George Soros. Natürlich überleben auch heute noch Gesellschaften ohne Schrift. Wahrscheinlich gibt es bei uns allen mehr oder weniger große Nischen des Widerstands gegen SLT und den wissenschaftlichen Rationalismus, vielleicht noch einige Jahrhunderte lang: Formen des monotheistischen Fundamentalismus, den Populismus der Armen und Entrechteten, chauvinistischer Nationalismus und tropischer Kommunismus. Diese Nischen werden den Westen manchmal erschrecken, sie legen vielleicht Bomben oder starten klapprige Raketen, aber sie werden niemals große Bedeutung haben. Selbst Saddam Hussein zählt weniger als Monica Lewinsky. Die Geschichte wird von jenen Ländern gemacht werden, die sich auf die eine oder andere Weise den ethischen, politischen und wissenschaftlichen Modellen anpassen, die die Anglo-Amerikaner (vor allen anderen) geschaffen haben. Wahrscheinlich ist diese "Homologisierung" unumkehrbar. Dennoch sollte meine Aufgabe als Intellektueller lauten, eine Offenheit gegenüber dem anderen, noch so Unakzeptablen zu bewahren - die Uniformität in Grenzen zu halten.
Vor allem wir euro-kontinentalen Intellektuellen, die dem Monopol der anglo-amerikanischen Modelle mit einem Hauch Ironie zu widerstehen trachten, werden toleriert und manchmal gehätschelt wie Narren und Zwerge an den Höfen der Renaissance; wir verkörpern eine amüsante Differenz, eine harmlose Abweichung, vor deren Hintergrund die erhabene Schönheit und Normalität der herrschenden SLT erst so recht hervortreten kann. Chomsky, die amerikanischen Kommunitaristen oder die postmodernen Dekonstruktivisten erinnern mich unwiderstehlich an die Mißgeburten, die Velasquez im düsteren Glanz des Escorial malte.
Können wir rationale Argumente gegen diese wachsende kulturelle "Homologisierung" vorbringen? Bestimmt nicht. Auch die erbitterten Anwürfe der Kommunisten, Faschisten und Fundamentalisten sind mit Sicherheit nicht rational. Wir haben ein Bedürfnis, das zugleich ethisch und ästhetisch ist, soll heißen aus dem Bauch kommt: die Dimension der Möllichkeit zu retten. Wir wollen nicht, daß die Menschheit im Gänsemarsch einem einzigen vernünftigen Weg folgt. Es ist wichtig für uns "Romantiker", daß die Menschheit nach wie vor den Zugang zu Entscheidungen hat, auch wenn sie falsch sind. Wir wollen nicht in Poppers offene Gesellschaft eingeschlossen werden. Wenn alle an die gleichen Dinge glauben und auf die gleiche Weise handeln, dann wird sich die Menschheit dem Diktat der Notwendigkeit gebeugt haben. Die plausible Reaktion auf SLT lautet nicht, dem Rationalismus rationalere Alternativen entgegenzustellen, sondern mögliche Differenzen zu entdecken und zu fördern. Pluralität und Differenz sind auch eine metaphysische Herausforderung; sie belegen die Tatsache, daß es ein gewisses Maß an Freiheit im menschlichen Leben gibt, daß menschliche Wesen nicht bloß Produkt der Notwendigkeit sind. Aber warum dieses spasmodische Bedürfnis nach Differenzen und Möglichkeiten? Liegt es nur daran, daß Differenzen eine Voraussetzung des Fortschritts sind?
Natürlich hat der Triumph des Fortschritts auch die perverse Wirkung, daß er zwar Unterschiede einebnet und sie als Obskurantismus abtut, zugleich aber auch eine Zukunft ohne Fortschritt vorbereitet - denn der Fortschritt nährt sich, wie wir gesehen haben, von Unterschieden. Aber interessiert uns der Fortschritt überhaupt noch? Weil wir Computer erfunden haben, können wir nicht ohne sie leben, aber wir hätten gut ohne sie leben können. In ein paar Stunden bringt uns ein Flugzeug an jeden Ort des Globus, während Goethe Wochen brauchte, um nur nach Rom zu kommen - aber heutzutage müßten wir wahrscheinlich auf dem Mond landen, um eine so bewegende Andersartigkeit zu finden, wie sie Goethe in Italien begegnete.
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Hat der Fortschritt uns glücklicher gemacht? Das würden nur wenige behaupten. Die Schweden und die Schweizer sind wahrscheinlich die "glücklichsten" Völker der Welt: Sie besitzen mit die höchsten Pro-Kopf-Einkommen, sie hatten seit Jahrhunderten nichts mehr mit Kriegen oder blutigen Formen des Rassismus zu tun, sie genießen eine ungeheure politische Freiheit und ein hohes Ausbildungsniveau, sie sind nicht mit Slums oder Armut geschlagen. Aber nur sehr wenige Menschen werden die Schweden oder die Schweizer für besonders glückliche Individuen halten. Ihre Statistiken zu Depressionen, Geisteskrankheiten, Selbstmorden, Scheidungen und Drogenmißbrauch verweisen auf Länder, die von Experten für "Lebensqualität" gemeinhin als unglücklich eingestuft werden. Während so mancher, der einige Zeit inmitten von Hungersnöten und Aussatz in extrem armen Ländern lebte, uns versichern wird, daß diese Menschen oft glücklich sind. Sie lachen und genießen ihr Leben wie die Schweizer und die Schweden, und oft noch mehr. Die Achse des Fortschritts ist mit der Diagonale des Glücks nicht kommensurabel. Darin lag schließlich auch der Kern der antiken, zu schweigen von den östlichen Philosophien: Nicht durch die Lösung von Problemen erreicht man einen höheren Grad des Glücks. Glück besteht, wenn überhaupt, darin, Probleme für unwichtig zu halten, sich keine Sorgen über ihre Lösung zu machen. Deshalb brauchen wir den Fortschritt gar nicht wirklich ` eher lassen wir uns von seinem Reiz und seiner Macht betören. Der Fortschritt ist eine bittersüße Droge, von der wir nicht lassen können. Wir haben gemerkt, daß wissenschaftlicher Fortschritt leichter zu erlangen ist als Glück ` und aus Faulheit haben wir uns für den bequemeren Weg entschieden. Technischer und wissenschaftlicher Fortschritt tröstet uns darüber hinweg, daß wir das Glück nicht fanden. Aber wenn es nicht unsere Liebe zum Fortschritt ist, die uns den Hang zum Anderen nahebringt, was dann macht uns zu seinen Freunden? Macht uns vielleicht eine vielfarbige Welt glücklicher? Es wäre albern, das zu glauben. Wenn wir Differenzen einer "homologisierten" Welt vorziehen ` selbst wenn sie Tränen und Blut bedeuten `, dan deshalb, weil wir unseren unheilbar romantischen Traum nicht aufgeben können, anders zu sein, als wir sind. Ein neurotischer Frömmler wie Kierkegaard hat das zum Ausdruck gebracht: wichtig ist, das Gefühl für Möglichkeiten zu bewahren. Eine Welt, die sich mit dem Glück der Notwendigkeit abgefunden hat, könnte meine Welt nicht sein.
Wenn unser romantisches Bedürfnis nach Differenz nicht durch Imperative des Fortschritts oder des Glücks gerechtfertigt wird, liegt dann darin nicht ein gewisses Maß an Grausamkeit? Ist es nicht ein zynischer Wunsch, daß nicht alle Menschen in der langweiligen, aber bequemen anglo-amerikanischen Toleranz leben sollten? Eine Welt voller Differenzen ist eine Welt, in der Unterordnung, Schmerz, Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Ausgrenzung gedeihen können. Bedeutet die Parteinahme für die Differenzen, die häufig mit Risiko und Schmerz einhergehen, den tragischen Schmerz der Welt zu akzeptieren? Nietzsche glaubte das: Man muß das Tragische bejahen. Aber heute ` nach Hitler, Stalin und Pol Pot ` kann niemand mehr auf anständige Weise Nietzsche-Anhänger sein. Niemand kann heute noch Grausamkeit akzeptieren. Marinettis Futuristen-Hymne an den Krieg als "Hygiene der Menschheit" oder Che Guevaras schauerlicher Wunsch nach "zwei, drei... vielen Vietnam" läßt sich nicht mehr vertreten. In einer Welt, die von rationalistischem Liberalismus beherrscht wird, haben Intellektuelle das Privileg verloren, ausschließlich zu ihresgleichen zu sprechen: Sie müssen ihr Bedürfnis nach Tragik auch vor dem Steuerzahler verantworten. Aber wie kann man die tragische Dimension des Lebens und der Geschichte bewahren, während man gleichzeitig versucht, die Grausamkeit zu mindern, in einer Welt, die zweifellos immer noch (leider) voller Differenzen steckt? Radikal alternative Experimente zum anglo-amerikanischen Modell ` Formen des Kommunismus, des Faschismus, der Theokratie, des Fundamentalismus ` haben Grausamkeit hervorgebracht. Auch liberale Demokratien haben sich grausam gezeigt, in Dresden oder 1945 in Hiroshima, oder in Vietnam. Aber die anglo-amerikanische Grausamkeit fand ihre Rechtfertigung immer im Kampf gegen Totalitarismus. Immerhin haben liberale Demokratien niemals Krieg gegeneinander geführt, totalitäre Länder dagegen oft.
Ich bin den Russen, Chinesen, Albanern, Kubanern, Vietnamesen etc. sehr dankbar, weil sie – freiwillig oder nicht – die Meerschweinchen der Geschichte waren. Irgend jemand mußte das Experiment anstellen, damit die Menschheit den Beweis finden konnte, daß Sozialismus schlimmer ist als Kapitalismus. Vor dem Experiment hatten einige Ökonomen und Philosophen argumentiert, Sozialismus könne nicht funktionieren; aber auch die Argumente marxistischer Ökonomen und Philosophen wirkten überzeugend. Die Idee mußte auf dem Feld der realen Geschichte überprüft werden, damit man zu einem Ergebnis kommen konnte. Wie die Wissenschaft braucht auch die Geschichte Experimente – der Unterschied lautet lediglich, daß die der letzteren Haut und Blut von Millionen Menschen aufs Spiel setzen. Deshalb danken wir Westler dem Allmächtigen, daß uns das hehre Geschick erspart blieb, die Meerschweinchen der Geschichte abzugeben.
So gerät die humanitäre Identifikation mit den Leidenden in Widerspruch zu den sowohl romantischen wie darwinistischen Forderungen nach Differenz und Pluralismus. Wie es Gore Vidal einmal ausdrückte: "Damit einer gewinnen kann, muß ein anderer verlieren." Unter den vielen wissenschaftlichen Theorien, politischen Systemen oder religiösen Überzeugungen erweist sich eine wissenschaftliche Theorie, ein politisches System, eine religiöse Überzeugung als besonders lebensfähig – die anderen landen auf dem Müllhaufen der Geschichte. In vielen Fällen hat dies gescheitertes Leben zur Folge, die Hinopferung ganzer Generationen, sinnloses Martyrium, bittere Enttäuschung. Die historische Selektion ist wie die biologische erbarmungslos. Die schrecklichen Konflikte, die der Liberalismus siegreich durchschritt, stehen nicht im Einklang mit den liberalen Ideen von bürgerlichen Rechten und dem individuellen Streben nach Glück.
Gibt es also Hoffnung für die Differenz? Ich glaube schon: Differenz ist wie ein alter Maulwurf, der tief unter der Homologisierung gräbt, um plötzlich an der Oberfläche zu erscheinen. Einige wichtige alte Differenzen verschwinden, während andere neu auf den Plan treten, selbst wenn wir sie häufig gar nicht erkennen. Der Auftritt der Differenz erfolgt häufig still und quer – und er ist zu erkennen hinter der schmerzlichen Ironie, mit der wir uns der Homologisierung unterziehen. Selbst mein kleiner Beitrag, insofern er keine universalen Lösungen anbietet, sondern ironisch die Auflösung alter Differenzen anerkennt, ist Zeuge dieser endlosen Mühe.
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